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Habe Mut, dich deines gastrosophischen Verstandes zu bedienen! Ein (kritischer) Blick auf das Postulat der gastrosophischen Mündigkeit

Thomas Mohrs.   

Vorbemerkungen

Als ich mich vor wenigen Jahren nach mehreren gescheiterten Anläufen endlich getraut habe, an der Universität Passau ein Wochenend-Blockseminar zum Thema „Ethik der Ernährung" anzubieten,bei dem es nicht nur um theoretische Aufbereitung und Diskussion des Themas gehen sollte, sondern darüber hinaus um praktische Umsetzung, und zwar dergestalt, dass alle Mahlzeiten mit den Studierenden gemeinsam selbst zubereitet werden sollten, erntete ich im Kollegenkreis wie auch vonseiten vieler Studierender in aller Regel: Kopfschütteln, Verständnislosigkeit, Gelächter - und bei einigen ehrwürdigen Kollegen auch spontane Verärgerung, da für sie die Verbindung von universitärer Lehre und Forschung mit Essen irgendwie einer Verhöhnung, einem Sakrileg, einer Besudelung gleichzukommen schien.(1)

Und durchaus ähnlich ging es mir in den Wochen vor der Eröffnung des Gastrosophie-Zentrums an der Universität Salzburg, wenn ich im Bekanntenkreis erzählte, dass ich mich auf eine Gastrosophie-Tagung in Salzburg freue, wo ich etwas zum Thema „Ethik der Ernährung" vortragen wolle: Kopfschütteln, Verständnislosigkeit, Gelächter.

Wenn ich aber dann beispielsweise rückfragte, ob nach Einschätzung der Belustigten etwa der Umstand, dass in Deutschland die auf Mangel- und Fehlernährung zurückgeführten Kosten im Gesundheitswesen im Jahr 2007 auf ca. 70 Milliarden Euro geschätzt werden(2), als ethisch irrelevant zu betrachten sei, stockte in aller Regel das Gelächter. Was ich in aller Regel zum Nachsetzen nutzte: Ob man es denn auch für ethisch irrelevant halte, dass unsere Ernährungsweise nachweislich mit der Verelendung bäuerlicher Strukturen in anderen Teilen der Welt zusammenhänge, etwa im Norden Brasiliens, wo den kleinen Bauern das Land genommen wird, um auf riesigen Plantagen Soja anzubauen, das an die Hühner verfüttert wird, die dann möglichst billig an uns verfüttert werden (Lemke, 2007, 437; Ziegler, 2005, 169 ff., Töpfer, 2006, 8; Pötter, 2006, 66 f.)? Das Gelächter verstummte (ausnahmslos), machte der Verlegenheit Platz - und häufig dem dringenden Bedürfnis, möglichst schnell das Thema zu wechseln. Und nur in wenigen, günstigen Fällen folgte dem anfänglichen Unverständnis die Bereitschaft, sich auf die Diskussion meiner „abstrusen" Behauptung einzulassen, dass es sich beim Thema „Ethik der Ernährung" um eines der sowohl individuell als auch universal gleichermaßen fundamentalsten wie komplexesten Themen handelt, um ein im Wortsinn „katholisches" (sprich: allgemeines) Thema, das von allergrößter politischer Brisanz ist und dem - um Harald Lemke zu zitieren - das Potential zur „Verbesserung der Welt" innewohnt (Lemke, 2007, 435). Dass diese Diskussionen einstweilen noch nicht vom gewünschten Erfolg gekrönt sind, ist vor dem angedeuteten kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergrund und in Anbetracht der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Fast-Food- und „Geiz ist geil!"-Mentalität (zumal in Fragen der Ernährung) nicht verwunderlich - aber daran bzw. für diesen Erfolg gilt es eben gastrosophisch zu arbeiten.

Denn soviel scheint mir unbezweifelbar zu sein: In diesem Kopfschütteln, in Verständnislosigkeit und Gelächter, die sicher allen Gastrosophinnen und Gastrosophen nicht unbekannt sein dürften, kommt zum einen schlicht fehlendes Wissen zum Ausdruck (siehe dazu den Beitrag von Harald Lemke in dieser Ausgabe) mit diesem Unwissen und der Ignoranz zugleich aber auch mangelnde gastrosophische Mündigkeit. Und mit diesem Stichwort komme ich zum thematischen „Aufhänger" meines Beitrags:

