Besonderheiten und Potenzial der so genannten „Frauen-kochbücher"
Im späten 17. und im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird es immer gebräuchlicher, dass sich (mutmaßlich) vornehme Frauen handschriftliche Kochbücher für den persönlichen Gebrauch entweder selbst anfertigen oder von geübten Schreiberinnen und Schreibern herstellen lassen. Es gilt zu dieser Zeit als „modern", ein solches Buch zu besitzen; kritisiert wird dabei jedoch gerne der Umstand, dass die Herstellungskosten einer Kochbuchhandschrift bei weitem höher sind als die eines gedruckten Kochbuches.(1) Das eigentliche Kochbuch wird „in einem Guß"(2) hergestellt, wobei anzunehmen ist, dass es aufgrund der hohen Kosten keinen alltäglichen Gebrauchsgegenstand repräsentiert, sondern für einen bestimmten Anlass wie etwa eine Hochzeit(3) angefertigt wird. Es stellt nun aber keineswegs ein abgeschlossenes Werk dar; in weiterer Folge wird es oft laufend - und keineswegs nur von der „ursprünglichen" Schreiberin oder dem Schreiber -mittels Notizen im Anhang ergänzt, die nicht nur Kochrezepte, sondern auch medizinische Rezepturen oder etwa Zubereitungsanleitungen für Färbemittel enthalten können.(4)
Somit erweiterte sich die zu vermutende ursprüngliche Herstellungsabsicht der Handschrift als Nachschlagewerk oder Handbuch um ihre Verwendung als Notizbuch für thematisch verwandte Einträge.
Obgleich handgeschriebene „Frauenkochbücher"(5) in relativ großer Zahl überliefert vorliegen, sind die Texte bislang allerdings weder für die Sprachgeschichte noch für die Sozialgeschichte des Lesens und Schreibens ausreichend ediert und ausgewertet. Die Ausnahmen darunter stellen vor allem die Koch- und Hausbücher der Frauen aus dem Umfeld berühmter Männer (darunter Goethes Großmutter Anna Margaretha Justina Lindheimerin, Johanne Wilhelmine Cotta oder das Kochbuch aus dem Umkreis der Brüder Grimm) dar, die zum Teil in philologisch gut erschlossenen Ausgaben vorliegen.(6)
Die frühen deutschen Kochbücher vom 14. bis zum 16. Jahrhundert sind in recht hohem Ausmaß erschlossen und erforscht, wobei dies sowohl auf die Druckwerke als auch die Handschriften zutrifft. Viele der handschriftlichen Kochbücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, worunter auch die „Frauenkochbücher" zu verstehen sind, liegen bis dato bibliographisch nicht ausreichend erfasst vor und sind, wenn sie sich in Privatbesitz befinden, auch nicht systematisch benutzbar. Hinsichtlich gedruckter Kochbücher, die aus der selben Zeit datieren, ist es um die bibliographische Erschließung besser bestellt als bei den Handschriften und die öffentlichen Bibliotheken führen reichhaltigere Bestände.(7) Durch Editionen können diese Texte einem größeren Interessentenkreis zugänglich gemacht werden und dadurch natürlich auch der Forschung und weiteren Bearbeitung zur Verfügung gestellt werden.
