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WIERLACHER Alois, BENDIX Regina (Hg.): Kulinaristik. Forschung - Lehre - Praxis. (Wissenschaftsforum Kulinaristik, Bd. 1). Lit Verlag, Berlin 2008.

KOLMER Lothar.   

Die mehr als 30 Aufsätze des vorliegenden Bandes lassen sich nicht im Einzelnen detailliert besprechen; das sprengt den möglichen Rahmen. In seiner Einleitung stellt Alois Wierlacher die Kulinaristik als „Vision und Programm" vor, wobei ihm besonders der interdisziplinäre „Brückenschlag" wichtig ist. - Roland Posner und Nicole M. Wilk untersuchen die „Kulinaristik als Kultursemiotik", welche die Rolle des Essens im Aufbau einer Kultur beschreibt und erklärt. Verschiedene Beispiele veranschaulichen, welche Zeichen, Zeichensorten und Zeichenprozesse in Bezug auf Essen und Trinken existieren. - Eva Barlösius handelt über „Weibliches und Männliches rund ums Essen", betont, dessen Welt sei „stets eine kulturell gedeutete und sozial strukturierte". Als „weiblich/fein" klassifizierten Lebensmitteln stehen als „männlich/grob" klassifizierte gegenüber. - Regina Bendix, „Kulinaristik und Gastlichkeit aus der Sicht der Kulturanthropologie", schreibt über „Präsentation des Selbst im Alltag", über damit verbundene Rollenspiele, vor allem in der Gastronomie, wobei die notwendige „Performanzleistung" hohe emotionale Kosten erfordere. Irmela Hijiya-Kirschnereit, „Kulinaristik als Erforschung und Lehre kultureller Identitäten und Alteritäten", legt dar, wie sich im japanischen Küchendiskurs Aspekte der nationalen Selbstbehauptung erkennen lassen, wie sich Kulturen wandeln, auflösen, auf die Globalisierung reagieren. Gerade dadurch werden „Tradition" und „Kultur" zur „nostalgischen Beschwörung" eines einigenden „Erbes" hervorgeholt. So kann es zu einem „neuen Nationalismus" kommen, der sich des Essens bedient. - Bernhard Tschofen, „Kulinaristik und Regionalkultur", behandelt die Aufwertung des Ethischen und des Regionalen als Begleitumstände der Globalisierung. Dabei wird die Konstruktion von „Identität via Erzählungen" in den Mittelpunkt gestellt. Dieser Aufsatz ist von enormer Bedeutung für die Analyse von „Region und regionaler Küche", da er sich kritisch mit der Konstruktion und der Praxis dieser Denkfiguren auseinandersetzt. - Alois Wierlacher kommentiert die „kulinarische Sprache", weist darauf hin, dass es an der Zeit sei, bessere Konzepte mit angemessenen Wörtern in den Diskurs einzuführen. - Ines Heindl, „Kulinaristik und Allgemeinbildung", wirft die Frage auf, wie der Mensch in reichen Ländern lernt, aus der Nahrungsvielfalt auszuwählen. Die bisherigen Strategien der Aufklärung, Information und Beratung müssten als gescheitert angesehen werden. Der alltägliche Lebensstil der Menschen bliebe in der Praxis unreflektiert. Eine höhere Ernährungskompetenz und eine neue Esskultur tut Deutschland not. Vor allem die Ausbildungssysteme sind in dieser Hinsicht zum Handeln aufgerufen. - Harald Lemke, „Gastrosophie und philosophische Aspekte der Kulinaristik", verweist auf die Ernährung als „ein kulturell konstruiertes Geschehen", in dem sich das menschliche Sein konstituiere. Mündigkeit, kreatives Selbstkochen hätten für eine Gesellschaft konstitutive Bedeutung. -Alois Wierlacher, „Oralität und Kulturalität von Geschmack und Genuss", resümiert die Literatur zum Thema, betont, Geschmack zu haben, hieße über die sinnliche Kompetenz des Kostens als Prüfen verfügen zu können, um selbstkritisch zum Schmecken zu kommen. Verbunden sei damit eine Grundkompetenz hinsichtlich der Nahrungsmittel und der Speisen. Ziel müsste es sein, eine tragfähig Genuss-Theorie zu erarbeiten. - Wolfgang-Otto Bauer, „Das Besteck und die Vielfalt der Kulturen", gibt einen Abriss über die Benutzung von Gabel und Messer, der Material- und Designgeschichte. - Hans-Ulrich Grimm, „Kulinaristik als Nahrungskritik", fordert eine neue kulinarische Kritik, die über die geschmäcklerischen Ausstellungen in den kulinarischen Spalten der Medien hinausgeht. Nahrungskritik würde zur Kritik der kulinarischen Vernunft. Frank Tiedig, „Le gout est en bataille!: Kulinaristik als kulturpolitische und kulturwissenschaftliche Besinnung auf das kulturelle Speisen-Erbe", spricht über regionale Produkte, deren Bearbeitung und Authentizität. Ein Fragenkatalog am Ende ruft zur kritischen Analyse der vor allem im Marketing verwendeten Begriffe auf. In weiteren Abhandlungen beschäftigen sich Guido Fuchs mit „Essen und Religion" sowie Angelos Chaniotis mit „Götterspeise" in Vorstellungen der Antike.

Trude Ehlert, „Kochbücher von Gastronomen und Köchen als Indikatoren kultureller Entwicklungen", analysiert Kochbücher von namhaften Gastronomen und Köchen, stellt als Muster heraus: „das vernachlässigte Gute". Es folgen weitere Beiträge: zum „Kulturthema Essen im Hörfunk", über das Essen und die Kulinaristik bei Günther Grass, bei Dietrich Grusche, sowie zur „Filmischen Darstellung des Essens". Auf die Gastronomie gehen ein: Hans-Stefan Steinheuer, „Über die Berufslage des Gastronomen", die Auswirkungen der Fernsehköche und potentielle Neuansätze; Wolfgang Fuchs untersucht „Gastronomie aus der Sicht der Betriebswirtschaftslehre", Tilmann Allert das „Dienen in der Gastronomie". Der Artikel erhält besondere Brisanz, da Deutschland nach allgemeiner Anschauung hinsichtlich des Services und der Einstellung zu den Dienstleistungen im Vergleich am schlechtesten dasteht. Alois Wierlacher hebt Koch und Köchin als Kulturstifter heraus.

Der erste Band der Reihe Wissenschaftsforum Kulinaristik macht deutlich, wie Interdisziplinarität zu wesentlichen Erkenntnissen und Lösungswegen führen kann. Er erweist die Weite wie Breite des Themenfeldes, zeigt Ansätze wie Defizite und leistet einen wesentlichen Beitrag zum Fortschritt der Kulinaristik.

 

WIERLACHER Alois, BENDIX Regina (Hg.): Kulinaristik. Forschung - Lehre - Praxis.