Kants „Wahlspruch der Aufklärung" und seine gastrosophische Adaption

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", las bekanntlich bereits 1784 Immanuel Kant seinen Zeitgenossen die Leviten.(3) Selbst verschuldet sei diese Unmündigkeit, so Kant, wenn sie nicht auf einem durch Krankheit bedingten „Mangel des Verstandes" beruhe, sondern wenn die Ursachen für jene Unmündigkeit - die moralische ebenso wie die politische ebenso wie die gastrosophische - auf Faulheit und Feigheit zurückzuführen seien. Feigheit vor den „Vormündern", bei denen man mit der eigenen Verstandestätigkeit „anecken" und dann womöglich irgendwie Stress bekommen könnte, und die Faulheit als menschlicher Wesenszug: „Es ist so bequem, unmündig zu sein!"(4) Mündig sein ist dagegen anstrengend, da muss man selber denken, das Hirn anstrengen, sich informieren, kritisch reflektieren, sich selbständig ein eigenes, differenziertes Urteil bilden und sich womöglich zu allem Überfluss noch vor sich selbst rechtfertigen, ob die eigene Lebensweise ethisch verantwortbar ist. Denn gerade darauf läuft die Mündigkeit im Sinne Kants hinaus: Auf die radikale Selbst-Verantwortlichkeit der sich selbst das moralische Gesetz gebenden Person - eine Selbst-Verantwortlichkeit, die in gastrosophischer Hinsicht mit Harald Lemke so bestimmt werden kann:

„Der Vorrang der Ethik gegenüber der Politik gründet im Bereich des Essens nicht zuletzt darin, dass sich jeder jeden Tag mehrmals zu der Möglichkeit eines besseren Essens verhalten muss. Dabei steht ‚jedes Mahl' die ganze Welt des Essens auf dem Spiel: Jeder Essakt entscheidet darüber, wie wir uns zur Ernährungsfrage verhalten, wie gut wir leben und die Welt essen. Alle, die in dem Genuss der gastrosophischen Freiheit sind, die eigene Essistenz vernünftig leben zu können, stehen permanent  ... vor der ebenso unscheinbaren wie unabwendbaren Wahl, entweder die Vernunft in die Welt zu setzen oder diese Welt noch unvernünftiger zu machen, als sie ohnehin schon ist." (Lemke, 2007, 448; vgl. Lemke, 2002, 42)

Und diese Überlegungen zu gastrosophischer Mündigkeit und Verantwortlichkeit münden - gleichsam zwangsläufig - in der entsprechend ergänzten Kantschen Aufklärungsformel:

„Sapere aude! Hab Mut, dich deines eigenen gastrosophischen Verstandes und Geschmacks zu bedienen - könnte der Wahlspruch der kulinarischen Selbstaufklärung lauten." (Lemke, 2002, 41)

Und so lesen wir denn auch in vielen Publikationen rund um die Themenfelder „Gastrosophie", „Ethik der Ernährung" usw. die These, dass doch zumindest wir Menschen in den reichen Industrienationen die freie Wahl hätten, uns gesünder, besser, vernünftiger, verantwortlicher zu ernähren, dass der Bereich des Essens also ein Bereich der „vergleichbar selbstbestimmte Lebensgestaltung" sei (Lemke, 2007, 448), ja geradezu ein paradigmatisches Beispiel für ein Segment der Wirtschaft, in dem „die autonomen Konsumentscheidungen der vielen Konsumenten das Angebot steuern" (Töpfer, 2006, 8). Aber ist es wirklich so einfach?

Sicher kann man Jürgen Dollase rückhaltlos zustimmen, der sozusagen als Minimalbedingung für „Kulinarische Intelligenz" feststellt:

„Grundsätzlich sollte man sich darüber klar werden, dass der Umgang mit Nahrung in jeder Form einer der wichtigsten Bestandteile der (Gesamt-)Kultur ist und dass wir alle damit zu tun haben." (Dollase, 2006, 121)

Aber so evident diese Feststellung auch für jede und jeden sein mag, die und der auch nur ansatzweise gastrosophisch „aufgeklärt" ist: „Man" ist sich über diesen Grundsachverhalt offensichtlich nun mal nicht im Klaren! Es ist vielmehr ein Faktum, dass sich die meisten Menschen nicht entsprechend der eigentlich gebotenen „gastrosophischen Vernunft" verhalten, sondern „als überzeugte Kunden von populären Discountläden und als bereitwillige Träger der Aldi-Tüte ihren kapitalistischen Vormündern , indem sie bei der eigenen Schnäppchenjagd auf die billigsten Lebensmittel der brutalen und von ihnen auch durchschauten Ausbeutungslogik des Systems widerstandslos folgen" (Lemke, 2007, 441; vgl. Töpfer, 2006, 9). Diese erschlagende Mehrheit, die „Altitude" - auch mit dieser Beobachtung hat Harald Lemke zweifelsohne recht - „will keine Aufklärung, beispielsweise der Produktherkunft und der Herstellungsweise; die zwanghafte Mimesis ans Falsche ist ihr zielstrebiger Wunsch und ein bewusster Selbstbetrug" (Lemke, 2007, 441).