Die Kochbücher sind unter die Textsorte „Gebrauchstext"(8) einzuordnen und bieten - anders als die meist gedruckten literarischen Quellen - einen Einblick in den Sprachgebrauch von Privatleuten und nicht (wie in den Sprachgeschichten) von Schriftstellern.(9) Obgleich nicht pauschal angenommen werden darf, dass es sich bei den Verfasserinnen und Verfassern um Personen handelt, die den Umgang mit der Schriftsprache nicht professionell beherrschen, zeigt sich in manchen Texten ein deutlicher Gegensatz zur überregional ausgeprägten Schriftsprache der Kanzleischreiber oder der Dichter.(10) Sprachgeschichtlich liefern die Kochbuchtexte Aufschluss über den für die Entstehungszeit charakteristischen Fachwortschatz sowie über die Syntax und die Textorganisation. Im Gegensatz zu den zeitlich kongruenten gedruckten Kochbüchern spiegelt sich darin der Grad der Verbreitung bestimmter Textmerkmale in weiten Kreisen der Bevölkerung wider. So zeigen etwa Fremdwörter, die in gedruckten Texten aufscheinen, mit einer geringeren Zuverlässigkeit, ob diese Wörter auch tatsächlich Verwendung fanden. Findet man sie jedoch in handschriftlichen Kochbuchtexten, so lässt sich auf einen höheren Grad ihrer Geläufigkeit schließen. Auch der Sprachstand der Texte zeigt in hohem Maße regionale Kennzeichen; diese verdeutlichen, wie sehr im 18. Jahrhundert die private Schriftlichkeit im Gegensatz zur Verschriftlichung in der Standardsprache von Variation und regionalen Kennzeichen geprägt war. Die Kochbuchhandschriften liefern jedoch auch Aufschlüsse über die Bildungsvoraussetzungen der Frauen zur damaligen Zeit sowie über die Sozialgeschichte des Lesens und Schreibens im Allgemeinen. So können sowohl aufgrund der Sorgfalt, mit der die jeweilige Handschrift verfasst wurde als auch der Gleichmäßigkeit der Rechtschreibung und der Komplexität des Satzbaus vorsichtige Rückschlüsse über den Grad der Ausbildung der Schreiberin oder des Schreibers (die als stellvertretend für die Masse der Schreibenden anzunehmen sind) gezogen werden.(11)
Die Erschließung einer Kochbuchhandschrift am Beispiel des UBG Ms. 1963
Analyse des Beschreibstoffes
Die vollständige Bearbeitung einer Handschrift schließt auch ihr physisches Erscheinungsbild mit ein. Der Buchblock an sich und in weiterer Folge das Papier, der Einband und die Ausstattung bergen wertvolle Informationen über die Herkunft und die Verwendung des Buches, die sich über die Texte und das Schriftbild allein nicht ermitteln lassen.
Zur Erforschung der Wasserzeichen wird eine biegsame und homogen leuchtende Folie herangezogen, die es durch ihre geringe Stärke von einem Millimeter ermöglicht, Handschriften schonend zu bearbeiten. Die erkennbaren Teile der Wasserzeichen werden in Folge auf eine durchsichtige Kunststofffolie übertragen und zur weiteren Bearbeitung eingescannt. Die Verteilung und das etwaige Fehlen der Wasserzeichen wird mit Hilfe eines (beispielsweise in Microsoft Excel generierten) Protokolls festgehalten, in welches auch die Anordnung der Lagen eingetragen wird. Im Lagenprotokoll werden Zusatzinformationen festgehalten, die etwa die Nummerierung (die ursprünglich oder nachträglich hinzugefügt sein kann) oder fehlende Seiten betreffen.
So kann der Buchblock des „Frauenkochbuches" UBG Ms. 1963 aufgrund der kodikologischen Analyse regional eingeordnet werden. Durch die im Papier vorhandenen Wasserzeichen sowie aufgrund der Beschaffenheit des Beschreibstoffes selbst und durch die Anordnung der Lagen können Rückschlüsse auf die Papiermühle, in der das Papier hergestellt wurde, gezogen werden. Aufgrund der Wasserzeichen ist das UBG Ms. 1963 eindeutig der Papierfabrik Thalberg, die bis 1888 nördlich von Rohrbach an der Lafnitz in der Oststeiermark gelegen war,(12) zuordenbar. Charakteristisch für das dort hergestellte Papier sind seine grobkörnige Struktur, die nachlässige Sortierung und die häufig ungeschickt erfolgte Bearbeitung des Materials. Es ist voller unregelmäßiger dunkler Punkte, Knoten und Einschlüsse, die in Größe und Form variieren.(13) All diese Beobachtungen finden sich auch bei der Untersuchung des UBG Ms. 1963 wieder: Das Papier ist von minderer Qualität: Es ist grob gekörnt und weist durch die faserigen Störungen einen bläulichen Unterton auf, überdies schimmert die Schrift oftmals bräunlich auf die nächste Seite durch. Die Wasserzeichen kommen unsystematisch aufrecht oder auf dem Kopf stehend vor und die Anordnung der Lagen erscheint beliebig.
Der Einband besteht aus einem Ganzband, unter dessen dunkelgrün marmoriertem Papierüberzug aufgrund starker Abschabungen der aus Graupappe bestehende Buchdeckel hervorschimmert. An schadhaften Stellen des Buchrückens sind deutlich die zum Einbinden verwendeten Makulaturbogen, die Frakturtypen aufweisen, erkennbar. Weder am vorderen noch am hinteren Deckel sind Prägungen oder Spuren von Druckschrift zu finden, wodurch die Annahme, es handle sich hierbei um ein (vermutlich im Handel erworbenes) Notizbuch, durchaus berechtigt erscheint. Die Handschrift ist durchgehend aus Unio-Lagen aufgebaut, die durch Fadenheftung miteinander verbunden sind.
