Logo Epikur - Journal für Gastrosophie
Zentrum für Gastrosophie Impressum
Startseite > Archiv > Epikur Journal 01/2009 > Ethische Implikationen

Gastrosophie - Ethische Implikationen

Franz-Theo Gottwald (Schweisfurth-Stiftung München).   

Essen ist keine Privatsache

Schon Sokrates sprach von der philosophischen Tugend „ethischer Ökonomie und mündigen Konsums". Dabei geht es ihm weniger um Verzicht und Selbstbeschränkung als vielmehr um das richtige Maß, die Kunst der Selbstgenügsamkeit, um „im Wohlstand zu leben und ein Wohlleben praktizieren zu können" (vgl. Lemke, Harald: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie). Auch Friedrich Nietzsche (1844-1900) beschäftigte sich eingehend mit gastrosophischen Themen. Nietzsche spricht davon, dass man nicht nur isst, um zu leben - die ethischen Bedürfnisse müssen einem vielmehr „auf den Leib passen".

Und in der Tat: Essen ist keine Privatsache. Das gilt heute mehr denn je. In unserer industrialisierten, globalisierten Lebens- und Ernährungswelt ist Essen zu einem moralisch aufgeladenen Gut geworden. Essen beinhaltet ganz konkrete positive und negative Folgen - nicht nur für den eigenen Körper, sondern auch für die Umwelt, nachfolgende Generationen und andere Menschen. Ethische und moralische Überlegungen in Bezug auf die eigene Ernährung betreffen zum Beispiel Generationengerechtigkeit, Welthunger und Verteilungsproblematik, fairen Handel und akzeptable Herstellungsbedingungen, Verantwortung gegenüber sich selbst und der Gesellschaft (Stichwort Gesundheit und Übergewicht), Verantwortung gegenüber den Kindern (beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten, Erlernen von Grundkenntnissen, Vermittlung einer Kultur des Essens, gesunde Ernährung, Übergewicht), und auch Verantwortung gegenüber dem Mitgeschöpf Tier.

Ökologische Auswirkungen des eigenen Ernährungsstils betreffen den Ressourcenverbrauch, das Klima - wie die Klimabilanz von Lebensmitteln zeigt - und konkrete Umweltbelastungen wie beispielsweise Müllproduktion bzw. -vermeidung oder Brandrodung für Viehweiden. Ökologische und ethische Aspekte überschneiden sich dabei. So sind zum Beispiel ökologische Auswirkungen häufig an Überlegungen zur Generationengerechtigkeit gekoppelt, wie etwa beim Ressourcenverbrauch. Damit ist Essen keine Privatsache mehr, sondern zwingt den Einzelnen zu verantwortungsbewusstem Handeln.

Die Grundprinzipien ethischer Lebensführung: Verantwortung, Vorsorge, Gerechtigkeit

Ethisch verantwortungsbewusstes Handeln kann durch drei Grundprinzipien charakterisiert werden, die auch im Bereich persönlicher Lebensführung Anwendung finden. Ein ethisch angemessenes Ernährungsverhalten orientiert sich demnach an den Prinzipien der Verantwortung, der Vorsorge und der Gerechtigkeit.

Das Verantwortungsprinzip zielt auf die Verantwortbarkeit der Folgen und Ergebnisse des Handelns ab. Dies bezieht sich sowohl auf die eigene Person und das unmittelbare Umfeld, als auch auf die Mitwelt. Die Mitweltverantwortung schließt andere Menschen, Tiere und die Umwelt ein. Nicht zuletzt deshalb ist das Verantwortungsprinzip eng mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit verknüpft.

In der Praxis ist das Verantwortungsprinzip teils schwer umzusetzen, da Handlungen dem Einzelnen nicht zugeordnet werden können oder ein tatsächliches Verantworten im Sinne des „Dafür-Geradestehens" nicht möglich ist.

Es geht daher insbesondere im Bereich der persönlichen Lebensgestaltung darum, sich der Verantwortung für sich und andere bewusst zu sein und diese als Handlungsmaxime für einen ethischen Lebensstil anzuerkennen.

