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Beobachtungen aus alltäglichen Mittagspausen in einer Salzburger Hauptschule

ENZINGER Katharina.   

Kaum läutet die Pausenglocke, springt eine hungrige Meute von ihrem Sessel auf, greift tief in die Schultasche, zieht Münzen und Geldscheine heraus und drängt sich binnen einer halben Minute an der Klassentüre zu einem lärmenden Haufen zusammen: eine alltägliche Mittagspause in einer Hauptschule in Salzburg-Stadt.

Die meisten der Kinder, vornehmlich Buben, haben um ein Uhr mittags noch nicht viel im Bauch. Frühstücken wollten sie nicht, sagen sie, dafür sei in der Früh auch keine Zeit, nachdem sie sich aus dem warmen Bett und in ihre Kleidung geplagt haben. In der Schule angekommen, war noch kurz Zeit, um sich einen warmen Kakao vom Automaten zu holen. Der ist so schön süß.

In der Großen Pause um halb elf stürmen die hungrigen Buben zum Schulbuffet, wo sie sich mit Süßigkeiten versorgen, um die restlichen zwei oder drei Schulstunden bis zur Mittagspause zu überbrücken.

Ist der Vormittag endlich zu Ende, rempeln und stoßen die gierigen Jungs die Treppe nach unten zum Supermarkt, der sich im Nachbargebäude der Schule befindet. Dort legt ein Großteil seine Jausen-Euros in Chips und Softdrinks an, der Rest der Klasse bevorzugt Eierwaffeln einer Diskontmarke in der 500-g-Packung, aufgebackene Pizzaschnitten, Kekse, Wurstsemmeln, Schnitzelsemmeln, Leberkäsesemmeln, Käseleberkäsesemmeln und Red Bull. Als die Gruppe den Weg zurück ins Klassenzimmer gefunden hat, ist ein Großteil der Papierverpackungen ihrer Verpflegung bereits von Fett durchtränkt.

Gierig stopfen sie ihr gehaltvolles Mittagessen in sich rein und werfen mit leeren Papiersäcken um sich. Um mir die Zeit zu vertreiben, sehe ich mir die Steckbriefe der Klasse an der Anschlagtafel an. Es ist keine Überraschung, dass bis auf zwei Ausnahmen alle 26 Kinder der Klasse Pizza, Spaghetti oder Schnitzel als ihre Lieblingsmahlzeit angegeben haben. Nach der lauwarmen Pizzaschnitte in der Schule kommen also in vielen Familien (wahrscheinlich Tiefkühl-)Pizzen auf den Tisch. Um die Kinder abwechslungsreich und ausgewogen zu ernähren, wird möglicherweise auf unterschiedliche Geschmacksrichtungen Wert gelegt. Mittags Thunfisch, abends Salami?

Spontan an den unorthodoxen Essgewohnheiten meiner Schützlinge interessiert, frage ich ein kleines schmatzendes Grüppchen neben mir, wem seine Mama zu Hause eine Jause gemacht oder ein Stück Obst eingepackt habe? Da schreit ein etwas überdrehter Bub aus dem Hintergrund: „Ich! Ich! Schauen'S doch!" Er streckt mir mit langen Armen seine giftgrüne Tupperdose entgegen und erklärt mir eifrig: „Pizza-Piccolinis! Die sind die besten!" Wie um mir seinen Appetit und seine Freude an der ganz persönlich zubereiteten Jause zu demonstrieren, schiebt er sich mit seinem fettverschmierten Händchen seine siebte Mini-Pizza in den Mund und kaut mit Hingabe.

Nach dem Ende der Stunde erscheint die Hausmeisterin in der Klassentüre. Während sie die am Boden verstreuten Essensverpackungen einsammelt, beginnt sie sich darüber zu beklagen, dass die Schüler nicht mehr in ihrem Schulbuffet einkauften. Sie erzählt mir verzweifelt, dass die Schulleitung ihr die Anweisung gegeben habe, jegliche Softdrinks und „ungesundes Zeug" aus dem Angebot zu nehmen und nur noch ungesüßte Getränke und gesunde Kornweckerl an die Schüler zu verkaufen. Ironischerweise ist es den Schülern jedoch sehr wohl erlaubt, in den Mittagspausen nach unten in den Supermarkt zu rennen und sich ihren Leberkäse, den es im Schulbuffet nicht mehr gibt, sowie supercooles-weil-verbotenes Red Bull von dort zu holen. Es ist nicht nötig zu erwähnen, dass die zwölfjährigen Buben über die Maßen von dieser Möglichkeit, der kulinarischen Dürre am Schulbuffet zu entrinnen, Gebrauch machen.

