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TEM – TCM – Ayurveda revisited. Diätetiken im Vergleich

Bernhard HUBER.   

“Daher ist [...] kein Nahrungsmittel, welches nicht auf eine oder andere Weise zugleich eine medizinische Kraft hat. Einige trocknen aus und erhitzen, andre befeuchten den Körper, küh-len und erfrischen ihn. […]

Man sieht hieraus, wie nothwendig dem Arzt die Kenntnis der in den Nahrungsmitteln steckenden Principien sey."(1)  

 

„Essen Sie sich gesund!"(2) Wie sehr entspricht nicht dieser scheinbar recht plakative Stehsatz den tiefsten Wünschen der Diätgeplagten unserer medial inszenierten „Light"-Manie. Durch Essen zu Gesundheit und nicht nur augenblicklichem Wohlbefinden zu gelangen, macht schon Eindruck; insbesondere bei jenen, die zu Kalorienzählern avanciert sind und beinahe enzyklopädisches Wissen über die aktuellsten Schlankheitskuren besitzen. Doch was steckt nun wirklich hinter dem Gedanken, dass bewusstes Essen als „Medikament" anzusehen sei, dass die Sorge um die tägliche Ernährung auch die Garantie der eigenen Gesundheit bedeuten kann? Anhand dreier „Lebensphilosophien" - aus der Lehre der Traditionell Chinesischen Medizin (TCM), dem Maharishi Ayurveda und einer hier als „Traditionell Europäischer Medizin"(3) (TEM) zu bezeichnenden - von denen die ersten beiden aktueller denn je den alternativen „Wellnessmarkt" behaupten und die dritte von unmerklichem Bekanntheitsgrad ist, soll der Behauptung nach „Essensprophylaxe" nachgegangen werden. Von Bedeutung sind die jeweiligen diätetischen Vorstellungen - in Bezug auf die Ernährung -. Besonders spielen dabei die ideologischen Inter- bzw. Differenzen eine Rolle, welche zwar ähnliche Symptome am menschlichen Körper konstatieren, sie jedoch in unterschiedlichen wissenssystemischen Kategorien ausdeuten.

„Lebensphilosophien", und als solche können wir die drei systematisierten und unterschiedlich kulturalisierten Heilwissensformen von TEM, TCM oder Ayurveda wohl bezeichnen, haben als Gegenstand ihrer Beobachtung und Behandlung den aus seiner Situation sich gesund bzw. krank fühlenden Menschen. Da der Mensch jedoch immer auch homo curans ist, besteht auch ein therapeutischer Anspruch, der über die analytische Ebene hinaus reicht. Damit werden Bilder von Menschen geprägt. Die „Lebensphilosophien" arbeiten und sprechen in diesem metaphorischen Zugang zum Individuum, das sie präskriptiv in ihrem jeweiligen Wissenshorizont verorten. Es tritt somit die Frage nach ihren anthropologischen Grundkonstanten auf den Plan. Nachfolgend soll der Versuch gemacht werden, diese in materiell-körperliche und immateriell-transzendente zu unterscheiden, sowie in ihrer eigenen Präskriptivität zu bestimmen.

In Bezug auf die Themenstellung bleibt festzuhalten, dass die folgenden Vergleiche allein den jeweiligen Blick auf die vorgeblichen anthropologische Grundannahmen eines gesunden Lebens darzulegen versuchen, wie es durch Ernährung gestaltet, reguliert und korrigiert werden kann. Allerdings ein Vergleich „auf gleicher Augenhöhe" ist schon aus dem Grund nicht möglich, da TCM und Ayurveda im Gegensatz zur TEM eine Angleichung an den medizinischen Horizont unserer Zeit erfahren haben. Bei Details, etwa Auswirkungen der Konsumtion von bestimmten Lebensmitteln, oder insbesondere der Bekanntheitsgrad organischer Spezifitäten sowie psychosomatische Verbindungen und Prozesse, scheint ein komparativer Blick wenig angeraten, da die Komplexitäten der Wissensniveaus ein zu starkes Gefälle bilden. Da aber bei allen dreien an einer individuellen Diätetik festgehalten wird, lassen sich in systemischer Hinsicht durchaus einige Parallelen ziehen, welche die medizinphilosophische Grundverwandtschaft in einigen Aspekten kenntlich machen können.(4)

 

Verbindung von Medizin und Ernährung

Die moderne Ernährungswissenschaft unterscheidet die Lebensmittel nach biochemischen Eigenschaften, die vom Essenden eigentlich abstrahiert und nicht auf ihn abgestimmt werden. Sie widmet sich besonders der Analyse von einzelnen in Nahrungsmitteln vorhandenen Nährstoffen, ihrer Wirkanalyse und unmittelbaren quantitativen Zusammenhängen. Sie misst und gibt Kalorien oder Mengen von Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten, Ballaststoffen, etc. an. Qualitative Zusammenhänge werden weniger als zu betrachtende Kategorie gesehen, etwa je nach bestimmten Umständen differierende Reaktionen ein und derselben Person auf ein und dasselbe Nahrungsmittel. Die hier behandelten „Lebensphilosophien" gehen aber von genau einer solchen individualisierten Sichtweise aus. Zum einen seht dort nicht im Vordergrund, was gegessen wird, sondern wer isst. Andererseits steht das Essen zugleich auch im medizinischen Zusammenhang. Dazu sind wissenssystematisch festgelegte Parameter vonnöten, um darauf therapeutische, kurative und präventive Konzepte entwickeln zu können.

Dabei sind die Ansätze unterschiedlich modern. Betrachtet man den aktuellen Gesundheitsmarkt, so sind Bücher zur TCM bzw. dem Ayurveda keine Mangelware. Dies betrifft u. a. auch deren diätetische Vorstellungen, die heutzutage bereits in der Kochbuchliteratur Fuß gefasst haben.(5) Werbewirksame Aufhänger wie „Schönheit kann man essen"(6) versuchen erfolgreich, mit jahrhundertealtem Wissen auf aktuelle Bedürfnisse anzusprechen. Der TCM und dem Maharishi Ayurveda gelang es offenkundig, ihr - aus diätetischer Sicht - therapeutisches Wissen in einen modernen medizinischen und lebensphilosophischen Zusammenhang zu stellen, somit „modernisiert" bzw. in einer um manche überholte Ansichten und Lehrmeinungen - etwa der Magie - gereinigte „light"-Version anzubieten.

