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POLLMER Udo, FOCK Andrea, NIEHAUS Monika u. MUTH Jutta: Wer hat das Rind zur Sau gemacht? Wie Lebensmittelskandale erfunden und benutzt werden. Rowohlt, Reinbek 2012

Katharina ZEPPEZAUER-WACHAUER.   

Udo Pollmer, 58, deutscher Lebensmittelchemiker und bekannter Autor zahlreicher provokanter Bücher zur Ernährung, hat mit seinem neuen Buch mit dem reißerischen Titel erneut zugeschlagen - mit tatkräftiger Unterstützung seiner Mitautorinnen Andrea Fock, Monika Niehaus und Jutta Muth.

Vorneweg kann festgestellt werden, dass auch dieses Buch sich nahtlos in die lesenswerte Pollmer-Reihe einfügt, wenn die Leserinnen und Leser auch eine gesunde Menge an Reflexionsfähigkeit und Hausverstand mitbringen müssen. Sensibelchen, die ohnehin seit EHEC keine Gurken, seit der Vogelgrippe keine Hendlhaxerl und seit Acrylamid-vulgo-Pommesgift keine Chips mehr essen, sollten allerdings gut überlegen, ob sie das Buch wirklich zur Hand nehmen wollen. Denn: Beruhigt wird man nicht, im Gegenteil, in Wahrheit ist alles noch viel schlimmer. Viele Lebensmittelskandale werden künstlich geschaffen und hochgeputscht; gleichzeitig erfährt der aufmerksame Leser, dass „Pommesgift" nicht nur in Pommes und Chips, sondern auch in Knäckebrot und Oliven steckt.

Pollmer, Fock, Niehaus und Muth rollen gewissenhaft die so genannten „Skandale" der letzten Jahre in Form einer kleinen Zeitreise wieder auf. Nicht nur Rinderwahnsinn, Vogelgrippe und Schweinepest; auch Skandale um Gammelfleisch und Dioxin-Eier werden wieder ins Gedächtnis gerufen. Besonders aussagekräftig ist sicher auch, wie schnell derartige Pandemien (die Schweinegrippe durch H1N1 wurde tatsächlich als πανδημία - eine die gesamte Menschheit bedrohende Seuche - ausgerufen!) wieder ins mediale Abseits geraten.

Ein eindrucksvolles Beispiel für unnötige Panikmache ist die mittlerweile schon über 10 Jahre alte Acrylamid-Misere. Erinnern Sie sich noch? Plötzlich warnten Zeitungen und Fernsehen vor dem bedrohlichen „Krebsgift"; über deutsche TV-Sender kamen auch wir Österreicher in den Geschmack des griffigen Slogans „Vergolden statt Verkohlen". Das böse Acrylamid entstehe beim Erhitzen (insbesondere beim Backen, Rösten, Braten) stärkehaltiger Lebensmittel, so die Erkenntnis schwedischer Lebensmittelexperten im April 2002. Warum ausgerechnet so vehement auf die Freedom Fries, pardon, Pommes Frittes, losgegangen wurde, lässt sich heute nicht mehr nachverfolgen, doch mit einem hat Pollmer sicher Recht: Es war Wasser auf die Mühlen jener, die immer schon wussten, dass Pommes einfach nicht gut für uns sein können.

Nach den Pommes und den Chips traf es Rösti, Braterdäpfel, bald auch Frühstückscerealien, Schokolade, Toastbrot, und rechtzeitig zur Weihnachtszeit Vanillekipferl und Lebkuchen. Es fand eine regelrechte Hexenjagd statt, die monatelang andauerte. Empfohlen wurden von FAZ, Focus, Spiegel und ORF plötzlich irrsinnige Zubereitungsarten (generell runter mit der Hitze, Bräunung von Brotkrusten etc. vermeiden, Großgebäck statt kleinen Brötchen essen, beim Braten statt hitzeresistentem Öl auch Margarine verwenden - Anm.: Bitte nicht nachmachen!). Und dann? Außer Spesen (und dem Verzehr von Margarine voller Transfettsäuren) nichts gewesen. Pollmer & Co. decken auf: Grundsätzlich seien In-vitro-Tests ohnehin äußerst ungenau; Tierversuche (insbesondere bei Nahrungstests hinsichtlich ihrer Kanzerogenität) aber nicht viel besser. Die Crux an der Sache ist: Selbst bei Nagern konnten Empfindlichkeitsunterschiede bis zu einem Faktor 107 (!) festgestellt werden. Während also die Labormaus vom „Pommesgift" Krebs bekommt, kann es durchaus sein, dass sich der Hamster im Nebenkäfig ins Pfötchen lacht und sich einen dicken Bauch anfrisst. Eine Art reagiert bis zu zehn Millionen Mal empfindlicher als andere Arten!

