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Epikur

SCHMIDINGER Heinrich.   

Auch wer über Epikur, diesen griechischen Denker, der von zirka 340 bis zirka 270 vor Christus gelebt hat, nichts Näheres weiß, hat schon von epikureischer Lebenshaltung gehört.

Sie steht für den Glauben an ein Leben vor dem Tod und manche Konsequenz daraus, etwa Materialismus, religiöses Phlegma oder moralische Willkür. Seit Langem ist bekannt, dass dieser Epikureismus mit Epikur und seiner Philosophie kaum etwas zu tun hat. Der Weg zum Glück führt bei Epikur über die nüchterne, aufgeklärte Einschätzung des Menschenmöglichen. Wohl bedarf es dabei des richtigen Maßes. Aus ihr resultiert Epikurs Ethik.

Auch Namen von Philosophen stehen für Weltanschauungen, Lebensentwürfe oder Weisheitslehren. Dies umso mehr, je mehr sie ihre Philosophien nicht als ein System bloßer Theorien oder als Anhäufung reiner Spekulationen begreifen. Dies gilt erwartungsgemäß für Philosophen, die noch vor der strengen wissenschaftstheoretischen Unterscheidung von Philosophie und Theologie, später von Philosophie und weiteren Wissenschaften auftraten - das heißt für fast alle Exponenten dieses Faches vor dem Jahre 1000 nach Christus. Es gilt natürlich genauso für alle Philosophen, die nach der Etablierung der scholastischen Wissenschaftstheorien dem alten - griechischen, römischen, christlichen - Ideal von Philosophie nacheifern wollten, sprich die Theorie in Einheit mit der Praxis sahen und nach einer Lebens- und Sterbenskunst trachteten, die Existenzrelevanz besitzen sollte.

Im Zusammenhang mit Philosophen dieser Art fällt regelmäßig der Name Epikur. Auch wer von diesem griechischen Denker, der von zirka 340 bis zirka 270 vor Christus gelebt hat, von der Insel Samos stammte, die meiste Zeit in Athen verbrachte und dort eine Schule, den so genannten „Garten", gründete, nichts Näheres weiß, kennt sich zumindest aus, wenn von Epikureismus bzw. von epikureischer Lebenshaltung die Rede ist. Im Anschluss an Epikurs Prinzip, wonach „die Lust Anfang und Ende des glücklichen Lebens" ist, unterliegt diese Form der menschlichen Existenzgestaltung dem moralischen, auch religiösen Verdikt, das bloß Sinnliche, Körperliche, Materielle, Irdische, Beliebige, bestenfalls die unmittelbare Lebensfreude sowie die Heiterkeit zum Maßstab der gesamten Weltanschauung gemacht zu haben. So steht Epikureismus für den Glauben an ein Leben vor dem Tod und der damit verbundenen Konsequenz, die da sein kann: Freizügigkeit in allen Dingen, ‘Egoismus', Skeptizismus, Materialismus, religiöses Phlegma, moralische Willkür.

Seit Langem ist bekannt, dass dieser Epikureismus mit Epikur und seiner Philosophie kaum etwas zu tun hat, auch wenn Epikur selbst mit manch überspitzter Behauptung, mitunter sogar mit seinem Lebensstil dazu beigetragen haben mag, dieses Vorurteil sowie die damit verbundene Polemik und Verfälschung zu provozieren. Nicht erst durch die Christen, bereits durch die Antike, besonders durch die Stoiker - seine großen Kontrahenten - und durch Cicero, letztlich auch durch Diogenes Laertios, der ihm als Historiker ebenfalls nicht wirklich Gutes wollte, unterlag Epikur einem für die ganze europäische Geistes- und Kulturgeschichte beispiellosen Missverständnis, welches kaum etwas Positives an ihm übrig ließ, sondern ihn zu jenem negativen Kontrastbild stempelte, welches unter dem Begriff ‘Epikureer' Karriere machte. Nur wenige, die sich seit dem Altertum mit ihm befassten - sieht man von den unmittelbaren und mittelbaren Schülern (wie dem römischen Philosophen Lukrez) ab, die es auch nach der Zeitenwende noch in respektabler Zahl gegeben haben soll -, so waren es in erster Linie Humanisten, die aufgrund ihrer philologischen Kenntnisse das bescheiden, häufig sogar verfälscht überlieferte Textmaterial kritisch zu lesen verstanden, sowie skeptisch orientierte Denker, die in seinen Lehren verwandte, um nicht zu sagen eigene Überzeugungen entdeckten. Für Erstere mag - unter anderen - Erasmus von Rotterdam, für Letztere Michel de Montaigne stehen.