 

Historischer Abriss

Überlegungen zu und Begründungen von Gesundheit wie Krankheit scheinen für die Menschen naturgemäß früh von Bedeutung gewesen zu sein. Reflexionen über Natur und Welt betrafen unweigerlich auch den Menschen als darin Lebendem und davon Geprägtem. Für die europäische Geschichte lässt sich dies erstmals im antiken Griechenland fassen. Die Suche nach einem „Urstoff", nach einem empirisch zu messenden Grundprinzip, aus dem sich Welt und Leben erklären ließe, somit auch der Mensch in Gesundheit und Krankheit zu definieren sei, bewegte die Vorsokratiker seit Thales von Milet. Die Ansichten darüber fielen unterschiedlich aus. Die medizinphilosophischen Anschauungen führten die frühen Versuche, welche sich um die Wesenserforschung des Menschen bemühten, auf humoralpahtologische therapeutische bzw. kurative Wissensmuster. Empedokles (495-435 v. Chr.) fasste diese erstmals in der Lehre von einander sich reziprok beeinflussenden Elementen und deutete die fundamentale Bedeutung des isonomischen Mischverhältnisses der Körpersäfte an. Konkret an einer „wissenschaftlichen" Verhältnisbestimmung von Gesundheit und Krankheit aus individuellem prognostischem Zugang arbeitete schließlich Hippokrates (460-370 v. Chr.). Er prägte als erster die medizinische Ätiologie, machte somit für körperliche Prozesse rationale Gründe geltend und nicht mehr magische Erklärungsmuster. Im Corpus Hippocraticum wird erstmals ein Vierzahlkonzept („Tetradik") symbiotisch angewandt, das verschiedene, als für die menschliche Behandlung praktikabel angesehene medizinphilosophische Parameter in Bezug auf den menschlichen Körper setzt und nach holistischem Prinzip kosmologisch transzendiert.(7) Galen (129-216 n. Chr.) verband schließlich die humoralpathologische Lehre mit den anatomischen Kenntnissen seiner Zeit und stellte die bedeutendste Kompilation und Erweiterung des bisherigen antiken medizinischen Wissens dar. Durch byzantinische (besonders 300-600) und arabische (besonders 800-1100) Rezeption setzte ein umfassender Text- und Wissenstransfer ein, der etwa zu Beginn des Hochmittelalters mittels unterschiedlicher Übersetzungstraditionen über Spanien und Italien nach Zentraleuropa gelangte. Die Schulen von Salerno und Montpellier sind dabei als wichtige Zentren der Praxis zu nennen; als Orte der Wissensüberlieferung fungierten besonders in der Frühzeit die Klöster. Hildegard von Bingen (1098-1179) gilt als eine bedeutende Rezipientin des antiken diätetischen Wissens. Die neuzeitlichen Forschungen mit der cartesianischen Wende der Trennung von Körper und Geist und der Beginn einer experimentellen Medizin ab dem 17. Jahrhundert verdrängten die bisherigen Autoritäten zusehends.(8) Am Beispiel der Diätetik kann etwa im deutschsprachigen Raum eine Tradierung aber bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts nachgewiesen werden.

Genauso wenig wie im antiken Griechenland gab es im frühen China ein einheitliches Heilsystem. Vielmehr existierten, besonders von Nord nach Süd, regional unterschiedliche Traditionen. Die „eigentliche" chinesische Medizin ist also ein Kunstprodukt, allein bedingt durch unterschiedliche Flora und Fauna und damit abweichende pharmakologische Entwicklungen, wie auch abweichende Lebensformen und Ernährungsweisen in China. Der enge Zusammenhang von Ernährung und Medizin ist im Reich der Mitte mindestens bis in das 3. Jh. v. Chr. zurückzuverfolgen. In medizinischen Werken dieser Frühzeit finden sich zahlreiche Rezepturen, die keinen eindeutigen Unterschied zu Kochrezepten aufweisen. Eine Trennung in Arzneimitteltherapie einerseits und Diätetik andererseits lässt sich erst ab der Tang-Dynastie (618-907) feststellen. Die Diätetik an sich wird hier auch erstmals begrifflich fassbar. Nun ist von „Ernährungstherapie" (chin. shiliao oder shizhi) die Rede. Damit ist eine Art der Herangehensweise bezeichnet, die Lebensmittel hinsichtlich deren Wirkung auf den menschlichen Organismus reflektiert, ihnen folglich nach wie vor auch Heilmittelcharakter zubilligt. Ähnlich wie am Beginn der Diätetik in der antiken Medizin, wendet auch das chinesische Denken dasselbe Ordnungsschema wissenssystematisch auf andere Bereiche medizinischen Handelns an, womit die Grundidee von Erkennen, Behandeln und Begleiten in einer einheitlichen Anthropologie verankert ist. Das Beispiel der TCM macht weit stärker als die TEM die Integration der Wirkung von Nahrungsmittel als Heilmittel deutlich.(9) Aus westlicher Sicht ließen sich als Gründe dafür etwa das erstarrte System der tradierten europäischen Diätetik, die vormoderne Prognostik aufgrund des Körper- und Menschenbildes, sowie die fehlenden Einsichten in Zusammenhänge psychosomatischer wie interorganischer Natur anführen.

Von der modernen „westlichen" Medizin blieb auch die TCM nicht unbeeinflusst. Dazu trug auch die wechselvolle politische Situation Chinas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei. Nach 1949 war man definitiv von „offizieller" Seite um die Bewahrung der traditionellen Medizin bemüht, und reihte den Bezug zur eigenen Geschichte im medizinischen Denken nicht dem westlichen Kulturimperialismus zurück. Damit begann auch der Versuch, chinesische und „westliche" Medizin miteinander zu verbinden bzw. erstere „wettbewerbsfähiger" in bezug auf zweitere zu machen. Ob sich nun am Beispiel der TCM die Tradition in die Moderne integriert hat, oder die Entwicklung im 20. Jahrhundert eher eine spezifisch chinesische Variante modernen medizinischen Denkens geschaffen hat, wäre in interkultureller Analyse eine nachgehenswerte Fragestellung. Laut Unschuld ist die heutige Form der TCM, wie sie im Westen bekannt ist, als Kunstprodukt zu bezeichnen. Keinesfalls darf der Fehlschluss gemacht werden, die in den Industriestaaten praktizierte Form der TCM mit ihrer Anwendung im China der Gegenwart zu vergleichen. Und desgleichen ist letztere ein Abbild der traditionellen Medizin, wie sie die chinesische Geschichte über zwei Jahrtausende hinweg bekannt war. Das heute sowohl in China als auch im Westen Bekannte kann nur als Restbestand eines Wissens bezeichnet werden, das im Laufe der Entwicklung an manchen Stellen erodierte bzw. an anderen um moderne Aspekte ergänzt wurde.(10)