Und damit stellt sich meines Erachtens eine ebenso einfache wie durchaus peinliche Frage: Was ist vor dem Hintergrund dieser Fakten-Feststellungen vom idealistischen Appell an die gastrosophische Mündigkeit zu halten?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, müssen wir uns nach meiner Überzeugung Gedanken über das Menschenbild machen, das unserer Gastrosophie zugrunde liegt. Wir müssen die fundamental-anthropologische Frage zulassen - die im Kern freilich nahezu so alt ist wie die Philosophie -, ob wir tatsächlich ohne Weiteres von der kantischen (resp. platonischen) Zwei-Welten-Lehre ausgehen können, also davon, dass wir Menschen zwar einerseits heteronome Lebewesen sind, die sich von anderen (tierischen) Lebensformen praktisch nicht unterscheiden, andererseits aber auch noumenale Lebenwesen, deren Würde sich eben aus der Freiheit des Willens und der moralischen Autonomie speist. Bereits Kant formulierte sehr vorsichtig, dass der Mensch ein „animal rationabile" sei, ein zur Vernunft begabtes Wesen, das aus sich ein „animal rationale", also ein vernünftiges, selbstbestimmtes Wesen machen könne (und solle(5), aber ob dieser Schritt tatsächlich gelingt, das ist offensichtlich auch nach Kants Einschätzung alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Und auch in der Aufklärungsschrift selbst gibt Kant als nüchterner Realist zu bedenken:

„Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen, und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ." (Kant, Aufklärung, A483)

Ich möchte daher die These von der Konsumentenautonomie in Sachen Essen und Trinken dezidiert in Frage stellen, und zwar aus der Perspektive der aktuellen Gehirnforschung(6)- verbunden mit der Anregung, diesen Ansatz in den gastrosophischen Forschungen verstärkt und systematisch zu berücksichtigen.(7) Und zwar gerade deshalb, weil ich verstehen möchte, wieso Harald Lemke klagen muss:

„Wieso schlucken wir, obwohl uns nichts dazu zwingt, freiwillig, was uns Politik und Wirtschaft an Abgeschmacktem auftischen - und das obwohl wir alle mehr oder weniger um die umweltzerstörenden, gesundheitsschädlichen, tierquälerischen und global ungerechten Auswirkungen unserer Essgewohnheiten wissen?" (Lemke, 2002, 42 f.)

Ich möchte verstehen, wieso es zu dieser paradoxen Situation kommt, dass die allermeisten Verbraucher, wenn man sie fragt, „Bio-Lebensmittel vom Öko-Bauern" wollen, dann aber doch die „konventionelle Milch beim Discounter ", die Eier aus der Käfighaltung und das Billighendl aus dem Hühner-KZ (Pötter, 2006, 60). Und ich möchte verstehen, wieso es so vielen Menschen so egal ist, was sie auf dem Teller haben, was sie sich einverleiben, wieso Nahrungsmittel für sie „Low-Involvement-Produkte" (ebd., 66) sind und wieso sie die als „Gen-Pommes" deklarierten Fritten den „Bio-Pommes" vorziehen, wenn erstere nur entsprechend billiger sind.(8)

Zweifel an der Mündigkeit - zwei unangenehme Thesen der modernen Gehirnforschung

Diese Infragestellung der gastrosophischen Mündigkeit und Freiheit möchte ich aus Platzgründen auf zwei prägnante Thesen reduzieren, die diskussionswürdig sind und zudem bei näherer Betrachtung sozusagen ein Fass ohne Boden für weitere Überlegungen und Forschungsansätze darstellen. Diese beiden  Thesen lauten:

  • Das Gehirn neigt zur Faulheit, mag keine Veränderungen und liebt die Regelmäßigkeit.
  • Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!