Und was heißt das nun für uns Menschen? Acrylamid ist dem menschlichen Körper ziemlich egal, so Pollmer (zumindest was jene Dosen betrifft, die sich in Pommes und Toast finden). Bereits im Jänner 2003 kam es zur ersten (wieder schwedischen) Studie. Verblüffendes Ergebnis: Probanden, die ein Leben lang acrylamidreiches Essen zu sich genommen hatten, erkrankten seltener an Darmkrebs (und auf andere Krebsarten hatte das „Krebsgift" keine Auswirkungen). Es folgten Studien um Studien; Jahr für Jahr wurden ähnliche Ergebnisse geliefert: Acrylamid in Spekulatius-Dosis mache dem menschlichen Körper nichts aus, weil praktisch keine Umwandlung in Glycidamid stattfinde (also jenen Stoff, der nun wirklich zu Krebs bei diversen Nagern führte). Die Erklärung ist schlicht, doch manchmal sehen wir den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht: Unser Stoffwechsel musste sich im Laufe von hunderttausenden von Jahren an die Methoden des Röstens und Bratens anpassen, während Mäuse und Ratten bei ihrer Rohkost geblieben sind: „lassen Sie sich nicht die Freude an wohlschmeckenden, traditionellen Gerichten nehmen. Solange diese in bewährter Weise hergestellt sind, sind sie auch für die allermeisten Menschen unseres Kulturkreises sicher. <...> Wir sind an menschliche Nahrung angepasst und nicht an das Futter von Labornagern." (S. 25)

Noch zahlreiche andere Beispiele ließen sich für das Pollmersche Pamphlet bringen, so etwa die Tatsache, dass die Vogelgrippe angeblich von Zugvögeln nach Europa gebracht wurde (die im Winter von Asien nach Europa geflogen sein müssten). Doch es sei an dieser Stelle nicht zu viel vorweg genommen - selber lesen, selber bewerten, selber denken; das sind die Schlagwörter, die einem Pollmer-Leser zunächst in den Sinn kommen müssen, um die empfohlenen Ratschläge sinnig umsetzen zu können.

Ein altbekannter Bocksfuß haftet dem Buch „Wer hat das Rind zur Sau gemacht?" jedoch an: Pollmer scheint sich gerne in der Rolle des Revoluzzers zu sehen. Viele Passagen wirken unnötig reißerisch, und weil auch gerade der Ton die Musik macht, kann es passieren, dass wertvolle Inhalte ungenügend transportiert werden. Etwa das Kapitel gegen „Bio" beinhaltet zahlreiche wichtige Informationen für Konsumentinnen und Konsumenten. Eine generelle und grundsätzliche Verdammung der naturnahen Lebensmittelerzeugung, Großteils mit flapsigen Hetzreden gewürzt, vermag jedoch beim Einen oder Anderen geistige Mauern aufzubauen, die nur schwer einzureißen sein werden. Etwas mehr Fingerspitzengefühl hätte dem Buch sicher nicht geschadet, auch wenn der Holzhammer freilich eine größere PR-Wirkung hat als die gereichte Hand.

RezLebensmittelskand (57k)

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POLLMER Udo, et al.: Wer hat das Rind zur Sau gemacht? Wie Lebensmittelskandale erfunden und benutzt werden. Rowohlt, Reinbek 2012