Seit annähernd zwei Dekaden zeigt sich - wie im Einleitungsartikel schon gesagt - eine Vorliebe für Regionales, gepaart mit dem Verlangen nach „Authentizität"; die aus Aufgreifen und Umsetzung von Tradition rühren sollte.(1) Tradition und Neuheit aber bilden im Ernährungsbereich eine „Antinomie".(2) Bis in die 1980er Jahre hatte das Streben nach Neuigkeiten auf Tisch und Tafel vorgeherrscht, wie es etwa die Nouvelle Cuisine zu befriedigen suchte. Danach schlug das Pendel zurück, in Richtung Tradition. Im Agrarmarketing wurden und werden „Ursprung", „Heimat", „Natur" hervorgehoben. Das Design der Lebensmittelverpackungen und die Werbeslogans simulier(t)en eine heile ländliche Welt, wo glückliche Kühe und dito Menschen einträchtig zusammen hausen. Man kann das als Antinomie formulieren: Je industrialisierter die Herstellungsprozesse, desto nostalgisch-handwerklicher die Bilder. Das System „Küche" als das berühmte Marcel Mauss'sche „fait social total" spiegelt das und drückt es aus. Regionale Küche ist gesucht, gefragt, bildet einen Teil der Folklore und einen Faktor im Tourismus. Nach einschlägigen Umfragen erwarten Gäste als Teil ihres Urlaubsvergnügens eine regionale, „authentische" Küche.(3)
Die „Bayerische Küche" scheint perfekt zu diesen Anforderungen und auch vor diese Kulissen zu passen, mutet sie doch prima vista regional, traditionell, ländlich, geerdet an. Das sollen auch „nostalgisch" aufgemachte Bilder zeigen, in der Tourismuswerbung, bei Lokalbeschreibungen, in deren Speisekarten, betextet mit mehr oder weniger (geglücktem) dialektalem Einschlag. Die berüchtigten Diminutive auf „-erl" (Pfanderl, Schnitzerl) ziehen sich flächendeckend durch; mit diesen sind wir übergangslos in den Kochbüchern angekommen. Deren Bebilderung unterliegt gleichem wuchtigem Klischee: angeschlagene Reindl auf blanken Holztischen, karierte Servietten, rustikales, generationenlang genutztes Besteck und Geschirr usw.(4)
In diesen Büchern wird eine Reihe von quasi „klassischen" Gerichten gekocht, die ohne Weiteres und ohne weitere Erklärungen als traditionell „bayerisch" gelten. Gibt es einmal eine Erläuterung - dann vor allem eine mythische Herkunftsgeschichte: So soll der Schweinsbraten auf die alten Kelten zurückgehen. Mit „Geschichte(n)" verkauft sich auch das Essen besser.
Bei genauerem Zusehen stellt sich umgehend heraus, dass fast alle solche Geschichten nicht auf sicheren Grundlagen, auf Forschung und Recherche basieren, sondern dem Mythenbaukasten entsprangen. Denn der Zustand der einschlägigen Forschung ist defizitär. Dafür lassen sich diverse Gründe nennen, einer davon ist sicher in Wissenschaftskreisen das Verdikt „trivialer Forschung", mit der sich niemand eine Karriere verbauen wollte/will. Angesichts dieser Situation müssen für die Forschung erst einmal breit angelegte strukturelle Grundlagen geschaffen werden.(5) Die notwendigen Ressourcen stellen vor Probleme. Angesichts der bekannten Engpässe bei der Forschungsförderung und dem Image der historischen Ernährungsforschung ist hier nichts zu erwarten. Tourismus und Gastronomie stecken ihr Geld lieber ins Marketing.
So verbreitet, ubiquitär „Bayerische Küche" vorkommt, so seltsam steht der Befund einer ersten Sondage da:
These 1: Es gibt weder eine Definition, was unter „Bayerischer Küche" zu verstehen ist, noch eine einschlägige wissenschaftliche Abhandlung.(6)
Der Begriff wird gewöhnlich ohne jede weitere Erklärung verwendet, wie etwa Vorworte, Einleitungen und Inhalte vieler jüngerer (und älterer) Kochbücher belegen.
Aus all dem entsteht die
These 2: „Bayerische Küche" ist das, was jede/r darunter verstehen will.
Den Beweis treten stellvertretend Andreas Geitl(7) und Alfons Schuhbeck an. In Geitls „Genial bayerisch" finden sich Kokos-Curry-Cappuccino, Sellerie-Birnen-Cappuccino, Kastanien-Cappuccino, dazu „Teespaghetti mit gebratenen Garnelen". Man fragt sich dann: Wird derlei bayerisch, weil es auf bayerischem Boden zubereitet wird? Die Zutaten sind es nicht. Wird es bayerisch, weil es ein Koch/eine Köchin aus Bayern zubereitet und es der Bayerische Rundfunk sendet? Wie bayerisch ist eine „bayerische Bouillabaisse", ein „Leberwurstgröstel mit Himmel und Erde" oder ein „Hirschspieß mit Kaffeesauce"? Nirgends eine Antwort.