Zur ersten These: Unser Gehirn ist nicht nur eines der aktivsten Organe in unserem Körper, sondern auch ein sehr anspruchsvolles. Mit gerade 2 % des Körpergewichts beansprucht es mehr als 50 % der in das Blut freigesetzten Glucose, ca. 20 % der gesamten Stoffwechselenergie und auch ca. 20 % des gesamten Sauerstoffbedarfs unseres Organismus.(9)Und je mehr sich das Gehirn anstrengen muss, mit bestimmten Situationen klar zu kommen, desto höher ist sein Energiebedarf. Und es liegt auf der Hand, dass dies insbesondere bei neuen, unbekannten Situationen der Fall ist, die als wichtig oder gar als lebenswichtig eingestuft werden. Umgekehrt sinkt der Energiebedarf, wenn das Gehirn lernt, bestimmte Denk-, Reaktions- und Verhaltensmuster zu automatisieren, sich also in bestimmten Situationen nicht mehr groß anzustrengen, sondern einfach einstudierte Muster abzuspulen, die in Fleisch und Blut übergegangen sind. Das gilt für Tätigkeiten wie das Zähneputzen oder das Schuhe-Binden, das Lesen und Schreiben, das Spielen eines Instruments, die Ausübung einer Sportart, die Bedienung eines Computerprogramms und zahllose andere Tätigkeiten - und es gilt gleichermaßen für die grundlegenden Ernährungsgewohnheiten. Und wenn alles immer schön läuft, wie man es gewohnt ist, das Hirn seine Steuerungsfunktion also sozusagen auf Sparflamme erledigen kann, dann ist die Welt in Ordnung. Wenn aber irgendwelche einmal automatisierten Muster, wenn jene „lieb gewonnenen" Gewohnheiten, von denen Kant spricht, geändert werden sollen, wenn einem z. B. plötzlich jemand erklärt, dass man die seit Jahrzehnten praktizierte Aufschlagtechnik beim Tennis grundlegend ändern soll, wenn man nach jahrzehntelanger entsprechender Belehrung plötzlich den Gedanken zulassen soll, dass nicht nur das Hirn im Kopf, sondern dass auch das Neuronennetzwerk des Darms „denkt"(10), und wenn man gar fundamentale Selbstverständlichkeiten wie das eigene Ernährungsverhalten in Frage stellen soll, dann hat das Gehirn schlagartig Probleme - auf die es eben sehr häufig mit dem starken Impuls reagiert, rational festgestellte Schwächen und Fehler der eigenen Gewissheiten und Gewohnheiten zu verdrängen und in die alten Muster zurückzufallen. Es ist so bequem, unmündig zu sein!

Zur zweiten These: Wenn so ein Menschenhirn in einem Menschenbaby zur Welt kommt, ist es zwar keine völlige „tabula rasa", dennoch aber noch weitgehend unstrukturiert. Und es steht vor der riesigen Herausforderung, unglaublich viel lernen zu müssen, sich in der Umgebung, in dem Umfeld, in das hinein es geboren wird, irgendwie einfinden, sich einpassen zu müssen, so dass es in diesem Umfeld überleben, sich orientieren und schließlich aktiv „mit-spielen" kann. Und diese Anpassungsleistung schafft das Gehirn physiologisch, indem es Synapsenverschaltungen ausbildet und - das ist wiederum der Link zur These 1 - festlegt bzw. „einschreibt", die eine möglichst ökonomische umfeldadäquate Funktionalität gewährleisten sollen.

Es liegt aber auf der Hand, dass das Gehirn existentielle, für das eigene Überleben wesentliche Muster möglichst früh ausbildet - und zu den absolut grundlegenden, den allerexistentiellsten Mustern zählen evidentermaßen die Muster des Schmeckens. Diese Muster werden ausgebildet und physiologisch im Gehirn gespeichert, lange bevor das Gehirn seinen ersten bewussten Gedanken zu denken in der Lage ist. Und weil diese Muster von so fundamentaler Bedeutung sind, zu den Grund-Tatsachen oder Grund-Gewissheiten gehören, die tief im Gehirn eingeprägt sind, bevor es auch nur ansatzweise über sich selbst und seine Prägungen nachdenken, reflektieren kann, ist es ungeheuer schwierig, derartige Muster zu einem späteren Zeitpunkt zu verändern, und zwar völlig unabhängig davon, ob die rationale Einsicht genau diese Veränderung nahe legt. Oder anders formuliert: Menschen mögen rational einsehen, dass sie eingefleischte Gewohnheiten (etwa im Hinblick auf ihren übermäßigen Fleischkonsum) ablegen sollten, aber daraus folgt im Hinblick auf ihr Verhalten im Zweifel gar nichts - „tra il dire e il fare c'é di mezzo il mare"!(11)Wenn das limbische System aufgrund frühkindlicher Prägungen eine andere emotionale Bewertung abliefert, hat der „Verstand" im präfontalen Cortex in aller Regel das Nachsehen: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr".(12)