Die Handschrift ist gut erhalten und weist bis auf Wasserflecken und Verschmutzungen, ausgeprägte Tintenflecken und nahezu durchgängig auf jedem Blatt vorhandene Fettflecken am Fuß lediglich die aufgrund der schlechten Papierqualität durchscheinenden Schriftzüge der jeweils vorangegangenen Seite auf, wodurch jedoch die Lesequalität nicht beeinträchtigt wird. Sieben Blätter, die vom Buchbinder bei der Herstellung des Buchblocks vermutlich zu knapp bemessen wurden, zeigen am vorderen Schnitt einen Büttenrand. Auf den Seiten ist Löschsand erkennbar, woraus sich schließen lässt, dass die Handschrift an einem „ordentlichen Schreibpult, vielleicht sogar von einem professionellen Schreiber"(14) angelegt wurde und vermutlich niemals direkt in der Küche (etwa neben dem Herd liegend) verwendet wurde.
Schrift, Schriftraum und Ausstattung
Der Hauptteil der Handschrift wurde von einer einzigen Schreiberhand angefertigt und bildet eine abgeschlossene Einheit. Die Rezepte besitzen durchgehend eine unterstrichene und fett abgesetzte Überschrift; im hinteren Teil befindet sich ein ausführliches Glossar. Jede Seite ist mit einer Paginierung versehen. Auf den letzten beiden unpaginierten Seiten, die vom Hauptschreiber frei gelassen wurden, sind Nachträge von einer anderen Hand zu finden, ebenso wurden an der hinteren Innenseite des Buchdeckels drei kleine Rezeptblätter eingeklebt. Wie bereits bei Heike Gloning ausgeführt,(4) zeigt sich hieran die nachträgliche Erweiterung der Handschrift. Zusätzlich zu den Nachträgen sind auch Bildwerke zu finden: An der Innenseite des vorderen Buchdeckels haftet der Schattenriss einer „Dame in den besten Jahren"(16), auf der zweiten Seite prangt ein Schmuckblatt mit der kolorierten Tuschezeichnung eines Herdes und auf der hinteren Buchdeckelinnenseite klebt zu guter Letzt noch ein Gnadenbild aus Mariazell in der Steiermark.
Mehrstufige Edition der Handschrift
Die Edition der Kochbuchhandschriften ist die Basis der Forschungsarbeit. Ein Grundgedanke hinter dem Editionskonzept besteht aus dem Bestreben, nachhaltige Standards zu erarbeiten. Diese sollen eine qualitativ hochwertige, langfristig gültige und den individuellen Bedürfnissen der Benützerinnen und Benützer angepasste Textgrundlagen garantieren. Derzeit ist es allerdings leider der Fall, dass es keine übergreifenden Verbindlichkeiten zur Editionserstellung gibt, die jedoch unverzichtbar wären: Im schlimmsten Fall kann es dazu kommen, dass Bearbeitungen aufgrund veralteter Speicherformate vollkommen unbrauchbar werden oder wegen fehlender Transparenz nachträglich langwierig bearbeitet oder umgearbeitet werden müssen.
Eine XML(17)-basierte digitale Edition ermöglicht im Gegensatz zu „herkömmlichen" kritischen Editionen neue Erschließungsformen des Textes sowie neue Formen der Analyse und der Recherche. Grundlegend ist die Trennung von Daten und ihrer Repräsentation, um Daten beispielsweise einmal als Tabelle und einmal als Grafik ausgeben zu können, aber für beide Arten der Auswertung die gleiche Datenbasis im XML-Format zu nutzen. Aus dem derart modellierten Text lassen sich multiple Repräsentationsformen generieren, wie etwa HTML, PDF oder die Vorlage für eine Druckausgabe. Somit erleichtert sich die Forschungsarbeit um ein Vielfaches, da die gewünschten Daten nicht erst mühsam herausgefiltert werden müssen und der Text problemlos etwa in Webseiten eingebunden werden kann. Bei der Transliteration wird - wiederum aus dem Bestreben nach Standardisierung - den Empfehlungen des TEI Konsortiums(18) gefolgt. Aufgrund der Eigenschaften von XML ist es möglich, Zusatzinformationen wie Graphe, die nicht mehr in unserem Schriftsystem gebräuchlich sind (wie etwa das Schaft-s) zu erfassen und es dem Benützer freizustellen, sich die Informationen anzeigen zu lassen oder nicht.
