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MÜLLER Klaus E.: Kleine Geschichte des Essens und Trinkens. Vom offenen Feuer zur Haute Cuisine. Beck´sche Reihe, München 2009

HUBER Bernhard.   

Von der Ethnologie zur Geschichte des Essens
Von der Feuerstelle bis zur Haute Cuisine. Dabei ist der Blick nicht allein auf die Nahrung im engeren Sinne - was gesammelt, gejagt, angebaut wurde -, gerichtet, vielmehr wird die Bedeutung des der Natur Abgerungenen für die menschliche Alltagsbewältigung dargestellt. Von der Zubereitung zur Speise lässt sich ein kulturspezifischer Prozess nachvollziehen, der gerade im anschließenden Mahl - ob als Gemeinschafts- oder Sakralhandlung - manifeste Gestalt erringt. Es ist dies als kommunikativer Akt aufzufassen, der weit über die primitive Aufnahme von verzehrgerechter Materie hinaus seine Bedeutung entfaltet. Gemeinsames Essen gibt die Möglichkeit einer Dechiffrierung kultureller Identitäten, die sich durch die jeweilig adaptierte Qualität und Form der einzunehmenden Objekte wie auch die eine Essgemeinschaft konstituierenden kommunikativen Akte präsentiert. Anhand der Einstandserzählung aus Anadyrsk kann Müller gleich zu Beginn deutlich machen, worauf sich eine Geschichte der Ernährung bezieht: Auf die Bedeutungsrelevanz kulturtopisch nivellierter Momente, die in ihrer Hinordnung auf das Mahl formative Strukturen erhalten, doch erst ausgehend von den dabei gesetzten Zeichen interpretiert werden können.
Eine ethnologisch breit gestreute Vogelschau gewährt Einblicke in die Praktiken historischer Kulturformen des Nahrungserwerbes - von Jäger- und Sammlerkulturen bis zu den sesshaften Bauern der Völkerschaften Afrikas, Asiens und Ozeaniens. Zur Sprache kommt das oftmals filigrane Ausgleichsverhältnis von Mensch und Natur, wo Änderungen in Vegetation und Umwelt sich verheerend auf das Nahrungsangebot und damit auf die Überlebensmöglichkeit auswirken können.

Der Bodenbau, die Haustierhaltung und die Vorratswirtschaft kristallisierten sich als organisatorische Grundelemente der Ernährungsplanung in Gebieten mit sesshafter Bevölkerung heraus, womit nun erstmals der geografische Schwenk nach Europa gelingt. Die Getreidebaubasis tritt auch hier wie in archaischen Hochkulturen dominant hervor und zeigt in der Gestalt des Brotes, Fladens etc. allerorts seine eminente Bedeutung in der Konstellation des Nahrungsangebotes. Lediglich gestreift wird der schichtspezifische Aspekt von Nahrung, der nicht nur für das europäische Mittelalter gesellschaftliche Ausprägung erhielt.
Mit der Entwicklung feuerfester Gefäße wurde nun die Entfaltung einer Kochkunst möglich, die sich als komplexer Wissens- und Fertigkeitsberiech entwickelte und daher nur „Eingeweihten" den Umgang erlaubte. Davon gibt selbstredend die bei den Cherokee herrschende Synonymität von „Frau" und „eine die kocht" Zeugnis. Mit der Möglichkeit des Kochens ergab sich nun im Bereich des Mahles eine Differenzierungsmöglichkeit, sowohl was die Tageszeit als auch was den Anlass betraf. Den symbolischen Wert lässt Müller anhand der Vorstellung von Süßem - von Milch und Honig zuvorderst - zur Sprache kommen, das aufgrund der Seltenheit des Rohrzuckers bis in das 18. Jahrhundert mit erdenklich positiven Attributen ausgestattet war, damit auch in die Sakralität enthoben wurde, als besondere Kost an Festtagen. Diese Ebene der Speisen zeigt sich ferner in den religiösen Opferpraxen und Ewigkeitserfahrungen, wobei hier fließend zwischen Bibel und polytheistischen Vorstellungen diverser Kulturen der Geschichte gewechselt wird, was ein diffuses Bild von Transzendenzbewältigungen erzeugt. Kräftig wird im Legendenschatz mancher Völker gerührt, in profaner Gestalt zeigen sich die „Gastro-Utopien" von Schlaraffia, die es etwa Brueghel d. Ä. aussagekräftig auf Holz zu bannen gelang. Zumindest träumen darf man vom Essen, wie dies Foucault in Subversion des Wissens eingesteht.

