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Lebensmittel in der zeitgenössischen Kunst. Eine gastrosophische Betrachtung

Elisabeth LONSKI-PILAWA.   

Es ist die Selbstentfremdung des Menschen von der Natur, die das Interesse an Ernährung plausibel macht.

Macht man sich bewusst, dass die tägliche Nahrungsaufnahme nicht nur lebensnotwendiges Übel ist, sondern regionale und globale Prozesse auslöst und die menschliche Existenz und die Gesellschaft von der Herstellung, der Vermarktung, der Beschaffung und der Zubereitung abhängig sind, bekommt das Wissen über das Essen eine neue Dynamik. Dabei liegt es auf der Hand, dass die bloße kulinarische Zubereitung nur ein kleiner Teilbereich einer umfassenderen Wissenschaft sein kann. Um nur einige Kernthemen anzusprechen, die die Gastrosophie und damit das soziale Leben beeinflussen, gehören zu dem Nahrungsgeschehen die Wirtschaft, genauso wie die Agrarwirtschaft, die Politik, das Transportwesen, die Kultur, die Gesundheit, der Tourismus, die Kunst, das persönliche Leben und die eigene Identität. Der Franzose Marcel Mauss erklärte das Essen deshalb aus gutem Grund zu einem „sozialen Totalphänomen"(1).

 

Dass die meisten Menschen unserer Gesellschaft die Wichtigkeit guten Essens nicht erkennen, die Mahlzeiten zur Nebensache degradieren und ihm keine wesentliche Bedeutung für die menschliche Existenz zuschreiben, drückt sich in den noch immer stark wachsenden Umsätzen der Fast-Food-Ketten aus. Das Unwissen über und den unbekümmerten Umgang mit Nahrung bestätigt auch der Ernährungsbericht: die übergewichtigen Personen können nicht auf eine gewisse Altersgruppe eingeschränkt werden und ziehen sich von Jung bis Alt. Immer weniger Menschen können kochen, greifen sie doch gerne auf die komfortablen Convenience-Speisen aus den Supermarktregalen zurück, deren Angebot stets erweitert wird. Die Zeit, die in der Küche verbracht wird, hat sich in den letzten 50 Jahren deutlich minimiert und der Anteil des Haushaltseinkommens, der für die Nahrung ausgegeben wird, ist erschreckend geschrumpft. Das Land wird immer wieder von Lebensmittelskandalen erschüttert, die die Bevölkerung zwar mit Entsetzen wahrnimmt, nach dem Verschwinden aus den Medien aber schnell wieder vergessen werden.

 

Trotz Schwarzmalerei am Ernährungssektor ist zu verzeichnen, dass in der Gesellschaft eine Trendwendung oder ein wahrer Gegentrend stattfindet. Unsere Kultur beginnt schön langsam über Essen nachzudenken und eine bessere Haltung zu entwickeln. Immer mehr Menschen stellen die „Fast-Food-Philosophie" infrage. Nicht nur in den Medien findet man heute Diätratgeber, Ratschläge, wie Lebensmittel wirken und zahlreiche Kochsendungen, die ein gastrosophisches Umdenken klar beeinflussen. Aus einer scheinbar nebensächlichen Beschäftigung entsteht plötzlich eine politisch-ökonomische und ethisch-kulturelle Diskussion. Der Bevölkerung wird bewusst, dass die individuelle Ernährung keine private Angelegenheit ist, sondern die Zukunft der Weltgesellschaft stark beeinflusst.(1) Was ist nun der Auftrag an die Gastrosophen?

 

