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Der Hedonist – Ein Gourmet?

DÄHNHARD Wolfgang.   

(1)Die Wahrnehmung chemischer Signale ist mit einer ausgeprägten hedonistischen Komponente verknüpft. Es ist praktisch unmöglich, einen Geschmack oder Geruch nicht danach zu beurteilen, ob er angenehm oder unangenehm ist. Gerüche machen es möglich, Orte zu identifizieren. Gerüche sind auch Mittel der sozialen Identifikation. Geruch und Wahrnehmung werden im Wesentlichen geprägt durch hedonistische, aber auch sensitive Prozesse. In meiner Jugend war ich Torwart beim Fußball. Nicht unweit von der Wohnung gab es eine große Wiese, auf der ich und meine Kameraden oft spielten, in allen Jahreszeiten. Ein Torwart macht oft den Kontakt mit der Erde. Wenn ich dann so dalag - mit oder ohne Ball - roch ich die Erde, die Wiesenblumen im Sommer, den frischen Tau im Herbst und im Winter den Frost. Wir spielten damals noch mit einem ledernen, handgenähten Ball, der regelmäßig eingefettet werden musste. Heute noch, wenn ich meine Schuhe einfette, steigen in mir Erinnerungen an damals immer wieder hoch. Umgekehrt funktioniert das Gleiche: wenn ich einem Fußballspiel beiwohne, sind mir die Gerüche gegenwärtig, die real gar nicht vorhanden sind, wenn etwa beide Teams auf einem Kunstrasen spielen. Oder ich sitze an einem heißen Sommertag im Park, schließe die Augen und denk an die Wintertage in den Tiroler Alpen und gleichzeitig durchströmt eine Erfrischung durch meinen Körper hindurch, wie das Labsal von frischem Gebirgswasser. Sehen Sie, und ich mag keine Schweinsfilets, auch keine Berner Würstel. Sehr überschätzt finde ich den Rindslungenbraten. Und was die Leute an einem Tafelspitz finden, ist mir auch ein Rätsel. Und vom Kalbswiener will ich erst gar nicht reden. Am Ende sind wir ästhetische Tiere. Im Mittelalter aßen die Adeligen nur die Innereien und warfen den Rest weg. Das ist alles eine Frage der Mode. Und eines des Überfluss. Dekadenz. Ja, wir im Westen waren schon immer dekadent, auch wenn die Scheibe Brot ohne Butter und Salami gegessen wird, denn Letztere bekommt Strolchi. Natürlich kreischen die Frauen, wenn man ihnen Hahnenkämme serviert, dabei schmecken die doch wirklich sehr, sehr gut.

„Denken ist wundervoll, aber noch wundervoller ist das Erlebnis." (Oscar Wilde)