Was folgt daraus? Dass alle unsere gastrosophischen Bemühungen, alle Appelle an die gastrosophische Mündigkeit und Verantwortlichkeit sinnlos sind, zum Scheitern verurteilt, weil die Menschen aufgrund ihrer cerebralen Determination nun einmal nicht können, was sie doch sollen? Nein, dieser Schluss wäre bereits deshalb zu extrem, weil es schließlich viele Menschen gibt, die sich von ihren frühen kulinarischen Prägungen gelöst, sie im gastrosophischen Sinne gut überwunden haben. Und er wäre zudem kurzschlüssig und kontraproduktiv, da aus der Erkenntnis, dass die Mehrheit der Menschen (in unserem Kulturkreis) gegenwärtig auf Ernährungsgewohnheiten konditioniert sind, die aus gastrosophischer Sicht bedenklich, schlecht, unverantwortlich sind, selbstverständlich nicht folgt, dass dies auch in Zukunft so bleiben muss.(13)Trotzdem müssen wir uns meines Erachtens darüber im Klaren sein, dass der Mut, sich des eigenen gastrosophischen Verstandes zu bedienen und daraus auch tatsächlich Verhaltensänderungen abzuleiten, in aller Regel ein Reflexionsniveau des eigenen Verhaltens, der eigenen Weltbildprägungen voraussetzt, das alles andere als selbstverständlich ist (abgesehen von der darüber hinaus gehenden Bereitschaft, die Einsicht auch in konkrete Verhaltensänderungen umzusetzen). Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die gastrosophische Idee - jedenfalls in dem Sinne, wie sie unter anderen Harald Lemke propagiert - schlussendlich auf die Änderung einer gesamten Denk-Kultur samt einiger ihrer grundlegenden Werte-Muster hinauslaufen muss. Eine gewaltige Aufgabe, ein großes Ziel! Aber ein Ziel, zu dem es (eigentlich nicht nur aus gastrosophischer Perspektive) keine vernünftige Alternative gibt. Genau deshalb, genau im Sinne dieser „gastrosophischen Revolution", ist die Gründung eines universitären Zentrums für Gastrosophie zweifelsohne ein positives Zeichen, ein Ansatz, der den gastrosophischen Optimismus beflügelt - schon deshalb, weil er zur Hoffnung berechtigt, dass jener „schneidende<> Dünkel der klassischen Wissenschaft ..., für die jede Beschäftigung mit dem Essen völlig unter ihrem Niveau liegt" und der „sich aus einer gravierenden Unkenntnis nährt" (Dollase, 2006, 126 + 127), überwunden werden kann.

Literatur

Dollase, Jürgen: Kulinarische Intelligenz, Wiesbaden 2006.

Grimm, Hans-Ulrich: Die Ernährungslüge. Wie uns die Lebensmittelindustrie um den Verstand bringt, München 2005.

Lemke, Harald: Ethik des »guten Essens«. Gastrosophisches Plädoyer für eine nachhaltige Esskultur, in: Jahn, Ingeborg; Voigt, Ulla (Hg.), Essen mit Leib und Seele, Bremen 2002, 39-51.

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (= Aufklärung), in: Immanuel Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XI, Frankfurt/Main 19782, 53-61.

Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (= Anthropologie), in: Immanuel Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XII, Frankfurt/Main 19782, 399-690.

Lemke, Harald: Ethik des Essens, Berlin 2007.

Pötter, Roman: König Kunde ruiniert sein Land. Wie der Verbraucherschutz am Verbraucher scheitert. Und was dagegen zu tun ist, München 2006.

Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Berlin Heidelberg 2007.

Töpfer, Klaus: Jeder Konsument trägt globale Verantwortung, in: Pötter (2006), 7-10.