Bei Maharishi Ayurveda handelt es sich um traditionelles indisches Heilwissen, das sich etwa seit den 1990er Jahren in den westlichen Industriestaaten großer Beliebtheit erfreut. Die Übersetzungen scheinen zu variieren: Sowohl als „Wissen" bzw. je nach Übersetzung auch „Wissenschaft" wird das indische veda gelesen, bei ayur kann dabei vom Leben an sich, dem gesunden Leben oder der Lebensweise die Rede sein. Letzteres deutet bereits auf die praktische und therapeutische Orientierung hin. Textlich ist der Ayurveda seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten fassbar, wobei medizinische Traditionen in Indien bis auf die religiösen Quellen der Veden zurückreichen. Besonders ist hier der Atharvaveda zu erwähnen. Dort finden sich bereits Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, sowie medizinische bzw. spiritualistische Präventivmöglichkeiten. Eine wichtige Quelle stellt etwa der Kaushika Sutra dar, welche rituelle Handlungen und Gesänge anführen. Schutz vor Krankheiten steht dabei in medizinisch-präventiver Hinsicht auf gleicher Ebene wie Schutz vor Feinden, Blitz oder Hexerei. Religion und Philosophie stellten folglich auch in Indien die Bausteine medizinphilosophischen Wissens zur Verfügung, mit denen die Übersetzung von empirischen Tatsachen zu medizinischen Theorien vollzogen wurde. Auf dieser Basis der altvedischen Traditionen entwickelte sich eine Wissenssystemik, welche sich selbst als Ayurveda bezeichnete. In den drei Lehrwerken von Charaka Samhita, Susruta Samhita und Kashyapa Samhita werden die dogmatischen Grundprinzipien aufbereitet. Charaka (vermutlich 1./2. Jh. n. Chr.) kann als Galen des Ayurveda gelten; vergleichbar mit Hippokrates schrieb auch er einen ethischen Standard fest. Seine Kompilationen enthalten u. a. auch Teile zur Diätetik oder Pharmakologie, wie diese auch bei den beiden anderen für den Ayurveda bedeutenden Ärzten Susruta und Vagbhata vorkommen. Das medizinische Handwerk übte in Indien die höhere Priesterklasse aus, die über Bildung verfügte. Durch Kulturimperialismus, wie etwa im 11./12. Jahrhundert oder ab 1833 mit der Schließung der ayurvedischen Ausbildungsstätten durch die Briten, unterlag der Ayurveda einer wechselvollen Geschichte, war aber stets soziokulturell fest verankert und erfreut sich auch aktuell weit über Indien hinaus großer Beliebtheit.(11)

 

Präskriptive und normative Ordnungssysteme

Anthropologische Grundlagen

Heilung ist Ordnung. Die geordnete, zweckvolle und harmonische Vorstellung der Natur, welche bei den Griechen erstmals Aristoteles (384-322 v. Chr.) beschrieb, stellt eine philosophische Grundannahme für die menschliche Lebensweise dar. Diese formt den Lebensrhythmus des Individuums. Die chinesische Vorstellung der „Organuhr"(12), geregelt nach bestimmten Wirkabfolgen, bringt dies zum Ausdruck. Gerade am Beispiel der Ernährung bildet dieser Wissensparameter „Ordnung" ein valides medizinphilosophisches Erklärungsmuster. Auch der Ayurveda versucht die Rhythmen des Tagesablaufes mit denen auf organischer Ebene erkannten in Einklang zu bringen. Am Beispiel der Regimina-Sanitatis-Literatur des Mittelalters kann weiters nachvollzogen werden, dass Zeiten bzw. persönliche Umstände die Gestaltung der Ernährung beeinflussten, somit als ausschlaggebender Faktor in dieser Hinsicht betrachtet wurden.(13) Es kann folglich gezeigt werden, dass sowohl die psychosomatischen Vorstellungen, die astrologischen Aspekte, als auch die Verbindung von empirischer Prognostik und theurgischer Lehre (Karma), Vergleiche von TEM zu TCM und Ayurveda erlauben.

Die Ordnungsansätze zeichnen sich durch Komplementarität und Funktionalität aus. So war besonders das chinesische Gesundheitsverständnis äußerst komplex und reich an konkreten Regulativen. Besonders die Ernährung spielte dabei eine wichtige Rolle, gingen von ihrer Zusammensetzung gleichsam „Kettenreaktionen" an Wirkungen für den Körper aus. Neben inneren Bedingungen, wie eben der Konstitution oder dem seelischen Zustand, spielten äußerliche Einflüsse aus Natur und Gesellschaft eine Rolle. Auch nach griechischer Anschauung stand der Mensch als individuelles Temperament dabei in bipolarem Bezug von externen Beeinflussungen (res nonnaturales)(14) und internen (res naturales), wie es bereits Galen ausformulierte. Nach vedischer Überzeugung bildet der Mensch als Mikrokosmus ein Äquidistanzverhältnis zum Makrokosmus des Universums. Sämtliche menschliche Seinsordnungs- und körperliche (Dis-)harmonievorstellungen begründen sich in diesem Spannungsfeld. In einem ersten Schritt soll dabei auf die immanenten Bedingungen der Anthropologien eingegangen, in einem zweiten der Transzendenzbezug erwähnt werden.

 

In dem Spannungsfeld von Mensch zu Umwelt ist der mobile Gleichgewichtsakt zu sehen, der in der TCM energetisch definiert wird. Dabei ist das häufig zitierte Qi nur ein Teil der so genannten „Drei Schätze".(15) Es bildet die vitalen individuellen Kräfte und die persönliche Leistungsfähigkeit. Es findet sich als häufige Bezeichnung, wie die zahlreichen Derivate von Nachhimmels-Qi, Milz-Qi, Atmungs-Qi, etc. belegen.(16) Qi fließt entlang der unsichtbaren „Meridiane". Vom richtigen Fluss hängt es ab, ob man sich gesund oder krank fühlt. Dabei bestehen neben Akupunktur etc. auch Eingriffsmöglichkeiten mittels der Ernährung.(17) Ein gleichwertiger Stellenwert eines Lebensenergieprinzips lässt sich in der TEM kaum finden. Es kann hier jedoch nur als These festgehalten werden, dass ausgehend von Galen dies in dynamis, energeia bzw. pneuma ausdifferenziert wurde.(18) Aus Sicht des Ayurveda kann hierbei von prana gesprochen werden, wobei der energetische Begriff in der Literatur einen eher sekundären Stellenwert vermuten lässt.(19) Energie als Parameter ist zwar schon vorhanden, scheint aber nicht die systematisch ausformulierte Bedeutung wie in der TCM zu besitzen.(20) Wenn, dann findet sich ein betont energetisches System bei Chopra. Er prägte den Begriff des „quantenmechanischen Körpers"(21), welcher das energetische Pendant des physischen Körpers meint, den Bereich der Schwingungen. Für Chopra vollzieht sich auf der Ebene der Quanten die Verbindung von allem - sozusagen der „Kontakt" der einzelnen Körperbestandteile untereinander.