Kinder verlassen sich beim Erfassen ihrer Umwelt entweder aufs Sehen oder aufs Fühlen, nicht jedoch auf beides zusammen gleich. Erst ab einem Alter von etwa acht Jahren vermögen sie die Eindrücke verschiedener Sinne, wie Sehen, Tasten, Hören, Riechen und Schmecken, gleichzeitig zur Bewertung von Situationen heranzuziehen. Man teilt das Nervensystem ein in ein somatisches, ein animales, das die Beziehungen des Organismus zu seiner Umwelt regelt - das sogenannte Außenwelt-Nervensystem - und ein vegetatives, das sich nur um den Organismus selbst, seine Eingeweide kümmert, das Innenwelt-Nervensystem. Es gibt afferente Axone, die Empfindungen aus den Eingeweiden, aus Haut und Bewegungsapparat und aus den großen Sinnesorganen speziell bei Auge und Ohr, wie bei Geschmack und Geruch ans Zentralnervensystem leiten. Schauen Sie, welch ein schönes Wetter, der späte Morgen, die Erinnerung an den gestrigen frühen Abend! Nichts, so klagte einst Opa, ist so begehrt wie das Leben und nichts so unzuverlässig. Einmal begonnen, endet es bereits, es hätte besser gar nicht erst beginnen sollen. Der Mensch ist das beste Negativbeispiel für seine eigene Kritikfähigkeit. Was bringt eine gute Selbstpräsentation, wenn die Empfängerseite zu dumm ist, diese zu verstehen oder zu werten? Blitzt hier, hinter einer zynischen Maske, der zu Recht empörte Moralist auf? Mag sein. Es droht die innere Emigration. Die mühselig durch vielfache Erfahrungen gewonnene Einsicht, die der Mensch erst so spät erlangt, dass er sie kaum noch zu nutzen vermag. Unter Raubtieren aufgewachsen, besitzt er die Sprache nicht, so auch kein Wissen von sich und seiner Herkunft, das bittere Los der Sterblichen, den Schrecken, aber auch die Früchte des Alters, indem sie nach und nach gelernt, das Buch der Welt zu entziffern. Was ist, bedarf des Scheins, um wahrgenommen zu werden, was sich verbirgt, vermag nicht zu wirken. Man muss mehr wissen, um zu bestehen, als vormals. Die Geste ist der Inhalt. Tradierte Legenden und literarische Behandlung führen zu einem unterschiedlichen Ergebnis. Im Kontext der Quantenphysik neu beleuchtete These: dass das Bewusstsein, wenn es einen Zustand erreicht, in dem die Wirklichkeit noch nicht Gestalt annahm, die physische Realität beeinflussen kann.

Allein die Tatsache, einen Holzofen und einen Robata-Feuergrill nach japanischem Vorbild überhaupt genehmigt zu bekommen, zeugt von bemerkenswerter Zielstrebigkeit. Der griechische Philosoph Aristippos von Kyrene begründete bereits im fünften Jahrhundert v. Chr. die Denkschule des Hedonismus. Sie geht von der Einsicht aus, dass alle Lebewesen - Menschen und Tiere - Schmerz vermeiden und nach Lust und Freude streben. Ja sicher habe ich ihr gesagt, dass ich sie liebe. Aber das war auf Französisch. Das subjektive Beschreiben von Gerichten ist eine Unart, die den Leser dazu zwingt, beim Anschauen derselbigen im Restaurant nur noch das Wie und nicht mehr das Ob zu genießen. Der Blick eines Hedonisten sieht von seiner Warte aus: sein Schreiben motiviert sich aus dem Blick im Spiegel seiner Eitelkeit, nicht des Lesers. Die Feinheiten beginnen mit den obligatorischen Brötchen, die gerne vor dem Essen gereicht werden. Merke: Man schneidet sie nicht, sondern bricht sie. Das kleine Messer benutzt man nur für den Brotaufstrich.

Die zunehmende Vielfalt des Kochens wie der Nahrungsaufnahme in der heutigen Gesellschaft erscheint mit Entwicklungen anderer gesellschaftlicher Teilbereiche vergleichbar, die mit Begriffen wie Offenheit und Lockerung der Sitten belegt sind. Bei der Frage nach den Hintergründen dieser Expansion und des Prozesses an Vielfalt der Küchenkultur sollte parallel zu den Veränderungen der gesamtgesellschaftlichen Tendenzen, wie Individualisierung oder Erlebnisorientierung, auch der allgemeine gesellschaftliche Wertewandel Berücksichtigung finden. Sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Veränderungen der Küchenlandschaft stehen diesbezüglich in einem engen Zusammenhang, der sich vor allem über die veränderte Bedeutung der Freizeit im individuellen Alltag manifestiert. Neben einer Expansion der zur Verfügung stehenden freien Zeit, Umgestaltungen im Arbeitsleben, allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen und Haushaltsformen muss vor allem die Freisetzung konventioneller Werte wie Disziplin, Leistung, Anpassung und Gehorsam berücksichtigt werden, was ja zur Zeit wieder heftig diskutiert wird. Werte kritisch-autonomer Verhaltensweisen wie „Zurück zur Natur" oder Hilfsbereitbereitschaft, hedonistische Werte wie Lebensgenuss, Abenteuer, Spannung und Abwechslung sowie egozentrische Werte, wie Ungebundensein und Eigenständigkeit, gewinnen besonders im Bereich der Freizeit essenziell an Bedeutung. Der kontinuierlich zu verzeichnende Zuwachs an arbeitsfreier Zeit ist zwar angesichts längerer Wegstrecken und veränderter Mobilitätsansprüche zu relativieren, unstrittig bleibt aber, dass sich die Erscheinungsformen und die Bedeutung der Freizeit maßgeblich modifizierten. Während die Freizeit früher als eine von der Arbeit abhängige Zeit im Sinne der Erholung und Abschaltung erfasst wurde, werden ihr heute zunehmend eigene Wertstrukturen zugesprochen.