 

Quellen, Anmerkungen

  1. Sicher ist es richtig, dass die Widerstände und das Unverständnis, auf welche die Einführung und Etablierung der Gastrosophie (resp. der Ethik der Ernährung) als Gegenstand universitärer Forschung und Lehre stoßen, insofern nichts Außergewöhnliches sind, als immer dann, wenn neue (oder neu erscheinende) Themenfelder in den universitären Kanon eindringen, mit derartigen „territorialen" Abwehrreaktionen zu rechnen ist. Dennoch haben die Schwierigkeiten im Hinblick auf das Thema „Essen" zweifelsohne eine ganz eigene Qualität, die in der traditionellen „diätmoralischen" Abwertung des Leibes (und seiner „niedrigen" Belange) gegenüber dem „Geist" und der „Seele" (und ihren angeblich völlig anderen, „höheren" Belangen) einen vergleichsweise klar identifizierbaren kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergrund haben. Vgl. dazu Lemke, 2007, Kap. I.  
  2. So eine Meldung der Internet-Zeitschrift „Ärztliche Praxis" vom 27.04.2007:  http://www.aerztlichepraxis.de/artikel_gz_ernaehrung_ernaehrung_1177677447.htm.  
  3. Kant, Aufklärung, A481.  
  4. Kant, Aufklärung, A482.  
  5. Vgl. Kant, Anthropologie, B314.  
  6. Gemeint ist hier also nicht (zumindest nicht vordergründig) die „psychologische Durchdringung des Kundenverhaltens und dessen Beeinflussung durch die Werbung" (Töpfer, 2006, 9), sondern eine wesentlich tiefer gehende, eben fundamentalere Überlegung, die mit dem zu tun hat, was Harald Lemke als zugrunde liegendes „kulturelles Verständnis der menschlichen Ernährung" identifiziert, nämlich die „klassische Diätetik" (Lemke, 2002, 43), diese kulturelle Prägung aber aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und sie wesentlich stärker gewichtet. Diese Perspektive der Hirnforschung ist natürlich aufs Engste verknüpft mit einer allgemeineren evolutionär-anthropologischen (resp. soziobiologischen) Perspektive.  
  7. Harald Lemke tippt das Thema „Essen und Gehirn" in seiner „Ethik des Essens" zwar nur an, sieht aber auch: „Dass das Gehirn isst, dass der Geist speist und davon besser oder schlechter lebt, ist eine gastrosophische und gastrobiologische Erkenntnis, die zu entdecken der zeitgenössischen Philosophie und Neurobiologie des Hirns noch bevorsteht" (Lemke, 2007, 434). Aus einer anderen - nicht minder interessanten und wichtigen Perspektive - widmet sich Hans-Ulrich Grimm in seinem Buch „Die Ernährungslüge" (Grimm, 2005) dem Zusammenhang zwischen Ernährung und Gehirn und vertritt die These, dass minderwertige Nahrungsmittel de facto schädlich sind für die Hirnfunktion und zumindest Anteil haben an der explosionsartigen Zunahme cerebraler Erkrankungen.  
  8. Vgl. Pötter, 2006, 69, der auf ein Experiment der ARD-Sendung „plusminus" aus dem Jahr 2004 referiert: „Die Redaktion hatte bei einem Straßenfest einen Stand aufgebaut, bei dem Pommes frites verkauft wurden. Neben der üblichen Portion für 1,80 Euro boten die Verkäufer auch angebliche und für den Versuch extra so gekennzeichnete ‚Gen-Pommes' an - zum unschlagbaren Preis von einem Euro. Die angeblich so gen-kritischen Verbraucher langten kräftig zu. Von 28 Käufern entschieden sich 27 für die billige Gentechnik auf dem Teller."  
  9. Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Gehirn und:                http://www.buchhandel.de/WebApi1/GetMmo.asp?MmoId=2998170&mmoType=PDF.  
  10. Zur neurogastroentereologischen These vom „Darmhirn", das - verglichen mit anderen lebenswichtigen Organen - weitgehend unabhängig vom Hirn im Kopf arbeitet und sich selbst steuert, siehe z. B. http://www.medizin-medien.info/dynasite.cfm?dsmid=60016&dspaid=420065, http://cranioverband.net/CRANICH3.pdf.  
  11. Frei übersetzt: „Zwischen dem Reden und dem Tun liegt in der Mitte das Meer."   
  12. Spitzer, 2007, 240.  
  13. In dieser Hinsicht ist - zumal vor dem Hintergrund der neurophilosophischen Thesen über den Zusammenhang von Gehirnentwicklung und Ernährungsverhalten und in Anbetracht des „eminent wichtigen, jeden Tag erlebbaren sinnlichen Zugang(s) zum Essen" (Dollase, 2006, 124) - der Forderung von Jürgen Dollase natürlich uneingeschränkt zuzustimmen: Wir brauchen ein neues Fach „Kochen und Essen" (vgl. Dollase, 2006, 123 ff.)!