 

Ein weiterer Parameter sei anhand der TCM mit der bereits erwähnten Komplementarität von Yin/Yang erwähnt. Yin/Yang wird dort ebenso als Abbild aus der Natur heraus argumentiert - es entstammt dem „Einen" (chin. tao) - und stellt die Gegensätze von Wasser und Feuer, von Feuchtigkeit und Trockenheit, von Dunkelheit und Licht, etc. dar. Es handelt sich somit um Wirkprinzipien von Kräften, genauer um den Wechselbezug des Qi zum Raum, und verbleibt somit im energetischen Diskurs.(22) Die Dualität ist niemals statisch, sondern steht in flexiblem Gegenseitigkeitsverhältnis zueinander, wie sich dies genauso in Naturabfolgen widerspiegelt.(23) Ein vergleichsweise grundlegendes bipolares Prinzip findet sich etwa in der TEM nicht. Zwar wird auch dort mittels gegensätzlicher Muster gearbeitet und nach dem Leitwort „contraria contrariis" therapiert,(24) doch diese gegensätzliche Abstrahierung wird zumindest als diätetische binäre Leitkategorie nicht nachvollzogen. In der TEM wird dieses Spannungsmuster geviertelt, die Lehre vom „Einen" scheint keine triftige Bedeutung besessen zu haben.(25) Hippokrates etwa lehnt jedwede Einheitssicht ab, auch ein einheitlicher Ursprung lässt sich nicht finden.(26) Möglich, dass der Naturbegriff hier kompensierte, als nicht-magisch und vermutlich auch nicht-energetisch, doch müsste dies erst vergleichend untersucht werden.(27) Das chinesische Muster, wonach dem „Einen" das Bipolare entstammt, deckt sich nicht mit der indischen Auffassung: Das „Eine" im Ayurveda ist nach mancher Definition veda, die „Sprache der Natur" das „ewige Wissen", das alles umfasst.(28) Hier tritt die ontologische Dimension eines Wissensbegriffes auf. Gemäß der Sankhya-Philosophie wird aber das „Eine" mit „Absoluter Realität" (purusha) beschrieben, aus der heraus die „Relative Realität" entwickelt, welche sich mit Natur (prakriti) umschreiben ließe. Damit zeigt sich auch einmal mehr der Spannungspol von Energie und Materie.(29) Die Differenzierungen müssten noch um einige weitere Aspekte verfeinert werden - so entstammen zum Beispiel die materiellen fünf Elemente den sensorischen fünf Sinnen (tamas). Wesentlich festzuhalten scheint jedenfalls, dass zwar je nach Literatur auch die Definitionen in Bezug auf das Wesen des Urgrundes variieren können, man aber vermutlich doch auch von einer energetischen Sichtweise ausgehen kann. Die Sankhya-Philosophie etwa legt das nahe.(30)

 

Die anthropologischen Grundkonstanten der einzelnen Wissenssysteme ergeben sich somit zum einen aus energetischen Aspekten,(31) zum anderen treten materielle Parameter hinzu. Einer davon ist bspw. die Idee der Elemente. Für die TEM kann dabei von einer spätestens nach der arabischen Rezeption relativ starren Einteilung ausgegangen werden, die sich in Verbindung mit der Lehre von den Körpersäften bald zu einer ausdifferenzierten Typologie der menschlichen Charakteren und Temperamenten herausbildete und eine lange Persistenz in der medizinischen Lehrtradition aufwies.(32) Die menschliche Körperlichkeit lässt sich in der TEM nur als elementales Mischungsverhältnis erklären, gemäß der aristotelischen Kosmologie. Neben den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft sind die ebenso tetradisch bestimmten Kardinalsäfte des Körpers von Blut, gelber Galle, schwarzer Galle und Schleim vier jeweils binär auftretenden „Qualitäten" zugeordnet, welche in heiß, kalt, trocken und feucht vorkommen. Diese drei Bausteine sind schließlich ausschlaggebend in der Bestimmung des je individuellen Temperaments, des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers oder Phlegmatikers.(33) Damit besaßen bereits die antiken Mediziner dogmatisch plausible Kriterien, um Gesundheit und Krankheit des Körpers auf zu behandelnde Gründe im Spannungsfeld von Gleich- bzw. Ungleichgewicht zurückführen zu können.(34)

Auch der Ayurveda geht von humoralpathologischen und elementalen Grundannahmen aus und bindet die Körpersymptomatik an Gleich- bzw. Ungleichgewicht der den menschlichen Organismus steuernden Säfte und Elemente. Feuer, Luft, Wasser, Erde und Äther bilden dort die Grundlage für die Ausfaltung der Natur. Am Beispiel des Menschen ergeben sich daraus drei bestimmende vitale Grundkräfte, die so genannten doshas. Sie unterteilen sich in vata, pitta und kapha.(35) Die Grundbedingung der Gesundheit stellt einmal mehr die homöostatische Vorstellung: Das Gleichgewicht der doshas bei endogenen und exogenen Wandlungsvorgängen. Die Konstitutionenlehre des Ayurveda birgt allerdings dadurch Komplexität, dass sie selten in Reinform, generell aber in stark ausdifferenzierten Mischungsverhältnissen auftritt. Die Literatur zur ayurvedischen Konstitutionslehre beschreibt besonders eine weitläufige Verbindungslehre von organisch-physischen und charakterlich-psychischen Individualitäten. Dies erzeugt den Eindruck von behandlungsresistenten Charaktereigenschaften: Vata-Menschen gelten als besorgt und ungeduldig, pitta- Typen emotional, kritisch, intelligent, und kapha-Typen als sentimental, apathisch, konservativ, schüchtern und gehorsam.(36) Wo bleibt der Spielraum für persönliche Veränderung? Der Schlüssel liegt für Ayurveda einmal mehr in der Arbeit an Körper und Geist. Ein jeder besitzt ein Quantum an allen Typen und Eigenschaften. Das sich am häufigsten Zeigende kann als die persönliche Haupttendenz beschrieben werden.

Diese Verhältnisbestimmungen dringen sogar bis in die Kochbuchliteratur vor.(37) Die arbiträren Kombinationsmöglichkeiten und die unterschiedlich großen Anteile jedes Individuums an allem eröffnen dieserart viele Subdifferenzierungen, die etwa Freizeitvorlieben mit der Physiognomie der Hände bzw. Füße, dem Schlaf, der Sprechweise oder eben auch dem Appetit bzw. den Essgewohnheiten in psychopathologischer Hinsicht miteinander in Verbindung bringen.(38) Vergleichend stellt sich jedenfalls heraus, dass pitta bzw. kapha-Typen weitestgehend mit den cholerischen bzw. phlegmatischen Konstitutionen der TEM übereinstimmen.(39)

Bei der TCM ist zwar auch von Elementen die Rede, gemeint sind allerdings „Wandlungsphasen"(40). Populärwissenschaftlich wird dennoch meist von Elementen gesprochen(41) und das Interaktionsverhältnis vernachlässigt.(42) Es sind ihrer fünf an der Zahl: Feuer, Wasser, Erde, Metall und Holz. Die Phasen drücken in kombinierter Form eigentlich das aus, was in der TEM in Elemente, Lebensalter bzw. auch astrologische Aspekte ausdifferenziert ist. Jeder Mensch hat somit zu den unterschiedlichen Abschnitten seines Lebens Anteil an den einzelnen Wandlungsphasen. Das ideelle Gerüst wird mit den konkreten Lebensabschnitten des Menschen verbunden, die darüberhinaus mit Jahres- und Tageszeiten in korrelierender Verbindung stehen, sowie jeweils zugewiesene organische Wirkpaare exakt definiert.(43) Ist zwar die Altersfrage in Bezug auf die Lebensweise auch in TEM(44) und Ayurveda bedeutungsvoll, scheint aber die chinesische Vorstellung der „Wandlungsphasen" am flexibelsten ausformuliert