Das Vorsorgeprinzip ist ein wesentlicher Grundsatz, der auch in der Umwelt- und Gesundheitspolitik verankert ist. Gemäß dem Vorsorgeprinzip sollen Schäden und Belastungen im Vorhinein vermieden werden. Handlungen, die geeignet sind, Schäden, beispielsweise Umweltverschmutzungen, herbeizuführen, sind nach dem Vorsorgeprinzip nicht gestattet. Das Prinzip soll auf Basis fundierter wissenschaftlicher Bewertung angewendet werden. Dabei wird auch der Unsicherheit der wissenschaftlichen Bewertungen selbst Rechnung getragen. Neben den Risiken der betreffenden Handlung werden auch die möglichen Risiken einer Untätigkeit bewertet.

Im Bereich der Ernährung findet das Vorsorgeprinzip beispielsweise Anwendung in Fragen der grünen Gentechnik (hier leider völlig unzureichend), der Nanotechnologie und anderen Novel-Food-Technologien.

Gerechtigkeit ist eine Ursehnsucht des Menschen. Sie ist unteilbar und artübergreifend. In ihr spiegeln sich auch Konzepte wie die Generationengerechtigkeit und die Ernährungsgerechtigkeit wider. Die nachfolgenden Generationen sollen in Zukunft nicht schlechtere Bedingungen vorfinden als wir. Dies ist insbesondere im Hinblick auf natürliche Ressourcen bedeutsam. Auch die globale Ungerechtigkeit des Welthungers beschäftigt die Philosophie des Essens: nicht zuletzt der deutsche Sozialphilosoph Max Horkheimer (1895-1973) konkretisiert eine kritische Theorie des Essens durch das gastrosophische Gerechtigkeitsgebot einer Abschaffung des Hungers in der sogenannten Dritten Welt. Horkheimer sieht eine zukunftsfähige, gerechte Ernährungsweise als an den Menschen gerichtete Aufgabe, so zu essen, dass alle Menschen gleichermaßen gut essen können. In seinem Ausdruck einer gastrosophischen Ethik überlagert sich das Gerechtigkeitsprinzip mit dem Gleichheitsprinzip. Heute sind eher Fragen der Verteilungs- oder Zugangsgerechtigkeit verstärkt ein Thema, wie etwa der Zugang zu den weltweiten Süßwasservorräten.

Case Study: Fleischkonsum

Der deutsche Durchschnittsbürger verzehrt in etwa 60 kg Fleisch pro Jahr. Dieser hohe Fleischkonsum sorgt für eine Fülle von sozialen und ökologischen Problemen. Diese betreffen nicht nur den Menschen, sondern auch die Umwelt und, im Sinne einer pathozentrischen Ethik, das Wohl der Tiere. Die Faktoren sind untereinander vernetzt, bedingen sich teils gegenseitig und können Auswirkungen auf jeweils andere Faktoren haben.

Ein Beispiel: Das Tierwohl kann nicht nur über die Fleischqualität Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben, sondern auch über die Haltungsform (z. B. gehäuftes Auftreten von Atemwegserkrankungen in der Umgebung von Massenanlagen). Diese nicht-tiergerechten Anlagen beeinträchtigen auch das ökologische Wohl (Grundwasserverunreinigung, Überdüngung, etc.). Das ökologische Wohl hat wiederum Einfluss auf die menschliche Gesundheit und das soziale Wohl (Arbeitsplätze, Zukunftssicherung, Ressourcen). Der westliche Fleischkonsum hat außerdem Auswirkungen auf die Menschen in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Indem wertvolles Getreide in Entwicklungsländern angebaut und als Viehfutter nach Europa exportiert wird, ist unser täglicher Konsum tierischer Lebensmittel im Hinblick auf die Ernährungsgerechtigkeit mehr als bedenklich.