Freizeit im Allgemeinen, aber auch speziell das Kochen oder Restaurantbesuche in freizeitsportlichen Zusammenhängen schaffen heute Räume für Individualität und dienen über die Erholung hinaus der Suche nach Erlebnissen und Anregung. Wesentliches über Genuss auszusagen, zeigt sich gegenwärtig in Bereich der wirklichen und vermeintlichen Kenner, die in ihrer Symbolik, Ästhetik, Rollenausprägung und institutioneller Anbindung durch ein hohes Maß an Differenzierung und Pluralisierung geprägt sind. Im Mittelpunkt dieses Prozesses steht die Vielfalt des aktuellen Verständnisses und schlägt sich in den unterschiedlichen Sinnorientierungen nieder und charakterisiert die Bandbreite der gegenwärtigen Freizeit. Nur: Die meisten wissen mit dieser Zeit wenig anzufangen, die Unterhaltungs- und Genussmittelindustrie schon. Von einer einhelligen und deutlichen Begriffsbestimmung des Freizeitverhaltens Essen sowie von einer Abgrenzung zur notwendigen Alltagskultur - wie wenig freie Zeit - kann innerhalb der Öffentlichkeit und außerhalb wie bei den Medien nicht die Rede sein; zu vielfältig sind die Angebote und die ständig wechselnden Moden, die in der Regel periodisch immer wiederkehren. Letzteres lässt die Aussage zu, dass genetisch-gesellschaftliche Bedingungen nur bestimmte Rituale zulassen, worin der Einzelne sich auskennt und dadurch Sicherheit empfindet. Mein Nachbar führt schon drei Diäten durch, da er von einer nicht satt wird; sagt er. Ja, es war schon immer teurer, fünf Zigaretten auf einmal zu rauchen.

Spielerischer Umgang mit Lebensmitteln als homo ludens - bei Kindern exzessiver feststellbar - und leistungsbezogene Schaukämpfe, wie Kochwettbewerbe, finden sich in allen Kulturen und historischen Epochen der menschlichen Entwicklung wieder und können zu den quasi anthropologischen Konstanten in der menschlichen Entwicklung gezählt werden. Da der Mensch zu Selbstbetrug und zur Selbsttäuschung neigt, schafft jede Generation ihren Selbstbetrug. Davon profitiert immerhin die Freizeit- und Kosmetikindustrie. Der deutlichste Indikator ist die Wandlung des Schönheitsideals. Nein, diese Frucht kenne ich nicht. Die Begegnung mit neuen Aromen und das Kreieren von Akkorden, Kombinationen gehört zu den faszinierenden Erlebnissen der Gourmandise. Nicht nur handwerkliche Qualität versetzt uns in den Zustand der reinen Degustation, sondern auch der Magnetismus der neuen Idee, des Ungewohnten, jener Hauch von Entdeckung und Weltneuigkeit, der in den nächsten Sekunden die über den Sauteusen, den Töpfen und Pfannen wie dem Teller kreisenden Gedanken erden wird. Und bindet uns an eine Wirklichkeit wie die Schwerkraft an die Erde. Sie haben noch einen Termin, nein, sogar zwei? Nein, heute nicht mehr. Zeit, was ist schon Zeit? In einer Gesellschaft ohne Zeit wird Zeit oft als eine feste und knappe Ressource betrachtet. Übergeordnete Ziele wie Lebensplanung, Essen und Trinken befriedigen unterschiedliche Bedürfnisse gleichzeitig, weil sie niemals nur der biologischen Bilanzierung dienen, sondern immer auch ein Element kultivierter Individualität und Gemeinsamkeit darstellen. Umgekehrt gibt es ohne Zeit-Räume keine esskulturellen Strukturen, können sich keine kulturellen Muster entwickeln. Jedes Nahrungsmittel trägt eine natürliche Zeit in sich, die bei bestimmten Prozessen berücksichtigt werden muss, wie etwa Garzeiten. Nahrungsmittel werden mit Tageszeiten verbunden wie der jetzigen. Schön zu sehen, dass unsere Küche noch immer existiert! Dennoch ... Innereien wie Hirn, Nieren interessierten mich früher nie! Aber zum Schweinsbratenessen werd ich wohl mal vorbeischaun ...