Dies führt etwa am Beispiel der Verdauung zu relativ komplexen Ursache-Wirkungsabfolgen, zu zahlreichen Zusammenhängen, oft abseits des medizinisch Feststellbaren. Hervorgehoben werden soll nur die angewandte metaphorische Systematik: Vom „Verdauungsfeuer" ist die Rede, sowie sich auch polittheoretische Analogieschlüsse von Herz zu Dünndarm als Regent und Untertan in verklärt eudaimonistischer Vorstellung vorfinden.(45) Im Ayurveda steht die Vorstellung des „Feuers" wiederum im energetischen Diskurs. Agni meint das allgemein belebende, jatharagni das spezielle „Verdauungsfeuer", welchem eine grundlegende Bedeutung für die menschliche Gesundheit zugerechnet wird.

Neben anderen externen Faktoren hängt es auch von der Ernährung ab, ob das „Verdauungsfeuer" in Ordnung, die organischen Funktionen harmonisch ablaufen und damit das Wohlbefinden gewährleistet ist. Bei mangelhaftem Verdauungsablauf können sich nach ayurvedischer Überzeugung unverdaute Bestandteile (ama) erhalten, welche den Energiefluss hemmen und gesundheitliche Beschwerden hervorrufen.(46) Das führt zum folgenden Punkt, dem Blick auf die Lebensmittel.

 

Lebensmittellehre

Nach ähnlich schematischen Mustern wie der Mensch werden auch die Lebensmittel eingeteilt, deren produkteigene Qualitäten und Eigenschaften die Wirkungen auf den Essenden beeinflussen. Medizinphilosophischer Ordnungsdrang hat sowohl bei TEM, als auch bei TCM und Ayurveda zu langen Listen geführt, die zu Ausgleichszwecken möglichst umfangreich Beschaffenheit und typologisch gestaffelte Konsumindikationen anführen. Es muss hier genügen, nachfolgend die ideologischen Leitlinien zu umschreiben.

Die Nahrungsmittel werden in der TCM nach ihrem Temperaturverhalten (chin. xing oder qi) beschrieben. Dies reicht von kalt bis heiß und macht Aussagen über die „energetische Dynamik" des Lebensmittels, inwieweit es das Qi bewegt oder eher nicht.(47) Die Thermik meint hierbei nicht messbare Temperatur, sondern steht einmal mehr im energetischen Zusammenhang von Yin und Yang.(48) Lebensmittel sind auch durch ihre Geschmacksrichtung definiert (chin. wei), die von sauer, bitter, süß, scharf bis salzig reichen.(49) Salzig etwa wirkt kühlend und befeuchtend , ansonsten variieren die Zuschreibungen etwas, bspw. bei süß-kühl und süß-warm.(50) Weiters unterscheidet die TCM auch noch so genannte Grundwirktendenzen von Lebensmitteln, die sie in „Bewegungsrichtungen" von schwebend, steigend, sinkend und fallend unterscheidet. Wein etwa besitzt steigende Wirkung, Salze fallende, folglich abführende Wirkung.(51)

Die wichtigsten diätetischen Merkmale der Ernährungsmittel in der TEM werden hauptsächlich nach thermischen Qualitätsaspekten definiert, sowie in ihren vermutlich empirisch geprüften Wirkindikationen beschrieben. Bleibt dieses Grundmuster bis in die Neuzeit hinein unverändert, lassen sich doch Abweichungen in den Darstellungen feststellen. Davon abgesehen, dass bislang kaum komparative Studien existieren, die Wissenstransferlinien aufzeigen bzw. Tradierungsbezüge in werkvergleichender Hinsicht benennen könnten, fallen doch offensichtliche Veränderungen auf. Am Beispiel der (primären) Qualitätszuschreibungen etwa lässt sich nachvollziehen, dass Galen keine thermischen Abstufungen verwendet, sondern bei gleichwertigen Intensitäten bleibt.(52) Die arabische Rezeption erweitert dies mathematisch um jeweils vier Grade und erreicht dadurch äußerst komplexe Zuschreibungen.(53) In Mittelalter(54) und Früher Neuzeit werden die Qualitäten meist wiederum in einfachen Gradangaben bzw. relativen Zuschreibungen rezipiert. Neben thermischen Aspekten und Wirkungsweisen auf bestimmte Organe bzw. die Verdauung, treten auch Geschmacksrichtungen auf. Konrad von Eichstätt etwa beschreibt die Oliven als sauer,(55) die Mandeln(56) und Äpfel(57) als süß. Eine gleichwertige Systematik, wie sie die aktuelle Literatur über TCM und Ayurveda darlegt, existiert allerdings nicht. Vermutlich teilen sich die Lebensmittel auch nach ihrem Geschmack ein, doch fehlen für eine solche Behauptung nach wie vor konkrete Forschungen.(58)

Im Ayurveda spielen sowohl thermische Qualitäten als auch Geschmacksrichtungen (rasa) eine Rolle.(59) Süß, bitter und herb gelten als abkühlend, sauer, salzig und scharf als erhitzend. Diese prägen die Lebensmittel und haben daher abgleichende Zuweisungen mit den Konstitutionstypen (sowie auch den Elementen). So ist kapha süß, salzig und sauer, pitta sauer, scharf und salzig, vata schließlich bitter, herb und scharf. Eine ausgewogene Ernährung besteht jedoch nach ayurvedischer Auffassung aus allen sechs Geschmacksrichtungen in moderater Menge, je nach persönlicher Verfassung bzw. anderen endogenen wie exogenen Parametern. Schwer einzuordnen sind die drei gunas, welche als weitere Lebensmittelqualitäten - allerdings auf energetischem Niveau - anzusehen sind. So ergeben sich zusätzlich sattvische (frisch, naturbelassen, leicht), rajasische (bitter, sauer, salzig, scharf) und tamasische (Fastfood, Tiefkühlkost, Reste) Eigenschaften der Lebensmittel.(60) Generell bleibt der in der Literatur immer wieder betonte Umstand festzuhalten, dass die Bearbeitung der Lebensmittel einen entscheidenden Einfluss auf Thermik wie auch Geschmack ausübt. Durch die Zubereitungsart kann die Temperatur des Nahrungsmittels verstärkt oder abgeschwächt und damit auf die persönliche Konstitution in begrenzten Maßen abgestimmt werden. Braten, Backen oder Grillen stärkt wärmende Tendenzen, Dünsten oder Trocknen kühlt ab. Nicht übersehen werden dürfen dabei den Speisen hinzugegebene Kräuter und Gewürze, die in den gleichen Kategorien wirken.(61)