Ohne Frage trägt ein Fleischkonsument Verantwortung für den eigenen Konsum, mehr als in jeder anderen Ernährungsfrage. Zum einen, weil mit der eigenen Bedürfnisbefriedigung der Tod eines anderen Lebewesens verbunden ist, das ausschließlich für diesen Zweck geboren, gezüchtet und gemästet wurde. Zum anderen ist er für die Lebensbedingungen dieses Lebewesens verantwortlich. Zwar nicht direkt, wie der Tierhalter, aber indirekt über seine Kaufentscheidung. Denn über den Preis bestimmt sich nicht nur die Qualität der Ware, sondern auch die Lebensqualität der Tiere. Es gibt sehr wohl einen erkennbaren Unterschied zwischen einer industrialisierten Agrarwirtschaft, die das Tier lediglich als Produktionsfaktor ansieht, und einer verantwortungsbewussten Tierhaltung, die die Würde und den Eigenwert der Tiere respektiert und dementsprechend ausgestaltet ist. Auch hier spielt die Informiertheit der Verbraucher eine große Rolle, aber auch der Wille, sich entsprechend zu informieren und nach diesem Wissen zu handeln.

Im Hinblick auf eine angemessene, ethisch vertretbare Beachtung des Tierwohls können jedoch auch die beiden anderen Grundprinzipien, Vorsorge und Gerechtigkeit, angewendet werden.

Zunächst einmal hat der Mensch eine Fürsorgepflicht gegenüber den ihm anvertrauten Tieren. Das Vorsorgeprinzip kann hier als ein „Fürsorgeprinzip" verstanden werden. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist: darf der Mensch überhaupt Fleisch essen, Tiere töten? Die Vegetarismusdebatte ist nicht erst seit Nietzsche in der Gastrosophie Thema. Denn die moderne Tierschutzidee beruht nicht nur auf Mitleid, Gerechtigkeit und Dankbarkeit, sondern auch auf der Erwägung, dass durch eine humane Behandlung der Tiere die Menschen ethisch gebildet werden.

Wer sich zum Fleischgenuss entscheidet, für den gilt das Fürsorgeprinzip umso mehr.

Es ist Pflicht des „ethischen Konsumenten", sich über die Haltungsbedingungen der Tiere zu informieren und seine Kaufentscheidung davon abhängig zu machen, ob dem Tier entsprechende Fürsorge zuteil wurde.

Die Gerechtigkeit im angewandten Beispiel findet zwei Ausprägungen. Zum einen die tatsächliche Gerechtigkeit im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes:

  • Die Gleichbehandlung im Gleichheitsfall und die
  • Ungleichbehandlung im Falle des Verschiedenseins.

Gleichbehandlung würde eine pathozentrische Mitleidsethik ansprechen: Weil Tiere ähnlich wie der Mensch Schmerz und Leid empfinden können, müssen diese wie beim Menschen verhindert werden. Tiere können nur dann eine gerechte Behandlung erfahren, wenn sie auf den Gebieten, auf denen sie dem Menschen gleich sind, auch eine gleiche Behandlung erfahren.

Auf den Gebieten, auf denen Mensch und Tier sich unterscheiden, wird die Tiergerechtheit angesprochen. Mit den Tieren muss so verfahren werden, wie es ihrem Wesen und ihren Grundbedürfnissen entspricht. Einer gastrosophischen Ethik folgend hieße das im konkreten Fall für den „ethischen Verbraucher", nur solches Fleisch zu konsumieren, das unter gerechten und tiergerechten Maßstäben produziert wurde. Tiergerechtheit ist vielen Produzenten, insbesondere im Bio-Bereich ein wichtiges Anliegen. Der Verbraucher kann sich über die Verbände über die entsprechenden Standards informieren und Waren wählen, die so hergestellt wurden, dass sie das Tierwohl fördern oder zumindest nicht einschränken.

