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Die Welt schmeckt halt nach was

Leon JOSKOWITZ.   

Wenn ich an guten Geschmack denke, steigen Bilder von Blaubeer-Eiscreme und geratenen Lammkeulen in mir auf.

 

Ich erinnere mich an dunkelblau aufplatzende Feigen an der portugiesischen Atlantikküste, Mangos im brasilianischen Urwald und gedämpfte Dumplings irgendwo in China. Gibt es da Gemeinsamkeiten? Wieso sind mir gerade diese Dinge in Erinnerung geblieben, wieso weiß ich noch, wo und mit wem ich sie verzehrt habe, ob es regnete oder die Sonne schien? Suche ich weiter und tiefer in meinen Geschmackserinnerungen, schmeckt es nach Hustensaft und Kinder Em-eukal. Es tauchen Bilder von kleinen Nutella-Päckchen auf, die ich vom Frühstücksbuffet stibitze, um sie heimlich auszuschlecken. Dumm nur, dass ich noch kein ökologisches Bewusstsein hatte und die Spur der achtlos fallen gelassenen Plastikschälchen direkt zu mir und meinem Nutella-Nirvana führte. Ich habe immer noch den Duft der geschmolzenen Zwiebeln in der Nase, die meine Großmutter für ihre Rühreier sautierte, und ihren süßen Geschmack im Mund. Weiter geht es nicht. Die Rühreier und die süßen Zwiebeln sind meine ältesten Erinnerungen.

Wenn ich so drüber nachdenke, finde ich es schade, dass ich weder eine Erinnerung an die Muttermilch noch an das Trinken aus der Nabelschnur habe. Die Biologie lehrt mich, dass ich meinen kleinen Embryoleib aus meiner Mutter in meinen Magen gesaugt habe, und es leuchtet ein, dass ich mich an keinen Geschmack im Mutterleib erinnern kann. Mein Mund und meine Geschmackssensoren waren ja noch nicht aktiviert. Doch seit meiner Geburt habe ich alles, jedes noch so kleine Stück meines Leibes irgendwo abgebissen, geschmeckt, gekaut und geschluckt. Die ersten Monate habe ich nur Milch getrunken. Es muss unheimlich eintönig gewesen sein diese süßlich-fette Milch zu süffeln, keine Zähne, keine Konsistenzen, immer das Gleiche. Doch nicht nur mir ging es so, alle Menschen, Affen, Hunde, Katzen, Wale und Bären waren mal Säuglinge und haben ihr Leben als saugende Wesen begonnen. Uns alle verbindet der Geschmack von Milch. Die süße, cremige und warme Flüssigkeit saugt der Säugling in gierigen Schlucken aus der Mutterbrust in seinen Mund. Wir haben es nie zuvor getan und können doch instinktiv mit dem Saugen beginnen.

Der erste Schluck Muttermilch ist der Anfang der gustatorischen Beziehung zwischen Mund und Welt. Sie setzt nach der Geburt ein und endet erst mit dem Tod. Davor und danach schmeckt nichts. Nur die Welt schmeckt nach etwas. Frei nach Epikur lässt sich feststellen: Solange wir schmecken, leben wir, fehlt der Geschmack, ist das Leben vorbei. Oder frei nach Wittgenstein: Nicht, wie die Welt schmeckt, sondern dass sie nach etwas schmeckt, ist das Mysterium des Lebens. Alles was davor war und danach sein wird, hat keinen Geschmack. Das Leben schmeckt halt nach was. Der Geschmack ist die Reaktion des Leibes auf die Dinge, die in den Mund gelangen. Der Geschmack ist unsere erste Beziehung zur Welt. Der Mund ist das Tor zum Leib, durch das alles hindurchmuss. Und der Geschmack ist der letzte Prüfstein. Geschmack ist Urteilskraft. Nur wer schmecken kann, kann leben. Ein Wesen ohne Geschmack vergiftet sich eher früher als später. Man muss schmecken können, um gustatorische Urteile zu fällen und zu entscheiden, was geschluckt und was hinaus in die Welt gespuckt wird.

Die Milch ist die positive Folie für Geschmäcker, die ungiftige Nährstoffe, Zucker, Kohlenhydrate, Fette und cremiges Eiweiß signalisieren. (Irgendwann kommt noch das Salz als essenzieller Faktor hinzu.) That´s it. Ihr entgegen steht das Gallige und Bittere von Erbrochenem, von Speisen, die schon von den sauren Magensäften zersetzt wurden, und der Gestank von Kot und Verwesung. Wenn Milch die Urspeise aller Säugetiere ist, wenn sie die Speise ist, die alle Säugetiere lieben müssen, um zu leben, dann müssten sich die Memorabilien meiner Geschmackssensationen als Wiederholungen gewisser gustatorischer Elemente von Muttermilch aufschlüsseln.

Die süßen Zwiebeln, der süße Hustensaft, ebenso die Kinderbonbons, Nutella, Mango, Feige und Blaubeereiscreme fallen alle ins süße Schema. Die Rühreier, das Eis und die Lammkeule haben das leckere und cremige Fett und Eiweiß in sich. Nur wo die gedämpften Dumplings hingehören, ist nicht ganz klar. Vielleicht schmeckt die Milch in China auch anders.

 

Leon_JOSKOWITZ (148k)

Die Welt schmeckt halt nach was