Der Bezug auf die Jahreszeiten als exogener Faktor der Ernährungsgestaltung und Lebensmittelauswahl findet sich sowohl bei der TEM, als auch in der TCM bzw. dem Ayurveda. Die Frühlingsmonate (Februar bis Mai) haben Aufbruchscharakter, es beginnt zu sprießen und zu blühen und es wird wärmer. Neben anderem gilt es, die Feuchtigkeit des Winters auszuleiten. Im Sommer (Mai bis August) sind durch die Hitze leicht verdauliche und kühle Nahrungsmittel zu bevorzugen. Weizen, Gerste und Hirse werden etwa in der TCM als kühlende Getreidesorten empfohlen, Gurke, Melanzani oder Kürbis bei den Gemüsen oder Birne, Apfel, Zitrone und Banane bei Obst. Der Herbst (August bis November) erfordert ein „Sammeln" der körperlichen Energien. Kräftigende Nahrung wird daher angeraten, wie warme Getreidesorten, Hülsenfrüchte, Nüsse, Kürbisse und Karotten bzw. auch Feigen. Im Winter (November bis Februar) ist gemäß den Beobachtungen in der Natur auch im Körper alles zurückgezogen. „Yangisierende", d.h. erwärmende Speisen sollen nach der TCM bevorzug werden. Man braucht nur auf das „traditionelle" kulinarische Umfeld von Advent und Weihnachten zu blicken um sofort die diätetischen Entsprechungen zu finden: In der TCM werden für die kalte Jahreszeit Nüsse, Fenchel, Zimt, Gewürznelken oder Ingwer empfohlen, als Fleisch Huhn, Schaf, Hirsch oder Karpfen. Am Beispiel der TCM- und der Ayurveda-Ernährung ist generell festzuhalten, dass sie von thermisch kalten Speisen wenig bis gar nichts halten. Unabhängig von der Jahreszeit sind diese weder in der Früh, noch zu Mittag oder am Abend gerne gesehen.(62)

 

Transzendenter Hintergrund

In der beschriebenen Anthropologie und Lebensmittellehre von TEM, TCM und Ayurveda kam stets auch eine „energetische", immaterielle Dimension zum Ausdruck. Der Mensch wird nicht rein innerweltlich betrachtet, sondern in eine transzendent-holistische Begründung gestellt, die Körper und Geist zusammendenkt. Die in diesem Beitrag zitierte Literatur gibt davon zahllose Beispiele, die unabhängig von den kulturellen - und am Beispiel der TEM auch zeitlichen - Unterschieden einen grundlegenden wissenssystemischen Parameter bilden. Die numinose Dimension begegnet einem allerorts. So heißt es etwa zur ayurvedischen Sicht des „Verdauungsfeuers": „In uns existiert ein Gott, das heißt eine kosmische Kraft, die über unsere Körperfunktionen herrscht. Wenn wir mit dieser Kraft nicht im Einklang leben, werden wir zwangsläufig krank. Der Gott ist unser eigenes Verdauungsfeuer <...>"(63) Besonders interessant sind die Verbindungslinien zwischen beiden Dimensionen. Zur Mahlzeit heißt es z.B. in einem Kochbuch: „Beginnen Sie die Mahlzeit mit einem Tischgebet oder nehmen Sie innerlich eine Haltung der Danksagung und Ehrfurcht ein. Dies aktiviert auch die feinstofflichen Qualitäten der Mahlzeit."(64) Die Bewusstseinsebene beeinflusst somit die materielle Beschaffenheit des Essens!

Die „kosmische Melodie"(65) gibt einen wesentlichen Ton im menschlichen Gesundheitskonzert an. Persönliches körperliches Wohlbefinden setzt spirituelles Transzendieren voraus: „Der wichtigste hierfür erforderliche Schritt ist das Transzendieren, der Vorgang, durch den wir mit unserer Quantenebene in Kontakt treten."(66) Damit scheint es also möglich, eine Kommunikationsform mit dem eigenen Körper aufrechtzuerhalten, die Fehlgänge in der eigenen Lebensführung schon im Ansatz ausradieren kann. Heilung, Therapie und Prävention müssen nun in erweiterter, nämlich geistiger Methodik betrachtet werden. Die Gesundheitsdefinitionen bei TCM und Ayurveda beschränken sich somit nicht allein auf ein materielles Gleichgewicht, sondern umfassen auch Bewusstseinseben der Sinne und spirituelle Entwicklung.(67) „Der Mensch zwischen Himmel und Erde"(68) erhält dort also eine „Einladung zu einer höheren Wirklichkeit"(69). Ob sich dies in jeder Hinsicht unter die Idee der Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur subsumieren lässt,(70) kann nur als weiterführende Frage aufgeworfen werden.

Für ein „rationales" Medizinverständnis ist das Absehen von magischen Erklärungsmustern jedenfalls notwendig. Dass in den Phasen der Verwissenschaftlichung des Heilwissens, in philosophischen und praktischen Zugängen, dieser Paradigmenwechsel jedoch nicht immer vollständig umgesetzt wurde, ist die These Unschulds. Laut seinen Forschungen ging die transzendente Bindung in der medizinischen Deutung weder in den fernöstlichen Traditionen, noch in der „westlichen" Entwicklung gänzlich verloren, doch kam für ihn in Bezug auf die empirische Prognostik die TCM am weitesten.(71) Dass sich Umweltfaktoren wie Kälte, Hitze, Trockenheit oder Feuchtigkeit oder andere als Naturgesetze erkannte Vorgänge zwar als letztendlich gewichtiger in der anthropologischen Deutung und damit auch für die Medizin - sowohl im Westen wie im Osten - erwiesen, darf dennoch nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass das Wechselverhältnis des Immanenten zum Übersinnlichen dennoch einen geradezu gleichwertigen Stellenwert in Theorie und Praxis von TCM und Maharishi Ayurveda beibehalten hat. Inwiefern dies lediglich das noch nicht von der wissenschaftlichen Forschung Erreichte kompensierte, oder einen wirklich aus sich heraus begründenden Wesensbereich bildete, muss hier als abschließende Fragestellung offen bleiben.

 

Ausklang

Der vorangegangene allgemeine Blick auf die präskriptive Wissenssystemik von TEM, TCM und Ayurveda soll abschließend auf die Frage nach den ideologischen Leitmustern verengt werden. Welche Definitionen den Menschen als gesund zu erhaltendes Individuum festlegen, konnte ja ansatzweise aufgezeigt werden. Doch welcher soziokulturelle bzw. politische Diskurs lässt sich hierbei als der jeweils Prägende herausarbeiten? Damit sind nicht Produktionsbedingungen gemeint, sondern die den Text gestaltende und damit den Menschen bedingende Topik des Anthropologischen. Politische Philosophie(72) oder sozioökonomische Theorien müssen dabei grundsätzlich gleichermaßen berücksichtigt werden, wie Interpretationen und Analogien empirischer Naturbeobachtungen.