Ich bin gekommen, um laut zu leben ... sagte Emile Zola einmal.

Ich: um leise zu genießen. Ist etwa „Rülps" ein Trend? Sonst, mit der Mode, bin ich bei Ihnen. Aber nur nicht um derer selbst willen, oder? Und: Aussagen über Trends kann ich, wenn überhaupt, nur machen, wenn ich Ahnung habe, nicht nur, was mir persönlich schmeckt, sondern warum, warum nicht, und was könnte sich etwa in fünf, in zehn Jahren entwickeln. Und da ist ein hedonistischer Gaumen schlichtweg überfordert, da es ihn auch nicht interessiert. Seine fernöstliche Weisheit aus St. Pölten: Ich will nicht mehr die Ansprüche anderer erfüllen, sondern nur noch meine eigenen. Denken Sie an Oscar Wilde: Ich habe einen einfachen Geschmack: ich nehme nur vom Besten das Beste! Der Hedonist hinterfragt nicht das Sein der Dinge, sondern liebt nur seine Erscheinungen, das Äußere. Vorbei die Zeiten, als das Denken noch half. Viele Gerichte verselbständigten sich und hängen nur noch an mehr oder weniger klingenden Bezeichnungen. Die Speisekarten strotzen vor Unordnung. Sprachirrung und -verwirrung und, denken Sie hierbei an den inflationären Umgang mit der Bezeichnung „Carpaccio".

Der Eintritt in die Hauben- oder Sternebewertung, Stoffserviette und andere mitunter unnötige Begleiterscheinungen überhöhten Anspruches, ist der Beginn von Umwälzungen. Von welchen? Der Einstieg in diese Bewertungskategorien bringt einen nicht unwesentlichen Preisanstieg für den Gast mit sich. Die bis dahin toll eingespielte Servicebrigade wird vergrößert und ist der Meinung, auf einmal Diener sein zu müssen. Plötzlich steigen die Weinpreise, glasweise. Der Ausschank wird auf ein Niveau gebracht, dass an der Sieben-Euro-Marke kratzt. Die Schrift auf der Tageskarte wird noch verschnörkelter, die Menüs mit Weinbegleitung für Angeber und Möchtegerns gestylt. Wenn die Leute übermütig werden, dann futtern‘s Froschschenkel auf Honigparfait oder getrüffelte Papageienfersen, Lerche und Eule. Kein Metzger im Bett ... Bei Gustave Flaubert deuten die feingliedrigen Hände und Nägel der Madame Bovary ihre allgemeine Zerbrechlichkeit an. In einer Ausstellung der britischen Künstlerin Sam Taylor-Wood ist ein Film zu sehen, der auf zwei gegenüberliegende Wände projiziert wird: In einem Lokal unterhält sich ein Paar. Auf der einen Seite wird das Gesicht der Frau gezeigt, auf der anderen die Hände ihres männlichen Gegenübers. Die beiden sind in eine heftige Diskussion verwickelt. Die Frau fragt, weint, droht, streitet. Die Hände des Mannes rücken zurecht, zeigen auf, beruhigen und wischen vom Tisch. Die Sprache der Verführung lebt von Andeutungen, dem Spiel von Lockung, Rückzug und erneuter Lockung und von kreativer Fantasie. Am Ziel der Reise trifft Fausto auf Sara ... Bonjour tristesse. Frisch, frech und unkompliziert. Geschaffen aus einer neuen, ungezähmten Lust am Leben. Vom Umtausch ausgeschlossen. Die Individualisierung der Nahrung, die Austauschbarkeit wird wohl die nächste Etappe in der Entwicklung der Ernährung sein, da der Boulevard schon längst keine gesellschaftliche Struktur mehr aufweist.