Es gibt drei grundlegende Stufen bei der Editionserstellung: Zunächst wird ein digitales Faksimile (Digitalisat) angefertigt, wodurch es stets möglich ist, die Edition anhand des „Originals" zu überprüfen. Der zweite Schritt besteht aus einer deskriptiven Basistransliteration, in der alle Auffälligkeiten festgehalten werden, worunter etwa Sonderzeichen, Tilgungen oder verderbte Stellen zu verstehen sind. Auf Basis dieser Transliteration wird nun im dritten Schritt der Lesetext erstellt, der die geeignete Textgrundlage für weitere Bearbeitungen bietet.
Vom Text zum Tisch: die Adaption historischer Rezepte
Mit der Editionserstellung allein ist es nicht getan: Bis historische Rezepte tatsächlich „alltagstauglich" sind und problemlos nachgekocht werden können, sind noch einige grundlegende Bearbeitungsschritte notwendig, die nachstehend erläutert werden.
Glossarerstellung - die Suche nach dem Unbekannten
Da viele der in den Rezepttexten vorkommenden Zutatennamen oder Bezeichnungen für Arbeitsvorgänge heute nicht mehr geläufig sind, muss zunächst ein Glossar erstellt werden, in dem diese Begriffe erläutert werden. Zu diesem Zweck ist es wichtig, ein ausreichend großes Textkorpus zu erstellen, das aus verschiedenen Kochbuchhandschriften (aus einem ähnlichen Zeitraum) besteht, um Vergleichsmöglichkeiten zu haben.
Ein Beispiel dafür, wie sich die oftmals langwierige Suche nach einem unbekannten Wort gestalten kann, bieten die „Porthugesser" (zu finden im UBG Ms. 1963, Fol. 8v). In der Kochbuchhandschrift lautet das Rezept „Schunken in süsser Limmony Sooss.", in dem sie genannt werden, folgendermaßen (der senkrechte Strich markiert das Zeilenende):
Nehme einen geselchten Sauschunken, wasche ihn | sauber aus, siede ihn schön weich, hernach nehme | süsse Lemony, Porthugesser, und ein Stück Zucker | reibe die Portugesser auf den Zucker ab, thue es | in ein Reindl hinein, so viel das man glaubt, das | es schön gelb wird, druck den Lemoni und Portugeser | Saft hinein, darnach du viell oder wenig machen | willst, schütte ein wenig Wein darauf, leg einen | Zucker darein, laße es eine weille stehen das | er auflöst, <...>
Es ist ersichtlich, dass es sich bei den „Porthugessern" um ein Nahrungsmittel handeln muss, dessen Schale abgerieben werden kann und das gemeinsam mit den Zitronen ausgepresst wird. In einschlägigen Lexika ist unter dieser Bezeichnung jedoch nichts zu finden; erschwert wird die Suche auch durch die unterschiedlichen Schreibvarianten des Wortes (im vorliegenden Textausschnitt „Porthugesser" sowie „Portugeser"). Erst durch Vergleiche mit dem von Hans Zotter edierten UBG Ms. 1967, dem „Koch Buch von Theresia Müller"(19), in dem auf Fol. 55r „Portogeßer" als Zutaten für eine Torte angegeben werden, wird ersichtlich, dass es sich bei besagten „Porthugessern" um Früchte handeln muss, die ähnlich wie Zitronen ausgepresst werden können. Das Hauptaugenmerk gilt nun also Südfrüchten, die im 18. und 19. Jahrhundert in Österreich relativ gängig verkauft wurden. Die Homepage von Gernot Katzer(20) liefert Informationen und Hinweise über mehr als 117 Gewürzpflanzen, wobei Etymologie, Herkunft und Synonyme für die jeweilige Pflanze ausführlich dargelegt sind. Dadurch ist es beispielsweise möglich, unter dem Stichwort „Orange" den Pflanzennamen in 78 Sprachen zu vergleichen und die „Porthugesser" schließlich demzufolge als solche einzuordnen. Laut Katzer ist die Orange in einigen südosteuropäischen Sprachen nach Portugal benannt, dem ehemaligen Hauptimportland für süße Orangen. So heißt sie in Bulgarien „portokal" <портокал>, auf Griechisch „portokali" <πορτοκάλι>, auf Rumänisch „portocală" und auf Georgisch „portokhali" <ფორთოხალი>. Auch in süditalienischen Dialekten (Neapolitanisch) heißen Orangen „portogallo" oder „purtualle", was soviel wie „die Portugiesischen" bedeutet.