Epikur ist der erste westliche Philosoph, der - längst vor aller christlichen Theologie und existenzialistischen Philosophie - von Angst und Furcht als Grundbefindlichkeit des Menschen ausgeht. Obwohl ihn keiner der modernen Existenzialisten eigens zitiert, nimmt er bereits vorweg, dass der Mensch angesichts des eigenen Todes Angst um sich selbst, um die prinzipielle, jederzeit virulent werden könnende Möglichkeit seiner Unmöglichkeit hat, und dass er sich bezogen darauf zugleich vor viel Konkretem fürchtet, wie beispielsweise vor Schmerzen, Verlusten, Göttern, einem Leben nach dem Tod. Was Epikur genau dazu veranlasst hat, dies so zu sehen, ist schwer zu sagen. Möglich, dass es eigene Erfahrungen waren, möglich auch, dass besondere Beobachtungen des allgemein Menschlichen im Spiel waren. Jedenfalls äußert sich in dieser seiner Überzeugung ein Grundgefühl seiner Zeit. Diese wiederum, die Epoche des anbrechenden Hellenismus, ist gekennzeichnet durch eine frühe Globalisierungswelle, die nicht nur den gesamten Mittelmeerraum, sondern ebenso weite Teile des nahen Ostens erfasste - mit Griechisch als Lingua franca, mit staatlichen Gebilden beträchtlicher Größenordnung, mit einer multikulturellen Lebenswelt. Vor allem im alten Griechenland ging damit der endgültige Verfall der überschaubaren kulturellen und politischen Einheiten (des klassischen Polis-Systems) einher. In Konsequenz dazu stellte sich eine ubiquitäre Verunsicherung ein, die sich dahingehend auswirkte, dass die Frage nach der Möglichkeit eines gelingen könnenden Lebens eine verbreitete existenzielle Relevanz erhielt. Nicht allein Epikur, auch seine Konkurrenten, die Stoiker, versuchten primär diese Frage zu beantworten. Gemeinsam setzten sie dabei - anders als ihre großen Vorgänger in der attischen Philosophie: Platon und Aristoteles - nicht beim Gemeinwesen, sondern beim Menschen als Einzelnem an. Ihm galt ihr vorrangiges Interesse, Staat und Gemeinschaft erhielten indirekt Funktion über ihn.

Was vor diesem Hintergrund die Rolle der Philosophie betrifft, so hat sie für Epikur die Aufgabe, dem Menschen in seiner Angst sowie in aller Furcht beizustehen, mehr noch ihn davon zu heilen. Nicht erst Ludwig Wittgenstein, bereits Epikur sieht die Aufgabe der Philosophie in der Therapie - jener hinsichtlich unsinniger Sätze, dieser angesichts der menschlichen Angst und Furcht. Das bedeutet für ihn keine Absage an wissenschaftliche Erkenntnis und Spekulation. Keineswegs. Epikur ist bekanntlich für seine atomistische Rekonstruktion der gesamten Weltwirklichkeit bekannt, die er im Anschluss an Demokrit und Leukipp, die Begründer des Atomismus, weiterentwickelte und auf seine Weise verfeinerte. Selbst in den Bereichen der Anthropologie und Ethik scheint er Theorien vorgelegt zu haben, die gemessen an damaligen Verhältnissen durchwegs das Prädikat ‘wissenschaftlich' verdienen. Trotzdem bleibt für ihn klar: Wissenschaftliche Theorie und Spekulation sind nur dann von Wert, wenn sie der therapeutischen Zielsetzung dienen, den Menschen von Angst und Furcht zu befreien. „Wie nämlich eine Medizin nichts nützt, wenn sie nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so ist auch eine Philosophie nutzlos, wenn sie nicht die Leidenschaften aus der Seele vertreibt." Ansonsten mag sie - nach einem Diktum Sören Kierkegaards - wohl interessant sein, sie ist jedoch nicht von Interesse. Epikur ist so gesehen auch ein geistiger Nachfolger des Hippokrates (5. Jh. v. C.), der seine medizinische Kunst unter anderem mit dem Begriff ‘Philosophie' bezeichnete.