Das ökologische Wohl

Ziel eines ethisch verantwortbaren Ernährungs- und Lebensstils ist die Verwirklichung der ethischen Vision vom ökologischen Wohl. Der Begriff des ökologischen Wohls bezieht sich nicht nur auf die Umwelt, wie es die klassische ökologische Ethik oder Umweltethik tut, die sich mit einem normativ richtigen und moralisch verantwortbaren Umgang mit der nichtmenschlichen Natur befasst. Das ökologische Wohl bezieht Natur, Tiere und Menschen gleichermaßen als Teile eines großen Ganzen mit ein.

Ein Beispiel aus der Praxis für die Verwirklichung des ökologischen Wohls im Ernährungsbereich ist die Slow-Food-Bewegung.

Gastronomie im Verständnis von Slow Food ist das intelligente Wissen, das den Menschen befähigt, mündige Entscheidungen über Güte und Qualität seines Essens zu fällen. Es ist Kultur, Erziehung und auch ein Stück Freiheit, nämlich Wahlfreiheit.

Slow Food strebt ein globales Nahrungssystem an, das „gutes" Essen als Organisationssystem für alle Menschen zum Ziel hat. „Gut" bedeutet dabei: gesund, sauber und fair, und zwar sowohl für den Produzenten als auch für den Verbraucher.

Gesundheit wird von allen Menschen als höchstes Gut geschätzt. Das Prinzip der „Sauberkeit" geht noch weiter als der Begriff der Gesundheit; es stellt sicher, dass keine schädlichen chemischen Rückstände in die Böden, die Luft und das Wasser gelangen und so die Gewebe von Mensch, Tier, Nutztier und Pflanze verunreinigen. Dies nutzt den Produzenten und der gesamten Welt - ganz im Sinne eines ökologischen Wohls.

„Fair" bildet den Achsennagel des gesamten Nachhaltigkeitskonzeptes. Es umfasst weit mehr als ausreichenden Lohn und würdige Arbeitsbedingungen. Es bedeutet Zugang armer Gemeinschaften zu gutem Essen. Es bedeutet eine gerechte Verteilung der Einkommen aus Nahrungsmittelverkäufen innerhalb der Versorgungskette. „Fair" bedeutet auch Gerechtigkeit gegenüber der Biosphäre und den künftigen Generationen. Denn Mensch, Tier und Natur sind unteilbar miteinander verwoben. Handlungen des einen können das Wohl des anderen fördern oder mindern. Im Sinne dieser Verwobenheit gilt es, die ethischen Entscheidungen rund ums Essen zu treffen. Nichts steht für sich allein, ein jedes bedingt ein jedes. Was immer wir essen, es wird Auswirkungen haben: auf uns, unsere Kinder, die Natur oder unsere Mitgeschöpfe, die Tiere.

Literatur

Gottwald, Franz-Theo: Agrar- und Esskultur. Zur ethischen Dimension der Ernährung. In: Ingensiep, Hans Werner; Eusterschulte, Anne: Philosophie der natürlichen Mitwelt. Festschrift für Klaus Michael Meyer-Abich. Würzburg, 2002.

Horkheimer, Max: Kritische Theorie gestern und heute, in: Gesellschaft im Übergang. Aufsätze, Reden und Vorträge 1942-1970. Frankfurt am Main, 1972.

Lemke, Harald: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie. Berlin, 2007.

Lemke, Harald: Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks. Bielefeld, 2007.

Meuth, Martina; Neuner-Duttenhofer, Bernd: Wo die glücklichen Hühner wohnen. Vom richtigen und vom falschen Essen. Bergisch Gladbach, 2008.

Nietzsche, F.: Die Fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 3, Berlin, 1988.

Nietzsche, F.: Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, Berlin, 1988.

Petrini, Carlo: Taking Back Life: The Earth, the Moon and Abundance. Programmschrift zum 5. Internationalen Slow Food Kongress, 2007.

Teutsch, Gotthard M.: Humanität ist unteilbar, in: Schneider, Manuel: Den Tieren gerecht werden. Zur Ethik und Kultur der Mensch-Tier-Beziehung. Reihe Tierhaltung, Kassel, 2001.