Anhand des Textausschnittes zeigt sich ein weiteres Merkmal der Rezepttexte: Maß- und Gewichtsangaben fehlen häufig. Werden sie angeführt, so geschieht dies nur bei besonders teuren Zutaten wie etwa seltenen Gewürzen oder bei Backrezepten, bei denen die Ausgewogenheit der Ingredienzien für das Ergebnis unverzichtbar ist. Ebenso fehlt die Erläuterung einzelner Arbeitsschritte ganz oder ist nur höchst ungenau, da vorausgesetzt wird, dass die Rezipientin oder der Rezipient im Kochen bereits ein hohes Maß an Übung besitzt. Daher wird, wie bei den Maßen oder Gewichten, nur dasjenige angeführt, das den Rahmen des Alltäglichen überschreitet. Des Weiteren ist zu bemerken, dass in diesen Rezepten keine Convenience-Produkte Verwendung finden. Der Begriff „Convenience-Food" bezeichnet nicht nur Fertigmahlzeiten, sondern alle ganz oder zum Teil vorgefertigten Komponenten, die dabei helfen, die Zubereitungszeit zu verkürzen. Suppenbrühwürfel oder Tiefkühlgemüse gehören ebenso wie Nudeln oder Tiefkühlgerichte dem Bereich der Convenience-Produkte an.(21) Um etwa 1845 entwickelte Justus von Liebig seinen berühmten Fleischextrakt, der als eines der ersten Convenience-Produkte anzusehen ist und mit durchschlagendem Erfolg bis heute verkauft wird.(22) In der Küche vor der Mitte des 19. Jahrhunderts existieren solche Fertigprodukte jedoch nicht; die Rezepttexte aus dieser Zeit können daher einen Einblick in eine „ursprüngliche", also nicht von chemischen Zusatzstoffen kontaminierte, Art und Weise, Gerichte zuzubereiten, bieten.
Das „Erzherzog-Johann-Kochbuch"
Wichtige Vorarbeit für eine zeitgemäße Adaption historischer Speisen wurde von Herta Neunteufl in den 1990er Jahren für den steirischen Raum geleistet. In ihrem „Erzherzog Johann Kochbuch"(23) nahm sie neben der Transkription der Rezepttexte - die aus mehreren Rezeptsammlungen, darunter dem „Kochbuch für die Anna Plochl" stammen(24) - die Umrechnung von heute nicht mehr gebräuchlichen Gewicht- und Maßeinheiten wie Loth, Quintel, Vierting, Pfund, Seidel oder Maß vor und erstellte ein Glossar, in dem vergessene Begriffe ge- und erklärt werden. Ebenso rechnete sie die für die Familien- und Kochgemeinschaften des 18. und 19. Jahrhunderts konzipierten Mengenangaben auf vier Personen um, wodurch die Rezepte von jedermann nachgekocht werden können. Entscheidend für das Gelingen der im Kochbuch versammelten Gerichte waren jedoch befreundete Kocherfahrene, die Neunteufl dabei halfen, die Rezepte in Hinblick auf ihr Gelingen und ihre Genießbarkeit zu testen.(25) Die von dem renommierten steirischen Koch Willi Haider unter Mitarbeit von Günther Jontes bearbeitete Neuausgabe(26) des Erzherzog Johann Kochbuches aus dem Jahr 2009 basiert auf Neunteufls wissenschaftlicher und praktischer Vorarbeit und bezieht wertvolle Erfahrungen, die seit dem Erscheinen des Kochbuches mit den Rezepten gemacht wurden, mit ein.