Doch Nahrung will erworben sein; der Tod zeigt sich als unabdingbarer Begleiter des Lebensunterhaltenden. Die Gemeinschaft von Mensch, Tier und Natur ist durch dieses eherne Gesetz auf ewig durchbrochen - in Mythen und Riten der Völker begründet sich der Umgang mit dem Unausweichlichen. Dagegen sind heutige Jagden nach unserem Verständnis ein müder Abglanz der reichen spiritistischen, transzendenzbezogenen Aufladungen früherer Zeiten, gerade auch außerhalb Europas.
Die sich entwickelnde Förmlichkeit und Zivilisierung des Essgehabens ab dem 16. Jahrhundert vollzieht sich materiell in den Gestalten von Teller, Serviette, Besteck, Trinkbecher, etc. In der Form des gemeinsamen Essens zeigt sich das Gesetz des notwendigen menschlichen Zusammenhaltes. Zu teilen bedeutet Gemeinschaft, bedeutet „Familie" im weiteren Sinne, die in die ritualisierte Form der Gastetikette gekleidet ist. Einige der von Müller vorgebrachte „Einkehrmythen" geben Einblick in die unterschiedlichen Umgangsformen der Gastlichkeit. Ein weiterer Aspekt des gemeinsamen Speisens ist der friedenstiftende, denn erst dadurch finden sich Bekundungen realiter manifest gemacht. Gastlichkeit zeigt sich auch im gewählten Ort; von den Privaträumen des Symposiarchen über die zwielichtigen Reiseherbergen bis zu den Gaststätten heutigen Maßstabes.

Der Umstand, mit wem man an einem Tisch sitzt und welche Speisen zu sich genommen werden, zeigt folglich die gastrosophische Identität des Einzelnen. Die Regeln, nach denen die Mahlgemeinschaft abläuft und wie sie jeweilig materiell ausgestattet ist, zeigt Müller in ethnologisch breit angelegter Diversität. Ob nun jeder über eigenes Geschirr zur Benutzung verfügt oder sich vielmehr alle alles teilen, welchen Stellenwert fremde Speisen und Ingredienzien haben, mit welcher Symbolhaftigkeit diese aufgeladen sind, benennen Fragen, die auf den Konstitutionsprozess jener Identität referenzieren. Tischgemeinschaft ist wesentlich auch Gesinnungsgemeinschaft; wer die normierte Ebene der kulinarischen Usancen nicht teilt, wird ausgeschlossen.

Vom offenen Feuer zur Haute Cuisine gestaltet Müller als ständiges Wechselspiel zwischen Zeiten und Kulturen. Es gelingt ihm dabei, die jeweilige Rezeption des Kulinarischen mit seinen verschiedenen Funktionen und Effekten für Gesellschaft und Individuum sensibilisierend darzulegen. Eine Akkumulierung an Mythen und kulinarischen Eingeborenennarrativen findet sich, die repetitiv um Themenkreise wie Wesen und Funktion der Mahlgemeinschaft, Symbolik und Sakralität von Speisen, Nahrungs- und Verhaltenstabus, Standes und Wertvorstellungen im Kontext der Ernährung und des Essens kreisen. Küche und Kochkunst zwischen Ost und West.

Mitunter erscheint die starke Mischung von diesen Themenbereichen störend. Zwar wird versucht, durch die Kapiteleinteilung den Themenschwerpunkten Gestalt zu verleihen, doch kommt es anhaltend zu einer Vermengung derselben. Auch die kulturellen, regionalen und auch zeitlichen Varietäten von Mahl, Essen und Nahrungsmittelkonnotationen treten stark durchwachsen auf, was an sich einer komparativen Perspektive durchaus zuträglich wäre. Vielmehr taucht die Frage nach den Kriterien der Aneinanderreihung von Mythen und Verhaltensweisen sowie deren Deutungen auf. Es entsteht durchwegs ein lesbares und mancherorts anregendes Bild, das versucht, aus einer reichen Basis an gastrosophischen Narrativen ethnologisch einordnende und soziologisch erklärende Muster herauszuarbeiten. Dennoch kann man sich mitunter eines Eindruckes von thematischer Zerrissenheit nicht erwehren, etwa wenn von dem Korrelat zwischen gesellschaftlichem Stand und quantitativ aufgenommener Nahrung im nordeuropäischen Frühmittelalter die Rede ist: Der Themenbereich zeigt sich an mehreren Stellen (S.29, 95, 133), angereichert durch unterschiedliche Belege aus volkstümlichen Sagen oder Tacitus´ Annalen.

Geschichtswissenschaftlich mutet Müllers Arbeit wenig an. Davon zeugen etwa die zeitlich beliebigen Vergleiche. Davon abgesehen, dass ein „bäuerlicher" Haushalt des 16. Jh. eben nur „bäuerlich" bleibt, geht es nicht an, hierbei Qualitätsunterschiede in der Ernährung feststellen zu wollen, wenn ein „bürgerlicher" Haushalt des 19. Jh. als Pendant ins Treffen geführt wird. Ist es einsichtig, dass keine ausführlichen Definitionen gegeben werden können, so schiene es zumindest angeraten, genauer darzulegen, wovon die Rede ist. Nicht nur schicht-, ebenso regional- und zeitspezifische Aspekte müssten stärker differenziert werden, wenn eine Geschichte des Essens und Trinkens versucht wird. Allerdings schiene der Titel der ursprünglichen Ausgabe von 2003 passender: „Kleine Ethnologie des Essens und Trinkens." Die „Kleine Geschichte" scheint meines Erachtens nicht dem Inhalt gerecht zu werden, doch mag dies auch ein „Kloß der Erkenntnis" sein.

Link zum Verlag:

MÜLLER Klaus E.: Kleine Geschichte des Essens und Trinkens. Vom offenen Feuer zur Haute Cuisine. Beck´sche Reihe, München 2009