Im bayerischen Kochbuch von Schuhbeck finden sich u.a. Rezepte für Barbarie-Entenbrust, Bayerisches Kraut mit Quitte, Böfflamot, Böhmische Serviettenknödel, Champagner-Risotto, Spaghettini mit Chili, Farfalle mit Krebsen, Geeisten Kaiserschmarrn, Kaspressknödel, Topfen-Mohn-Spätzle, Rösti-Variationen, Süß-sauren Saibling, ... Das ist aus allen Himmelsrichtungen her eingesammelt, vorwiegend aber aus der „Österreichischen Küche".(8) Lassen wir einmal beiseite, dass auch der Begriff „Österreichische Küche" so seine Eigenheiten hat.(9) Aber kann beides einfach gleichgesetzt werden? Oder drückt sich, den Begriff von Rittersma nutzend, hier „Küchenchauvinismus"(10) aus, oder gar „Imperialismus"? Die Bayerische Küche quasi als die „Urküche" oder Summe aller Küchen? Ironischerweise deckt sich Schuhbecks weitgreifende Herholung kartographisch ungefähr mit den Grenzen der größten Ausbreitung Bayerns - im 10. Jahrhundert.
Da beide Köche durchaus exemplarisch stehen, ergibt sich
These 3: Jeder Koch macht seine eigene „Bayerische Küche".
Wenn dem heute so ist, wie war das vordem, etwa im 18./19. Jahrhundert? Um die Frage zu beantworten, wurden Kochbücher herangezogen, die dem Titel nach einschlägig erschienen, von den Köchinnen(11) Johanna Maria Huber, Crescentia Buchner, Maria Katharina Daisenberger, Anna Maria Neudecker, Margaretha Völckel.(12) Die Suche erbrachte in ihnen, bei
Zum Vergleich herangezogen wurden:
Die Autorinnen erwähnen, mit Ausnahme von Neudecker, nicht, warum sie den Titel wählten. Neudecker erläutert, dass sie aus Bayern kommend in Böhmen arbeite. Ihr Buch entspringt ihrer Hotelküche. Es ist, wie die anderen Kochbücher auch, aus französischen Wurzeln/Rezepten gespeist und bietet die damalige eher „international" ausgerichtete Küche, etwas „abgespeckt" für eine (groß-)bürgerliche Klientel. Die Adressaten waren Frauen aus der bürgerlichen Mittel-/Oberschicht.(13) Die sehr wenigen dort explizit als „bayerisch" apostrophierten Gerichte sind alle einfacherer Art. Daraus ergibt sich
These 4: Ältere Kochbücher enthalten trotz des Titels keine „Bayerische Küche".
Wo könnte sie sich noch finden? Auf dem Lande? Es gibt durchaus Quellen, wie Physikatsberichte, Reisebeschreibungen, Rechnungsbücher, doch diese sind zum größten Teil nicht ausgewertet.(14) Was sich nach Ausweis eines Katalogaufsatzes auf dem „Gäu" findet, lässt sich knapp zusammenfassen, es war die Trias von: Mehl-, Schmalz-, Milch-Speisen. Fleisch kam allenfalls an den fünf Festzeiten, zu Taufen und Hochzeiten auf den Tisch. Ein Bericht aus einem Gutsbetrieb von 1872 hielt fest, dass der Wochenspeiseplan seit ca. 250 Jahren unverändert bestehe, und zwar aus: Mehlschmarren, Semmelknödel, Nudeln mit Kraut, Knödel mit Kraut, Nudel mit Gemüse, Semmelschmarren, Fleischknödel.(15)
Damit aber sehen wir die Trennung in die Stände und ihre Küchen, die sich bis weit ins 20. Jahrhundert hielt:
Letzteres entspricht einer (klein-)bürgerlichen Küche, mit eher billigeren Zutaten, den Innereien. München würde aber mit dem vergleichsweise teuren Kalbfleisch aus dem Rahmen fallen. Zu untersuchen wäre dieses Konsummuster auf Realität und im Vergleich zum Rindfleischverzehr in Wien, der allerdings vom Hof subventioniert wurde.