Haider befragte zu diesem Zweck Wirte und Köche in der Steiermark hinsichtlich ihrer Erlebnisse mit den Rezepten aus dem Biedermeier und bat zusätzlich die Mitglieder einer befreundeten Kochrunde darum, die Mehlspeisrezepte aus Neunteufls Buch auszuprobieren und ihm ihre Erkenntnisse zu präsentieren. Aus den gesammelten Erfahrungsberichten, die Vorschläge, Neukreationen und Rezeptänderungen umfassten, erstellte Haider schließlich die Neuausgabe des Kochbuches.(27)
Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass es ohne adäquate wissenschaftliche Vorarbeit nicht gelingen kann, nach historischen Rezepten zu kochen. Anhand des Erzherzog-Johann-Kochbuches fügen sich alle Arbeitsschritte, die zur Erstellung einer Edition bedeutsam sind, zu einem nachvollziehbaren Ergebnis zusammen. Zunächst muss das Material - also die Kochbuchhandschrift an sich - digitalisiert und somit „haltbar" und einsehbar gemacht werden. Denn sonst kann es geschehen, dass das historische Material unbrauchbar wird und somit für die Nachwelt unwiederbringlich verloren ist. Das „Kochbuch für die Anna Plochl" aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist heute aufgrund der schlechten Papierqualität vollkommen unlesbar geworden; Herta Neunteufl konnte die historische Quelle noch einsehen, gegenwärtig gibt es diese Möglichkeit allerdings nicht mehr.(24) Etwaige Lesefehler oder Missinterpretationen der Wissenschaftlerin sind heute nicht mehr überprüfbar - es wäre also durchaus denkbar, dass sich einige der nach Neunteufl nicht verwendbaren Rezepte nach erneutem Studium des Originaltextes durchaus zubereiten ließen. Durch die Erstellung einer Edition werden die Rezepttexte lesbar und antiquierte Begrifflichkeiten, die aus dem Alltagswissen verschwunden sind, wieder verständlich. Zusätzlich ist es wichtig, den historischen Kontext, in den die Rezepte eingebettet sind, in die Analyse mit einzubeziehen, um etwa zu wissen, dass ein Maß - auch wenn es gleich benannt ist - nicht in jeder Region zu jeder Zeit die gleiche Einheit bedeutet.
Zu guter Letzt sind die Köchinnen und Köche wichtig, die ihre Zeit und ihre Erfahrung dafür einsetzen, den Rezepttexten durch praktische Versuche wieder neues Leben einzuhauchen.
Das Interesse an historischen Rezepten ist ungebrochen, wie sich etwa anhand regionaler Initiativen der Steiermark zeigt; hervorzuheben wären hierbei die kulinarische Aktion „Anna kocht ...", initiiert von den steirischen Mitgliedsbetrieben der BÖG sowie die Aktion „Erzherzog-Johann-Kulinarik", bei der von einigen der rund 35 „Wirte mit Herz" der Regionen Ennstal und Ausseerland Speisen nach dem Erzherzog-Johann-Kochbuch angeboten werden.
Gerade die „Frauenkochbücher" bergen einen reichen Schatz an Gerichten, die den Wünschen nach einer „natürlichen", also saisonalen und regionalen Küche entsprechen und ermöglichen durch ihren Verzicht auf chemische Zusatzstoffe eine Ernährung, die transparent ist - also tatsächlich den Verbraucher über die Qualität der verwendeten Ingredienzien entscheiden lässt - und ohne „schlechtes Gewissen" auskommt.
Literatur:
Convenience-Food. In: Essen & Co. Das ABC der Lebensmittel. http://www.essen-und-co.de/lm03a3.html, 25.02.2011.
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Eineder, Georg (1960): The ancient paper-mills of the former Austro-Hungarian empire and their watermarks. Holland: Hilversum.
Gloning, Heike (1997): Handschriftliche Frauenkochbücher des 17. und 18. Jahrhunderts als Editions- und Forschungsaufgabe. Das „Koch Buöech gehörig Maria Verena Gaÿßerin jn Riedlingen A: 1710". In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Tl. 2. Amsterdam: Rodopi, S. 829-847.
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Gloning, Thomas (2002): Textgebrauch und sprachliche Gestalt älterer deutscher Kochrezepte (1350-1800). Ergebnisse und Aufgaben. In: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum internationalen Kongress in Berlin, 20. bis 22. September 1999. Hrsg. von Franz Simmler. Bern (u.a.): Lang, S. 517-550.
Haider, Willi (2009): Das Erzherzog-Johann-Kochbuch von Herta Neunteufl. Neu bearb. und hrsg. von Willi Haider. Graz: Leykam.
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Zotter, Hans; Zotter, Heidi (1979): Wohl bekomm's! Alte Bücher übers Kochen und Essen. Ausstellung der Universitätsbibliothek Graz, 10.-22. Dezember 1979. Graz: UB Graz.