Budgetkräftige Konzerne reagieren bereits auf die neuen Entwicklungen, da sie merken, dass ihre Käufer andere Werte fordern als noch vor kurzem. Im Fernsehen laufen massentaugliche Sendungen undzusätzlich werden zur Aufklärung Filme und Reportagen wie „Food, Inc. - Was essen wir wirklich?", „We Feed the World - Essen global" und „Supersize Me" gezeigt. Dass in unserer Gesellschaft die Qualität unserer Lebensmittel, die Herstellungsverfahren, das Herstellungsland oder sogar die Region neben dem Interesse für alte Traditionen und Ernährungsweisen mittlerweile wieder eine starke Rolle spielen und auf Wissensdurst in der breiten Bevölkerung stoßen, beweisen auch zahlreiche publikumsaffine, weit angelegte, Ausstellungen. Allein in Österreich gab es zu diesen Themen in den letzten Jahren zwei große Landesausstellungen: 2009 zeigte das Land Oberösterreich im Stift Schlierbach die von über 300.000 Besuchern gesehene Ausstellung mit dem Titel „Mahlzeit" zur Kulturgeschichte von Essen und Trinken. Gleich 2011 folgte die nächste Landesausstellung, diesmal in der Steiermark mit dem Titel „Vielfalt und Einheitsbrei. Von der Kultur des Essens".Neben den großen Landesausstellungen feierten auch andere Sonderausstellungen und Veranstaltungen rund um das Thema Essen und Ernährung Erfolge: So konnte 2011 die Firma WIBERG die besonders für Schülergruppen interessante Wanderausstellung „food-design" zeigen. Das Landesmuseum Niederösterreich zeigte in Kooperation mit der Arche Noah, einer Gesellschaft, die sich für das Weiterbestehen, die Verbreitung und die Weiterentwicklung von vielfältigen Kulturpflanzen einsetzt, „Kraut & Rüben - Menschen und ihre Kulturpflanzen".

 

Gesellschaftliche Entwicklungen, Strömungen und Megatrends werden aber nicht nur von Institutionen für die breite Masse aufgenommen, analysiert und hinterfragt, sondern auch gerne (meist schon vorher) vom Kunstbetrieb erkannt. So verwenden nicht nur einzelne Kunstschaffende Lebensmittel als Material oder entwickeln kulinarische Konzepte als partizipatorische Aktionen, sondern auch Museen und Galerien nehmen in den letzten Jahren wieder vermehrt den Themenbereich Essen und Lebensmittel auf, zeigen nicht nur einzelne Exponate, sondern stellen sehenswerte Sonderausstellungen zusammen, die genauso wie die „Publikumsausstellungen"je nach Schwerpunkt zum Ziel haben, die Geschichte aufzurollen, namhafte und plakative Beispiele der Gegenwart zu zeigen und mit Neuproduktionen einen möglichen Blick in die Zukunft zu werfen.

Pünktlich zur Eröffnung der Sommerfestspiele organisierte die Salzburger Landesgalerie im Traklhaus 2009 die Ausstellung „Mahlzeit- Essenin der Kunst", die Werke von österreichischen und internationalen Künstlern präsentierte.Größer als die in Salzburg inszenierte Ausstellung war die Sonderausstellung „Eating the Universe", die zwischen 2009 und 2011 in der Kunsthalle Düsseldorf, in der Landesgalerie im Taxispalais Innsbruck und im Kunstmuseum Stuttgart gezeigt wurde. Mit der treffenden Schlagzeile „Nicht jeder Augenschmaus ist magenfreundlich" betitelten die Salzburger Nachrichten die 2010 in Wien stattgefundene Ausstellung „Augenschmaus. Vom Essen im Stillleben".

 

Für viele Menschen ist die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst heute schwierig, da sie dem früheren Kunstbegriff bei weitem nicht mehr entspricht. Je kühner der Künstler mit den Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst spielt, desto schwieriger wird die Einordnung und dem Betrachter reicht die Definition, alles sei Kunst, was der Künstler als solche benenne, nicht mehr aus. Der Betrachter allein kann Kunst oft nicht mehr als solche erkennen, geht es nicht mehr nur um den Schönheitsbegriff.

Kunst ist allerdings nicht nur ein gesellschaftliches Thema, auch Philosophen und Kunstkritiker üben sich schon seit jeher an einer passenden Definition. War es für Platon noch Ziel, die Wahrheit darzustellen oder zumindest erzieherische und seelenbildnerische Maßnahmen zu setzen, stand für Aristoteles die Nachahmung (Mimesis) im Vordergrund. Dabei war es wichtig, dem Betrachter das Besondere, das Typische, zu zeigen und damit durfte der Künstler übertreiben. Im Mittelalter zählten erstens die Nützlichkeit des Kunsthandwerks und zweitens das Göttliche, das durch die dargestellte Schönheit zu erahnen sein musste. Ganz anders waren dann schon Kants Überlegungen: Er stellte erstmals den Betrachter in den Mittelpunkt und gestand ihm ein ästhetisches Gefühl zur Beurteilung von Kunst zu.