Aber wo kommt nun das her, was allgemein als „Bayerische Küche" gilt? Was gilt überhaupt als solche? Udo Pini(19) versieht in seinem Lexikon mit „bayerisch": Senf, Leberkäs, Kraut, Creme, Ochsen, Haxn, Backhendl, Spanferkl (!), Würstl, Knödl, Presssackl (!), Obazter, Steckerlfisch, Bier. Wie er zu seinem Wissen kommt, bleibt offen, es ist eine allgemeine Deskription. Außer Kraut, Creme, Würstl ist sie „literarisch" nicht begründet, Senf, Ochsen, Backhendl etc. finden sich auch anderweitig. Was bei ihm, in wiederum falschen Diminutiven, steht, führt zur Vermutung:
These 5: „Bayerische Küche" ist aus der (Fern-)Ansicht des in Biergarten/Bierschwemme Aufgetischten genommen.
Im Großen und Ganzen sieht obige Liste nach Biergarten und Oktoberfest aus. Das lässt sich weiter präzisieren:
These 6: Was unter „Bayerischer Küche" läuft, sind einige Gerichte,(20) die ihre Stereotypie der Münchner Fremdenverkehrswerbung um 1900 verdanken und sich mit ihr verbreiteten.(21)
Das entspricht keiner Ess-Realität auf dem Gäu und in den Städten, allenfalls einer in den Münchner Bräuschänken. Sie wurde aber sichtlich erfolgreich vermarktet und kam den Interessen der Brauereien, der Gastronomie, des Tourismus sehr entgegen. Nach den Notzeiten von 1914 bis ca. 1960 gelang der nahtlose Anschluss. Das ist quasi ein Selbstläufer, der munter weiter kolportiert wird und die Touristen in die einschlägigen Etablissements schwemmt. Sie gehört zur Folklore, wie vordem die weit verbreitete Miesbacher Tracht bei deren Erhaltungsvereinen. Sie ist kanonisiert und deswegen fand keine Weiterentwicklung statt.
These 7: Diese petrifizierte „Bayerische Küche" hat kein Potenzial, außer für den Tourismus.
Was lässt sich aus „Senf, Leberkäs, Kraut, Haxn, Backhendl, Spanferkl, Würstl, Knödl, Presssackl, Obaztem, Steckerlfisch"(22) schon machen? Auf der anderen Seite, was aus der Tradition von: Bavaroise, Boef à la Mode, Bohnen, Dampfnudeln, Fastenknödel, Karpfen, Kugelhopf, Rostbraten, Rüben? Das mag mit ein Grund sein, warum sich diese Küche auch nicht weiterentwickelte und kulinarisch stehen blieb. Denn wenn man die neueren Kochbücher ansieht, findet man den Griff zu Rezepten und Produkten aus anderen Ländern, die kreativ interpretiert „eingebayert" werden - aber keinen Rückgriff auf ältere einheimische Rezepturen. Es wurde geographisch in die Breite, nicht historisch in die Tiefe gegangen. Das ist verständlich, eine „fusion" von italienisch mit asiatisch geht leicht und schnell, Material als Anregung gibt es genügend. Das aber fehlt für den historischen Bereich. Es sind kaum Quellen bearbeitet, etwa handgeschriebene Kochbücher, Rechnungsbücher, auch Scans liegen eher nur zufällig vor. Das bezieht sich auf das ganze Land - mit Folgen:
These 8: Diese „Bayerische Küche" überdeckt regionales Potenzial und dessen Nutzbarmachung.
Auch wenn der Forschungsstand defizitär ist, so viel lässt sich immerhin sagen, dass in einigen Landesteilen von Bayern durchaus eine eigenständige Küche existiert/e, beschreibbar in Lebensmitteln und Rezepturen, die sich zu Gerichten zusammensetzen lassen; zu nennen wären Franken, die Oberpfalz, Schwaben.(23) Doch diese schlummern in Archiven, auf Dachböden, in Nachlässen Man müsste sich also einmal Recherchearbeit antun, statt Anleihen zu nehmen oder Nachbarliches einzugemeinden. Gerade unter den Forderungen von „Regionalität" sollte hier energisch geforscht werden, die Sicherung des „Kulinarischen Erbes" böte Anlass wie Notwendigkeit.
These 9: Regionalität lässt sich am ehesten in den bayerischen Landschaften finden, wenn man forscht.
Hier ist wenig geschehen. Das mutet schon erstaunlich an, wenn man die lange Laufzeit von „Regionalismus" sieht. Die bekannten Rezeptsammlungen aus „Großmutters Küche" u. dgl. sind auch nur Folklore.
These 10: Auch für die Wissenschaft, die Bayerische Geschichte, könnten diese Arbeiten neue Erkenntnisse bringen.
Zu fragen wäre etwa nach dem Zusammenhang von Monarchiegründung und „Nationalküche", bzw. Föderalismus und „Landesküche", warum gerade diese Stereotype so prägend wurden, nach dem unreflektierten „Traditionalismus", den realen Gegebenheiten auf dem Land, warum immer noch lieber die Klischees gepflegt und vermarktet werden - und die Erforschung und Nutzbarmachung nicht vorankommt?