Um ein konkreteres Bild von den Essgewohnheiten der Salzburger Schüler zu bekommen, und vielleicht in der irrationalen Hoffnung, an jenem Tag einen zu extremen Eindruck gewonnen zu haben, frage ich in den nächsten Mittagsstunden genauer nach.

Kinder mit verschmierten Mündern voller Chips und Leberkäse - er wird auch ohne Semmel verkauft - erklären mir, dass sie sehr wohl wissen, was gesunde Ernährung ist. Immerhin haben sie doch ein eigenes Fach dafür. In Deutschland soll „Ernährungskunde"  nach den Wünschen der Gesundheitsministerin schon bald als Pflichtfach in allen Schulen eingeführt werden. In Österreich wird der Unterricht von einem angeblich kindgerechten Lehrbuch des Ministeriums unterstützt. Positiv überrascht führe ich mir die gut gemeinte Publikation zu Gemüte. Von Genuss ist an keiner Stelle die Rede, stattdessen bieten sich mir Seiten voller Tabellen über Nährwert, Spurenelemente, Vitamine und Ballaststoffe. Seitenlang wird ausgeführt, wie viel Protein, Fett und Kohlenhydrate unser Körper täglich braucht und in welchen Grundlebensmitteln diese Bestandteile zu finden sind.  Berge von Obst und Gemüse werden fetttriefenden Pizzen bildlich gegenübergestellt.

Nach dem Verdauen dieser Informationsflut regt sich in mir der blasphemische Gedanke, dass es wohl um ein Vielfaches  zielführender wäre, die Kinder in eine Schulküche zu packen und sie dort mit gesunden Lebensmitteln experimentieren zu lassen.

Kindern Bilder von reifem Obst, von knackigem Gemüse in Büchern zu zeigen, wird ihnen kaum Appetit darauf machen, sieht das doch nach mordsviel Arbeit und traumatischen Erlebnissen mit Spinat und Zucchini aus. Wäre es nicht einfacher und effektiver, den Kindern beizubringen, wie man - um zumindest anfänglich auf ihre Vorliebe für italienische Gerichte Rücksicht zu nehmen - aus frischen Tomaten eine leuchtend rote Sauce zubereitet, wie Basilikum duftet und wie Olivenöl leuchten kann? Es dürfte auch für Kinder eine nette Erfahrung sein, zu beobachten, wie innerhalb weniger Minuten aus Tomaten, Basilikum und Olivenöl Spaghettisauce wird. Warum zeigt ihnen niemand, wie lustig es ist, Lasagne zu schichten oder Ravioli zu formen? Wieso lässt man sie nicht selbst gekneteten Pizzateig ausrollen, darauf verteilen, was ihnen lieb ist, und dem echten (!) Käse beim Blasenwerfen im Ofen zusehen? Wieso knetet man keinen Brotteig mit ihnen, würzt ihn mit frisch gestoßenem Koriander und Fenchel und sieht ihm beim Wachsen zu? Warum setzt man keinen Sauerteig an, verzieht bei dem Geruch angeekelt die Nase und verarbeitet ihn zu einem knusprig-saftigen Brot?

Unter Umständen sollte man die Eltern der Kinder zu einem eigenen Kurs in die Schule einladen und ihnen näherbringen, dass ein picksüßes Wassermischgetränk aus einem Automaten nicht dasselbe ist wie ein von Papa zubereiteter Kakao aus der Lieblingstasse, dass Kochen und Essen genussvoll sein kann und soll, dass gemeinsames Essen den Familienzusammenhalt immens stärkt, dass eine tatsächlich ausgewogene Ernährung für die gesunde Entwicklung ihrer Kinder unabdingbar ist.

Wer erklärt den Eltern, dass nicht nur Adipositaserkrankungen, sondern ebenso Konzentrationsschwächen, Hyperaktivität, Trägheit und Aggression in vielen Fällen durch eine zucker- und fettlastige Ernährung bedingt sind, dass Genuss und Gesundheit Lebensqualität bedeuten, dass eine feine Esskultur ihren Kindern dabei helfen wird, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden? Wer führt die Eltern selbst zurück zu einem genussreichen und verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln, so dass sie ihn an ihre Kinder weitergeben und gleichzeitig ihre eigene Ernährungssituation und ihre Lebensqualität verbessern können?

Die Kinder mit auswendig zu lernenden Ernährungstabellen zu quälen wird mit Sicherheit nicht genug sein, um die katastrophalen Essgewohnheiten in den Schulen und in den Familien positiv zu verändern. Liebes Gesundheitsministerium, liebe Frau Minister Dr. Schmied und, vor allem, liebe Eltern: Eure Kreativität und euer tägliches Engagement sind gefragt!