Die Portionen sind Ihnen zu üppig ...? Wie wäre es mit gefüllter Ameisenkeule am Reiskorn? Geschmackswahrnehmung wird durch olfaktorische und sensible Reize beeinflusst. Viele Pharmaka vermindern oder verändern die Geschmacksempfindung, wie auch Alkohol und Nikotin. Bei Rauchern ist die nasal-trigeminale Sensibilität vermindert, wohingegen die olfaktorische Sensibilität unbeeinflusst ist. Die hedonistische Bewertung trigeminaler Reize ist ambivalent, einerseits positiv besetzt wie bei Senf, Kren, Menthol, Kohlensäure, Alkohol, Zwiebel ... andererseits sehr negativ, wie bei Ammoniak oder Rauch. Das oral-trigeminale System ist weniger untersucht als das nasal-trigeminale. Nervenenden befinden sich im ganzen Mundraum, inklusive Pilzpapillen. Die reflektorische Aktivität beschränkt sich auf die Vermehrung des Speichelflusses. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das oral-trigeminale System einen Beitrag zur gustatorischen Empfindung leistet. Oral-trigeminale Stimulationen halten einige Zeit nach der Stimulation noch an. Temperaturillusionen sind Wärme- und Kälteempfindungen, die durch chemische Reize ausgelöst werden, abgeschwächt auch im nasal-trigeminalen System vorhanden. Bei häufiger Reizung kommt es zu einer Sensibilitätsabnahme, auch bei Pfeffer, scharfen Gewürzen. Lern- und Konditionierprozesse sind vermutlich verantwortlich für die Präferenz für Letztere. Zum Beispiel mit einem Eintopf von Jakobsmuscheln und Fish Maw - das sind die getrockneten Schwimmblasen von weiblichen Fischen, eine Art Fischkutteln. Ein Konzept, das radikal die Regeln der traditionellen französischen Küche ignoriert und gedanklich zu neuen Ufern aufbricht, die eher in fernöstlichen Garküchen zu suchen sind. Eine vitalisierende, energetisierende Küche wollte der aus dem Dritten auftischen und dabei auf überkommenen Ballast wie den obligatorischen Brotkorb oder Sättigungsbeilagen wie Reis, Nudeln und Kartoffeln verzichten. Auch Milchprodukte finden sich kaum. Dafür Fisch, Meeresfrüchte, Fleisch und viele Gemüse und Kräuter.