Vor dem Hintergrund dieses Ansatzes kann Epikur kein Epikureer sein. Er würde denkerisch klein geschätzt, wenn man ihm zutraute, seine Therapie zur Befreiung von Angst und Furcht auf der Basis von bloß sinnlicher Lustbefriedigung bewerkstelligen zu wollen. Das hieße Angst und Furcht ihrerseits zu reinen Gemütszuständen oder Sinneserlebnissen herabzustufen, als hätten sie mit dem Menschen als Ganzem nichts zu tun. Epikur weiß wohl, dass beides seine psycho-physischen Begleiterscheinungen hat, die den Menschen dermaßen beeinträchtigen können, dass er seelisch und körperlich daran krank wird. Er reduziert es jedoch nicht darauf, sondern sieht vielmehr, dass es vor allem auch die Vernunft ist, die darauf Einfluss hat, ob der Mensch seinen negativen Grundstimmungen erliegt oder nicht. Was wiederum beweist, dass sich Epikur einer umfassenderen Verursachung von Angst und Furcht bewusst war. Beides vermag durch Vernunft therapeutisch behandelt zu werden, weil beides auch falschen Ansichten, Weltanschauungen oder Theorien entspringen kann. Herausragendes Beispiel die religiösen Vorstellungen: Menschen, die sich kritiklos der Religion überlassen, hängen der bedrohlichen Vorstellung an, die Götter und Göttinnen würden in die Welt beliebig und unvermutet eingreifen. Dadurch leben sie in ständiger Sorge und Angst um ihr Bestehen. Wüssten sie, so Epikur, dass sich weder Götter noch Göttinnen um die Menschenwelt kümmern, sondern fernab von dieser ihr seliges und unbekümmertes Dasein pflegen, so fänden sie Ruhe und Glück. Von daher gesehen nimmt sich Epikurs Philosophie geradezu intellektualistisch aus. Ganz anders als ihr so oft unterstellt wurde, setzt sie auf die Möglichkeiten und Kräfte der menschlichen Vernunft: „Der Ursprung all dieser Überlegungen und das höchste Gut ist die Vernunft. Deshalb ist die Vernunft auch wertvoller als die Philosophie. Aus ihr stammen alle übrigen Tugenden. Sie lehrt uns, dass man nicht lustvoll leben kann, ohne vernünftig, anständig und gerecht zu leben, und dass man auch nicht vernünftig, anständig und gerecht leben kann, ohne lustvoll zu leben."

Wie das Zitat aus dem berühmten Brief an Menoikeus illustriert, unterliegt Epikur deshalb keinem Verlust der Mitte. Sein Vertrauen in die Vernunft lässt ihn - was ihn auszeichnet, was ihm aber auch Jahrhunderte lang verübelt wurde - ganz anders als etwa Platon oder manchen Stoiker die Rückseite der Vernunft nicht gering schätzen. Sinneseindrücke, Empfindungen, Gefühle, Leidenschaften, Stimmungen, seelische Dispositionen - das alles gehört für ihn gleichermaßen zum Menschen. Sie sind eins mit ihm, wie es die Vernunft ebenfalls ist. Aus der so strukturierten Einheit, nicht aus einer Art Kompositum von Vernunft und Sinnlichkeit, muss daher das Begreifen des Menschlichen erfolgen. Genauso hat alles Normative unter ihrem Zeichen zu stehen. Dieses sogar ganz besonders, hängt davon doch ab, wie der Mensch sein Glück zu erreichen versucht. Was folgt daraus an Anweisung für ein gelungenes Leben?

Zunächst sicherlich die kontinuierliche Ernüchterung durch den Einsatz der Vernunft. Bekanntes Beispiel dazu Epikurs Empfehlung angesichts der Todesangst (wiederum aus dem Brief an Menoikeus): „Gewöhne dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat. Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung. Der Verlust der Wahrnehmung aber ist der Tod. <...> so lange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da. Er hat also weder für die Lebenden noch für die Toten Bedeutung; denn für die einen ist er nicht da, die anderen sind für ihn nicht mehr da."