Die Rhetorik jedenfalls tritt offensichtlicher zutage. Alle drei Richtungen haben in ihrem Blick auf Ernährung die Lebensmittel als Heilmittel gesehen. Ernährung erhält daher einerseits den progressiven Aspekt von Heilung und den konservativen von Gesundheit. Die mittlerweile schon recht zahlreichen Kochbücher nach Prinzipien des Ayurveda oder der TCM - die europäische 4-Elementeküche fristet ein vollkommenes Schattendasein - scheinen dies um den hedonistischen Aspekt erweitern zu wollen. Doch ob der Genuss wirklich als wesentliches Kriterium, sozusagen als „Lehrgebot" zu finden ist, soll hier nur als weiterführende Fragestellung angeführt sein. Die Regimina-Sanitatis-Literatur des lateinischen Mittelalters jedenfalls scheint den Gesundheitsaspekt vorranging zu behandeln.(73) Dem guten Geschmack zuliebe das körperliche Gleichgewicht zu opfern, dürfte undenkbar gewesen sein. Differenzierter ist dies allerdings für die Kochbuchliteratur an sich zu betrachten. Der bekannte römische Koch Marcus Gaius Apicius (25 v. Chr.-42 n. Chr.) geht selbstverständlich von der Maximierung des Genusses aus, doch wird auch vermutlich er nicht ganz frei von diätetischen Vorstellungen sein. Am Beispiel von Platina (Bartolomeo Sacchi, 1421-1481) haben sich die Verbindungen von realer Ernährung und diätetischer Hintergrund ja deutlich gezeigt.(74) Im europäischen Kontext stehen genauere Forschungen zu dieser Verhältnisbestimmung in Mittelalter und Früher Neuzeit allerdings noch aus. Ob als Unterscheidungskriterium das literarische Genre triftig ist, ob also sich der Blick auf die Ernährung im Zusammenhang von (Proto-) Kochbuch oder Regimina-Sanitatis-Literatur prinzipiell abändert, müsste noch genauer untersucht werden. Vor vollständigen Analogieschlüssen, wonach elementale, humorale bzw. qualitätsdiätetische Vorstellungen die europäische Ernährung oder eben unter vergleichbaren medizinphilosophischen Prinzipien auch die chinesische und die indische bestimmt hätten, muss mit Sicherheit Abstand genommen werden. Die Transformation diätetischen Wissens in situativen Kontexten bleibt jedenfalls, nicht zuletzt auch für die Kochbuchforschung, auch weiterhin ein noch nicht näher verfolgter Forschungsansatz.

Eines soll die vorliegende Skizze einiger systemischer Vergleichsmöglichkeiten zwischen TEM, TCM bzw. Ayurveda in der Rückschau besonders kenntlich gemacht haben: Ernährung und Essen werden nicht primär hedonistisch ausgedeutet, sondern stehen immer in pharmakologischem Zusammenhang. Es geht um Gesundheit, nicht - zumindest nicht vordergründig - um Genuss. Bleibt als Aufgabe, beide Anliegen miteinander zu verbinden!

 

Literatur

Adamson, Melitta Weiss (1995): Medieval dietetics. Food and drink in Regimen Sanitatis literature from 800 to 1400. Frankfurt am Main .

Chopra, Deepak (2002): Grundlagen der Ayurveda Medizin, übers. v. Michael Larrass, Augsburg.

Eckart, Wolfgang U. (20096): Geschichte der Medizin, Heidelberg.

Engelhardt, Ute/Hempen, Carl-Hermann (20022): Chinesische Diätetik, München .

Etlinger, Brigit (2004): Geister, Gottheiten und andere Wesen : Diagnosemethoden im religiösen Kontext Orissas (Indien) unter besonderer Berücksichtigung ayurvedischer Nosologie, Univ. Dipl. Wien.

Frawley, David (1999): Das große Ayurveda-Heilungsbuch. Prinzipien und Praxis, übers. v. Gisela Kretzschmar, München.

Glick, Thomas (2005): Medieval science, tecnology, and medicine. An encyclopedia, NY.

Galenus (2000): Galen on food and diet, hg. v. Mark Grant, London.

Haindorf, Alexander (1811): Versuch einer Pathologie und Therapie der Geistes- und Gemüthskrankheiten, Heidelberg.

Heider de Jahnsen, Manuela (20093): Das große Handbuch der chinesischen Ernährungslehre. Eine Anleitung zur gesunden Lebensgestaltung, Oberstdorf.

Hüttinger, Michaela (1993): Ayurveda. Indische Traditionelle Medizin, Univ. Dipl. Wien.

Jacoby, Bengt (2002): Gesünder leben mit den fünf Elementen, Freiburg.

Lang, Marianne (2005): 5-Elemente-Ernährung. Schön werden mit Genuss, Stuttgart.

Langbein, Kurt/Bardehle, Peter (2007): Entdecker der Wellness : Gesundheitskünste im alten China, Indien und Rom, Wien.

Mehl, Volker/Raftery, Christina (2011): Koch dich glücklich mit Ayurveda, München.

Galenus (2003): On the properties of foodstuffs, hg. v. Owen Powell, Cambridge .

Hagenmeyer, Christa (1995): Das Regimen sanitatis Konrads von Eichstätt. Quellen - Texte - Wirkungsgeschichte. Stuttgart.

Reid, Daniel P. (1995): Chinesische Heilkunde. Naturheilmittel, Akupunktur, Bewegung und Ernährung, übers. v. Christiana Besel, Stuttgart.

Schrott, Ernst (2003): Ayurveda. Das Geheimnis Ihres Typs, München.

Sitaram, Sabnis, Nicky (20105): Das große Ayurveda-Kochbuch, Baden-München.

Sprengel, Kurt (18233): Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneykunde, Halle.

Svoboda, Robert/Lade, Arnie (2002): Ayurveda und Traditionelle Chinesische Medizin, übers. v. Thomas Dunkenberger, Bern .

Szednyi, Ilona/Neumayer, Beatrix (2005): Hunde-Kekse nach traditioneller chinesischer Medizin, Neukirchen/Großvenediger.

Temelie, Barbara/Trebuth, Beatrice (20102): Das Fünf-Elemente-Kochbuch. Die praktische Umsetzung der chinesischen Ernährungslehre für die westliche Küche, Oy-Mittelberg.

Unschuld, Paul (20032): Chinesische Medizin, München. (Beck'sche Reihe 2056. C.-H.-Beck-Wissen).