Die Entdeckung, für die 2004 der Nobelpreis für Medizin verliehen wurde, zeigt zwar grundsätzlich, wie der Geruchssinn funktioniert, einige Zusammenhänge lassen sich damit aber nicht erklären. Dazu gehört beispielsweise die Frage, warum einige Menschen extrem empfindliche Nasen ihr Eigen nennen dürfen und andere nicht. Aber? Na und? Man reagiert 2009 jedenfalls auf das alles nicht so wütend, sondern konsumiert in einer Vielfalt, wie man das dem Faktor Essen noch vor - sagen wir - 30 Jahren nie auch nur im Entferntesten zugetraut hätte. Selbst Ornament-Zellen wie die Küche eines Ferran Adrià erschöpfen sich irgendwann und gestalten dennoch, trotz steter und bald penetranter Verwendung, etwas anderes, Neues, Übergeordnetes. Und von der Minimal Cuisine als einer sich selbst auch wiederum aufhebenden Parodie auf so etwas wie Ornament auf dem Teller und Verbrechen an dem Gast zu schließen? Eine wirklich aktuelle und notwendige, erwartete und doch nicht formulierte, frische Philosophie der Neuen Küche wäre zunächst eine über den neuen Wert, den Mehrwert des Ornamentalen zuungunsten jeglicher sonstiger breiter angelegter oder überhaupt interessierender Reflexionsmöglichkeiten. Vis-à vis-aber, hier, aus der Küche mit Ambiente, winken als lieber Schmuck die gewohnt gewordenen und sicher zum Beruhigen hingehängten kupfernen Kasserollen. Es sieht aus wie im Wettbewerbskatalog für eine Kochshow auf Kanal sieben. Und draußen rennen Kritiker und viele, die es noch sein wollen, vorbei. Lauter Mörderinnen und Mörder? Meine Ausdrucksweise ist drastisch, da das Leben um mich herum drastisch ist. Mit Ausnahme von Ihnen. Jede, jeder ist davon ausgenommen, der mit mir zusammen genießen kann. In beiden Fällen vergessen die Gäste die Technik. Macht schon viel, ganz allein nur auf Knopfdruck, und ist schon sehr viel weiter als um 1800, als man zu dinieren begann. Sonst? Im Gegensatz zu den erzindividualistischen Hedonisten von heute bin ich der Ansicht, dass nur eine verbindliche Kultur den Einzelnen zur periodischen Überschreitung seiner Genusshemmung bewegen kann. Es ist noch nicht lange her, da verlangte der Boulevard geradezu, dass man aus sich „herausging": Zum Rauchen spazierte man ins Raucherzimmer, zum Trinken in die Kneipe oder an die Bar - je nach sozialer Herkunft zum Singen in die Kirche oder auf den Fußballplatz.

Sie sind sehr leichtgläubig! Ein Kellner sagt etwas und Sie akzeptieren es! Sind Sie irr? Der Geschmack ist entsprechend: Zwischen schwammiger Semmel und nach Friteuse riechender, aufgeweichter Panade bleibt von der Idee des Schnitzels nur der Name übrig. Wenn das Alter nicht mehr zu kaschieren ist, gibt es die elegante Duftkomposition, die genauso gut zum Businesskostüm passt wie zum kleinen Schwarzen. Am besten noch vorher als Odaliske ins Odeon gehen, fahren, um sich vor den Öden zu schützen und der Tatsache wegen, dass trockene Haut die aromatischen Substanzen nicht so gut speichert und dass einem nicht öd wird in seiner seelischen Einöde. Im Roman ist Grenouille ein machtbesessener Menschenverachter, im Film dagegen wird er als ein blasierter, trauriger Mephisto porträtiert, der durch das perfekte Parfum jene Aufmerksamkeit, Nähe und Liebe finden will, die ihm zeitlebens verwehrt wurde. Was in einigen kurzen träumerischen Sequenzen, die direkt aus dem Kopf Grenouilles zu stammen scheinen, unterstrichen wird. Dass Gerüche längst verloren Geglaubtes mit Wucht in den Garten Eden zurückbringen können, dass uns der künstliche Duft eines Parfums der Welt nicht gleichgültig ist, sind vielleicht nicht mehr als Gemeinplätze - geteiltes Erfahrungswissen, das denn auch längst Eingang in unsere Sprache fand. Wie ohnehin sie dem Geruch durchaus den Raum einräumte, der ihm als einem der aufdringlichsten der menschlichen Sinne zusteht. Einzig im aseptischen Leben des Intellektuellen oder Politikers scheint nichts zu gelten als Augenmaß und reine Vernunft. „Frauen benützen Parfum, weil die Nase des Mannes leichter zu verführen ist als sein Auge." (Jeanne Moreau) Liebe ist kein Gefühl, keine Emotion, sondern ein symbolischer Code. Studien bestätigen, dass Frauen mehr Wert auf Düfte legen als Männer. Durch die höhere Östrogenmenge besitzen Frauen außerdem ohnehin einen besseren Riecher: Das Hormon aktiviert die Geruchsrezeptoren.