Dazu gesellt sich - in Konsequenz dazu - die Beschränkung auf das menschliche Maß, man könnte auch sagen: auf den Garten, der für mich nicht nur zum Synonym der epikureischen Schule, sondern ebenso für Epikurs geistige Grundeinstellung wurde. Seit jeher ist mit der Metapher des Gartens ein Ort besonderen Lebens verbunden, an dem sich der Mensch durch eigene Gestaltung die Natur in einer Weise gefügig macht, dass er sie in gesuchtem Einklang mit ihr genießen und lustvoll erleben kann. Dies entbindet ihn nicht von der Pflege und Besorgung des Gartens. Vielmehr muss er auch hier einen Kompromiss eingehen, in dem sein gestalterisches Können mit den Vorgaben der Natur einen Ausgleich findet. Dies wiederum gelingt nicht ohne anhaltenden Einsatz. Vielmehr gilt für den Garten, was für jede andere Möglichkeit des Genießens ebenfalls gilt: Nichts ist umsonst; kein Glück, das einem in den Schoß fällt; Genuss nur unter der Voraussetzung von Bemühung darum. Garten ist darüber hinaus ebenso eine Metapher für Überschaubarkeit. Anders als die Natur als solche, anders als die Landschaft, die Umgebung, der Horizont, anders auch als der Landbesitz, die Plantage, der Park und dergleichen steht ‘Garten' in der Regel für einen begrenzbaren Bereich an Natur. Vor allem aus diesem Grund gelingt deren Gestaltung in ihm in einer exemplarischen, so viel Genuss bereitenden Form. Sofern nun der Garten - inklusive allem, was es seitens des Menschen benötigt, um ihn zu verwirklichen - symbolisch für den Bereich menschlichen Lebens gelten kann, resultiert daraus:

Das Leben jedes Einzelnen gelingt, wenn es sich auf das (dem Menschen) Mögliche beschränkt sowie auf das (insgesamt) Mögliche - das Gute wie das Schlechte - einstellt. Nur im Rahmen des Möglichen ist nach Epikur Glück zu finden, wobei er Glück als jenes Mehr an Erfüllung begreift, welches über alle Abdeckung des lebensnotwendigen Bedarfs hinaus ein Leben lebenswert, heiter und bereichernd macht - auf geistiger Ebene nicht weniger als auf sinnlicher. Zur Einschätzung des Möglichen gehört die Anerkennung der Grenzen, die durch die Natur genauso gegeben sind wie durch die Widerfahrnisse von Übeln, durch Leid und am Ende durch den Tod. Dies bedeutet bei Epikur keinen Fatalismus, der sich mit den begrenzten Möglichkeiten schlicht abfindet. Im Sinne des Garten-Prinzips impliziert die Respektierung der Grenzen vielmehr die Aufforderung zum Ergreifen der letztlich einmaligen Gelegenheit, die menschliches Leben darstellt. Für sie lohnt sich der Einsatz, im Hinblick auf sie ist Handeln in jeder Hinsicht geboten.

Zum erlebbaren Glück des Menschen gehört für Epikur schließlich wie für die Stoiker die Erreichung eines ständigen Gleichgewichts der Gemütsverfassung, sprich die Gewinnung des Zustands der Seelenruhe. Wer ihrer habhaft wird, besteht das Auf und Ab des eigenen Lebens, er hält dem großen Schicksal stand und besitzt die innere Gelassenheit, die ihn frei macht für das Pflücken des Tags und das Ergreifen des glücklichen Zufalls. In diesem Zustand wird der Mensch den Göttern ähnlich: „... dann wirst du niemals, weder wenn du wach bist noch wenn du schläfst, in Unruhe geraten, sondern leben wie ein Gott unter Menschen." Nach Epikur wird die Seelenruhe jedoch auf anderem Wege erreicht als nach Auffassung der Stoa. Während in dieser - ähnlich wie bei Platon - die Hintanhaltung von allem Körperlichen, Affektiven, Emotionalen und Libidinösen empfohlen wird, Askese in weitestem Sinne, führt der Weg bei Epikur über die nüchterne, aufgeklärte Einschätzung des Menschenmöglichen. Dazu braucht es keine Zurückdrängung irgendeiner menschlichen Seite. Wohl bedarf es - wie schon erwähnt - des Maßes, was sich als ethische Maxime freilich nicht aus einer moralphilosophischen oder religiösen Begründung ableitet, sondern - noch einmal - der schlichten Erfahrung des Möglichen entstammt. Aus ihr resultiert am Ende die gesamte Ethik des Epikur.

 

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