Diese Erklärungen ergeben eine Basis, auf die heutige Kunsttheorien aufbauen, helfen aber bei dem zeitgenössischen Kunstverständnis kaum weiter. Adorno versteht die Kunst als Mittel zum Widerstand und muss das Schlechte darstellen, um ein Leben in einer besseren Realität zu erreichen. Er meinte auch, dass das Kunstwerk zu Interpretationen anregen und dem Betrachter eine Botschaft übermitteln muss. Dantos Theorie ähnelt der von Adorno: Die Interpretation des Kunstwerks ist der Kern, darf aber auch positiv sein. Alltagsgegenstände werden so zur Kunst erhoben, sofern der Künstler nur erklärenkann, wofür das Werk in diesem Kontext steht.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass eine eindeutige Definition des Kunstbegriffs in der zeitgenössischen Kunst schwierig ist, haben sich doch so viele Richtungen und Kunststile parallel entwickelt. Grundsätzlich gilt aber, dass zeitgenössische Kunst von lebenden Künstlern produziert wird und ihre Werke von ihrer Umwelt als bedeutend bezeichnet werden.

 

Auch wenn sich der Zweck und die Symbolik stark verändert haben, ist seit der Höhlenmalerei überliefert, dass es im Wesen des Menschen liegt, Lebensmittel darzustellen. Römische Mosaike helfen den Historikern die Nahrungsgewohnheiten der Römer zu belegen und seit dem 16. und 17. Jahrhundert erfreute sich die Stilllebenmalerei größter Beliebtheit. Die Eat-Art ist allerdings nicht nur die bloße Darstellung von Essen, sie hinterfragt auf gastrosophische Weise die dahinterliegenden Zusammenhänge und erweitert die Wahrnehmungshorizonte. Als Ausdrucksmittel werden dabei Nahrungsmittel unter anderem direkt als Kunstmaterial verwendet.

Daniel Spoerri heißt der Begründer der Eat-Art. Bekannt wurde er durch seine Fallenbilder: Nachdem die Gäste den Tisch verlassen hatten, klebte er die schmutzigen Teller, Gläser, Brotreste und Zigarettenstummel, genauso wie er sie vorgefunden hatte, auf den Tisch auf und hing das Werk vertikal an die Wand. Er konservierte somit die Situation und brachte dem Betrachter das Geschehene näher. Wie andere Künstler auch, beschäftigte er sich mit der Suche nach der Realität, die für ihn eindeutig im Essalltag lag. Ihm war damals schon bewusst, dass das Thema des Essens ein brisantes ist und in Zukunft starke Veränderungen erfahren werde und beschäftigte sich in all seinen Werken mit den Lebensmitteln. Er widmete sich nicht nur der Kunst sondern interessierte sich generell für dievielschichtigen, kulturellen Zusammenhänge der Nahrung.

Joseph Beuys war einer der Eat-Artisten, die die Lebensmittel in das Zentrum ihres Schaffens stellten. Er verwendete Lebensmittel als Kunstmaterial, interessierte sich aber auch für die Produktionsprozesse und die ökologische Landwirtschaft und setzte sich für die Alltagsküche ein. Für ihn galt jeder Mensch als Künstler, der sich auf seine Beine stellt, sein Leben und seine Nahrungsgewohnheiten selbst in die Hand nimmt und dabei beim Kochen etwas Kreatives erschafft. Damit kann jeder Mensch seine Individualität ausdrücken, ethisch richtig handeln und das Angebot der Wirtschaft verändern.

Seine Kunstwerke aus einer unendlichen Zahl von unterschiedlichen Lebensmitteln waren oft Ausdrucksmittel und Metaphern für seine Überlegungen. Beuys war genauso Künstler wie engagierter Politiker und setzte sich für die ökologische Landwirtschaft ein. Er hielt Vorträge und Workshops, in denen er ein alternatives Wirtschaftssystem entwickeln wollte.

 

Erwin Wurm schafft humoristische Skulpturen, die oft Lebensmittel darstellen. So symbolisiert für ihn die Kartoffel eine plumpe, schwerfällige Person oder wie in Comics Gedankenblasen, die sehr schnell zerplatzen. Gurken stehen für Wurm für die Individualität. Jede Gurke ist klar als Gurke erkennbar, jede ist aber einzigartig. In seinen One-minute-sculptures stellt Wurm Anleitungen dar, die von Museumsbesuchern nachgestellt werden können und sie damit selbst zur Skulptur werden. Das Publikum löst sich so von der bloßen Betrachtung des Kunstwerks und wirkt direkt mit. Durch die humorvolle Herangehensweise erreicht Wurm das Publikum und hilft damit das Wesentliche und das Besondere zu erkennen und Standards infrage zu stellen.