Wo sind die Zeiten, als ein Importeur den alten Imperial-Zug mietete, Freunde, Kunden, Journalisten einlud, ins Burgund zu fahren, um rechtzeitig den Beaujolais Nouveau abzuholen? Welch eine Fahrt, nein, ein rauschendes Fest bei Champagner, Live-Klaviermusik ... Solch schöne Schlafkabinen, und doch keine Minute geschlafen ... Ja, Erinnerungen ... Nein, keine Wehmut, nur Erinnerung. Ja, dieses Gericht ist ein gutes Beispiel. Wofür? Man schmeckt nicht die Speisen an sich, sondern eine zeitgenössische Interpretation durch heutige Köche. Daher lehne ich den Begriff „authentisch" ab.

„Es gab eine große Bereitschaft zur Selbstanalyse. Dasselbe gilt für Gerüche. Der Geruchssinn erschüttert das Seelenleben tiefer als das Gehör oder das Tasten. Man möchte sein Ich riechen und es den anderen zu riechen geben." (Alain Corbin)

Viele gebrauchen ihr Gehirn wie eine Stablampe ohne Batterien; andere hingegen wie eine funktionierende Taschenlampe am hellichten Tag. Wie im Alltag, im Beruf, im Studium ... das Banale, das Einfache wirkt, das Ursprüngliche setzt sich immer wieder durch, letztendlich, trotz aller biologischen Leistungen der Gehirnevolution. Das individuelle Leben ist ebenso obligater Wettbewerb, wie die Evolution als Ganzes obligater Wettbewerb ist. Menschen leben in eine Art hedonistischer Tretmühle, immer angetrieben durch Aussicht auf kurzfristige Belohnung, ohne Aussicht allerdings auf einen finalen Höhepunkt.

Eigentlich wollte der Geist der Aufklärung einst zweierlei: erstens eine notwendige Schärfe der öffentlichen Auseinandersetzung, die unweigerlich zur Sortierung führt, zur nicht bloß unterhaltsamen, sondern Erkenntnis fördernden Ungerechtigkeit der Zuordnung von Menschen und Phänomenen zu allgemeineren Kategorien. Zweitens aber auch den menschenfreundlichen Respekt vor den Eigenheiten des Individuums, der gewissermaßen die Basis jener Kritik bildet. Die einen setzen sich eine historisch nicht mehr existente Krone auf, die anderen nähern sich den Lebensgewohnheiten und Denkweisen im Substandard und träumen gleichzeitig von japanischen Keramikmessern und einer Dachterrassenwohnung mit dem großen blauen Horizont. Außerdem geht die Beobachtung davon aus, dass die Bewohner des Boulevards in der Masse nicht zwischen Realität und TV unterscheiden, auch eher unwahrscheinlich in der Breite.

Die heutige Ironie heißt Fastfood, die langsam, aber sicher abgelöst wird durch Functional Food in Form von Tabletten aus den Laboren der Versuchsküchen von morgen! Im Grunde Rufe nach dem Erst- und Einmaligen, nach dem originären Erlebnis - heißt das, dass wahre Gourmets oder Hedonisten mit Gedächtnishygiene sympathisieren? Dass sie für eine Austreibung der Ironie und eine neue Unschuld plädieren?

 

Quellen, Anmerkungen

  1. Dieser Text ist auszugsweise dem Romanmanuskript des Autors mit dem Titel „Mein Essen mit einer Fremden ..." entnommen.