Diaetetiken_Vergleich (127k)

Quellen, Anmerkungen

  1. Zückert, Johann Friedrich: Allgemeine Abhandlung von den Nahrungsmitteln, Berlin 1775, 41.  
  2. Jacoby, 2002, 11.  
  3. Anm.: In den gängigen Handbüchern existiert dieser Begriff nicht (Eckart, 2009; Bruchhausen/Schott, 2008), sondern wird aufgeteilt in antike und mittelalterliche Medizin, Medizin der Renaissance, etc. Da jedoch die medizinischen Grundvorstellungen im Bereich der Diätetik weitgehend in die Neuzeit tradiert wurden, soll in diesem Beitrag ein einheitlicher Kunstbegriff der TEM verwendet werden.  
  4. Dazu der zwischen TCM und Ayurveda vergleichende kursorische Überblick bei Svoboda/Lade, 2002, 182f.  
  5. Dazu etwa Sitaram Sabis, 2010; Temelie/Trebuth, 2010; oder ausgefallener: Szednyi, 2005.  
  6. Lang, 2005.  
  7. Dazu im Überblick Eckart, 2009, 26-28.  
  8. Dazu Eckart, 2009, Kap. 6.  
  9. Vgl.: Engelhardt/Hempen, 2002, 1f.  
  10. Vgl.: Unschuld, 1997, 86-98.  
  11. Vgl.: Hüttinger, 1993, 6-8; Etlinger 2004, 8-10.  
  12. Dazu Jacoby, 2002, 41.  
  13. Dazu etwa die Beispiele von Hirsch und Naderlinger-Madella in dieser Ausgabe.  
  14. Vgl.: Adamson, in: Glick, 2005, 438f.  
  15. Bzw. es findet sich auch die Nennung von „Fünf Substanzen", vgl.: Svoboda/Lade, 2002, 32.  
  16. Vgl.: Heider de Jahnsen, 2009, 36-40; Wolkenstein/Rubi-Klein, 2010, 60f.  
  17. Vgl.: Jacoby, 2002, 17f.  
  18. Vgl.: Powell, 2003, 9. Die vorschnelle Analogie von Qi und pneuma bei Wolkenstein/Rubi-Klein, 2010, 62 bleibt unbelegt.  
  19. Vgl.: Frawley, 1999. 25, 41.  
  20. Bei Frawley, 1999, 177-187 bleibt die energetische Argumentation sehr ungenau, bei Schrott, 2003 tritt sie überhaupt nicht separat auf. Eher damit in Verbindung zu bringen ist Chopra, 2002, Kap. II.  
  21. Chopra, 2002, 15f.  
  22. Vgl.: Heider de Jahnsen, 2009, 33-35.  
  23. Vgl.: Svoboda/Lade, 2002, 22-26.  
  24. Vgl.: Eckart, 2009, 45.  
  25. Vgl.: Craig, in: Glick, 2005, 157f.  
  26. Vgl.: Die Natur des Menschen, in: Hippokrates: Ausgewählte Schriften, 199-209.  
  27. Ein Beispiel kann etwa Ortolfs Naturbegriff sein. Dazu der Aufsatz von Hirsch in dieser Ausgabe.  
  28. Vgl.: Schrott, 2003, 16f.  
  29. Vgl.: Etlinger, 2004, 14-26.  
  30. Vgl.: Svoboda/Lade, 2002, 81-84.  
  31. TCM und Ayurveda vergleichend bei Svoboda/Lade, 2002, 149-158.  
  32. Als Beispiel dazu Haindorf, 1811, Einleitung, §43-53.  
  33. Vgl.: Eckart, 2009, 45f.  
  34. Dazu im Überblick und unter ethischen Gesichtspunkten Bruchhausen/Schott, 2008, 30-34.  
  35. Im vergleichenden Überblick bei Svoboda/Lade, 2002, 85-110.  
  36. Vgl.: Frawley, 1999, 59f.  
  37. Dazu vgl. Sitaram Sabnis, 2010, 14f; Mehl/Raftery, 2011, 26-28.  
  38. Sehr ausführlich bei Schrott, 2003, Kap. 2 und 3; Svoboda/Lade, 2002, 109f.  
  39. Vgl.: Frawley, 1999, S. 39.  
  40. Heider de Jahnsen, 2009, 145-274.  
  41. Vgl.: Jacoby, 2002.  
  42. Vgl.: Reid, 1995, 40.  
  43. Vgl.: Heider de Jahnsen, 2009, 150-153.  
  44. Dazu die zahlreichen chronologisch sortierten Regimina-Beispiele bei Schmitt, 1973.  
  45. Vgl.: Wolkenstein/Rubi-Klein, 2010, 70f.  
  46. Vgl.: Frawley, 1999, 192f.  
  47. Im Überblick gut dargestellt bei Engelhardt/Hempen, 2002, 407-409.  
  48. Vgl.: Heider de Jahnsen, 2009, 74f.  
  49. Ausführlich bei Heider de Jahnsen, 2009, 96-120.  
  50. Vgl.: Heider de Jahnsen, 2009, 108.  
  51. Vgl.: Heider de Jahnsen, 2009, 121-126.  
  52. Dazu die Editionen der galenischen Schrift De alimentorum facultatibus bei Grant, 2000; Powell, 2003.  
  53. Genaue Forschungen zu den Transformationsprozessen stehen allerdings noch aus. Einige Hinweise bei Sprengel, 1800, 385-388.  
  54. Dazu etwa die Beispiele Konrads von Eichstätt bei Hagenmeyer, 1995, Kap. 3; bzw. als neuzeitliches Beispiel kann Platina gelten. Dazu siehe die Verweise im Beitrag von Naderlinger-Madella.  
  55. Vgl.: Hagenmeyer, 1995, 105.  
  56. Vgl.: Hagenmeyer, 1995, 109.  
  57. Vgl.: Hagenmeyer, 1995, 106.  
  58. Anm.: Die wenigen vergleichenden Studien haben den Geschmacksaspekt nie betont. Dazu vgl.: Adamson, 1995.  
  59. Ausführlich bei Frawley, 1999, 41-49.  
  60. Vgl.: Sitaram Sabnis, 2010, 20f.  
  61. Dazu etwa die Beispiele und Vorschläge bei Engelhardt/Hempen, 2002, 408f bzw. 410 f.  
  62. Vgl.: Langbein/Bardehle, 2004, 102-105.  
  63. Frawley, 1999, 188.  
  64. Sitaram Sabnis, 2010, 30.  
  65. Heider de Jahnsen, 2009, 97.  
  66. Chopra: Grundlagen, 360.  
  67. Etlinger, 2004, 13.  
  68. Jacoby, 2002, 27.  
  69. Chopra, 2002, 10.  
  70. Vgl.: Svoboda/Lade, 2002, 182.  
  71. Dazu im Überblick Unschuld, 2003, Kap. II.  
  72. Dazu Heider de Jahnsen, 2009, 132-138. Hier wird die Übertragung des politischen Bildes (Feudalismus) auf den Körper deutlich.  
  73. Schmitt, 1973, 175.  
  74. Hierzu der Aufsatz von Naderlinger-Madella in dieser Ausgabe.