 

War die Kunst früher nur für die Oberschicht zugänglich, erhielt sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine neue Richtung: Künstler wollten die Kunst alltagstauglicher machen und die Betrachter konnten plötzlich mitgestalten. Sie sollten dabei für ihr Alltagsleben lernen. Diese Partizipation bedeutet allerdings im übertragenen Sinne, dass die Diskussion, die Interpretation und das Philosophieren die Wichtigkeit des Kunstwerks übersteigen und Hegel mit seiner Prophezeiung vomEndes der Kunst Recht hatte.

In der heutigen Zeit gibt es zusätzlich noch den Trend des „Do itYourself!". Durch neue technische Möglichkeiten, Baumärkte und das Internet ist es jedem möglich, handwerklich und künstlerisch tätig zu sein. Besonders in den letzten Jahren entstanden Bewegungen von „Normalbürgern", die selbst aktiv werden und sich für ihre Überzeugungen einsetzen.

Der Craftivism ist eine Wortkreation aus Craft (Handarbeit) und Activism und setzt sich gegen politische und soziale Ungerechtigkeiten ein. Die Anhänger nähen, stricken und sticken und protestieren durch die Handarbeiten. Dabei sind sie im Internet global vernetzt.

 

Culture Jamming möchte die Welt verändern, indem sie Menschen beibringen, wieder selbstverantwortlich zu handeln. Derzeit ist die Bevölkerung durch die Marketingstrategien der Großkonzerne beeinflusst und lebt in einer inszenierten Welt. Es sei nun wieder an der Zeit, auf die eigenen Bedürfnisse zu hören. Dazu gehen sie Risiken ein, kleben Aufkleber mit der Warnung „Vorsicht Fett" auf McDonald's Tabletts oder gestalten ganze Werbekampagnen, die im „Look & Feel" der Originalwerbungen aufgebaut sind, aber alternative Botschaften beinhalten.

Die Guerilla-Gärtner gärtnern in Großstädten auf Gründen, die verwahrlost sind und ihnen nicht gehören, um die Stadt bunter und schöner zu machen oder um Früchte zu ernten. Dabei gehen sie das Risiko ein, erwischt zu werden, da es eigentlich verboten ist, auf fremdem Grund zu gärtnern. Gastrosophische Gärtner werden eher Obst und Gemüse anbauen, da diese dann gemeinschaftlich geerntet und zubereitet werden können. Besonders gut geeignet sind dabei Kartoffeln, Mangold, Zwiebeln, Radieschen, Brombeeren und Ackerbohnen.

 

Abschließend ist zu sagen, dass die Lebensmittel aus der zeitgenössischen Kunst nicht mehr wegzudenken sind. Sowohl als darstellendes Element als auch als Kunstmaterial gehören sie fix in die Kunstszene. Die heutige Interpretationsfreiheit erlaubt den Einsatz als ästhetisches Stilmittel genauso wie zur Unterstützung von Theorien. Durch die aktuellen Entwicklungen ist die Kunst allerdings nicht mehr nur den akademischen Künstlern vorbehalten und kann und soll im Sinne von Beuys von jedem mitgestaltet werden, der kreativ und gestalterisch tätig sein möchte. Und eigentlich gehört es zur Pflicht eines jeden Gastrosophen, sein Wissen über die Lebensmittel, die Nahrungsgewohnheiten und die Hintergründe weiterzugeben und damit die Welt und die Zukunft zu verbessern. Denn, hier schließe ich mich Colin Tudgean, der in seinem Buch "Future Food. Politics, Philosophy and Recipes for the 21st Century" meinte: "Ich bin naiv genug, zu glauben, dass die mit Abstand wichtigste Sache, die die Menschheit richtig machen muss, die Essensproduktion ist."(3)

 

Literatur:

Lemke, Harald: Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks. Transcript, Bielefeld 2007

Lemke, Harald: Essen Wissen - Was ist und wozu Gastrosophie? In: Epikur Journal 01/2009

LebensmittelKunst (59k)

Quellen, Anmerkungen

  1. Vgl. Lemke, Essen Wissen.  
  2. Vgl. Lemke, Essen Wissen.  
  3. Lemke, Die Kunst des Essens, 206.  
food design Ausstellung