Für uns ist der Tisch gedeckt. Nehmen Sie gerne Ihren Platz ein und genießen Sie mit den anderen Gästen erlesene Speisen aus aller Welt. Wo möchten Sie sitzen? Vermutlich an Ihrem üblichen Platz, wo die großen weißen Porzellanteller stehen. Machen Sie es sich bequem wie immer. So stimmt die Sitzordnung wieder und es kann aufgetragen werden. Mit großem Hunger stürzen sich alle Gäste auf das, was da ist, zum Glück sind Sie den Umstand schon gewohnt, dass einer der sieben Gäste während des Mahls tot vom Stuhl fallen wird. Verhungert. Er hat es einfach nicht geschafft, sich seinen Teil vom gemeinsamen Kuchen anzueignen. Auch die Anderen - außer Ihnen, versteht sich - kämpfen verzweifelt um die Reste, die Sie ihnen - vielleicht - übrig lassen werden. Wir, die Übersättigten und bequem Situierten, werden den Hungernden den Teller leer gegessen haben: Ob's einem schmeckt oder nicht, dies ist die tägliche Realität des „Welthungers".
Aber haben wir es nicht längst satt, vom Hunger der Welt zu hören? Was können wir schon tun mit unserem schlechten Gewissen? Wie umgehen mit unseren Gewissensbissen, in denen das moralische Gewissen unseres schlechten Essens gleichsam zurück beißt und uns von innen aufzehrt? Fressen und Gefressen werden: Egal wo man hinschaut, gilt dieses neoliberale Credo als jedermanns Gusto.
Was ist, zur Kostprobe, mit diesem frisch aufgetischten Leckerbissen: Während aktuell „arme Euro-Länder" mit Geldspritzen und Hilfeaktionen gerettet werden oder neulich innerhalb kürzester Zeit bankrotten Banken ein großzügiger „Rettungsschirm" in Milliardenhöhe aufgespannt wurde, überlassen die reichen Staaten dieser Welt unzählige Millionen von extrem Armen dem absehbaren Schicksal eines elendigen Hungertodes. Doch haben die Millenniums-Ziele der Vereinten Nationen nicht feierlich versprochen, den Hunger in der Dritten Welt bis 2015 zu halbieren? Dieses neuerliche Versprechen - schon über vierzig Jahre lang verkünden die reichen Nationen regelmäßig eine hungerfreie Welt innerhalb einiger Jahre - verrät nicht nur den programmatischen Geist einer buchstäblich halbherzigen Menschlichkeit. Weit schlimmer sieht die politische Realität unserer „Entwicklungshilfe" aus. Denn trotz dieser Hilfe werden die Menschen, die hungern und ihrer Würde beraubt sind, nicht weniger, sondern es werden immer mehr. Wie ist dies möglich?
Seit Jahrzehnten wütet nun schon dieser „Dritte Weltkrieg", wie einige sagen. Beispielsweise einer, der wie kaum ein anderer weiß, wovon er spricht: Der ehemalige UN-Sonderbeauftragte für das Menschenrecht auf Nahrung, Jean Ziegler, der chronische Unterernährung und extreme Armut als ein Massaker größten Ausmaßes verurteilt. Inzwischen übersteigt dieses massenhafte Sterben die Todesrate der Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs um ein mehrfaches.(1) Begreifen wir die Bedeutung und das Ausmaß des Satzes?
Angesichts der realen Möglichkeiten und der materiellen Überfülle weltweit ist das fortgesetzte Opfer unschuldiger Menschen ein nahezu unbegreiflicher Skandal. Doch sollten die moralische Empörung und die unzähligen Bekenntnisse, „den Welthunger bekämpfen" zu wollen, nicht von der Realität ablenken. Denn Tatsache ist und bleibt, dass die reichen Länder noch ganz andere - und diesen hehren Motiven entgegen gesetzte - Interessen verfolgen. Etwa die brutale Verteidigung ihres grenzenlosen Reichtums und mörderischen Appetits. Darum führen sie diesen nicht erklärten Krieg, der zwei Drittel der Weltbevölkerung in die Armut zwingt, mit all ihrer politischen Macht und mit ihren effizientesten Mitteln: mit ihrem Wirtschaftssystem.
Zum Auftakt der „Strukturanpassungsmaßnahmen" der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds in den 1970er Jahren, die seitdem zusammen mit dem globalen Freihandelregime der Welthandelsorganisation wie kaum eine andere Verabredung der Mächtigeren das Schicksal der Schwächeren besiegelt, lieferte der Biologe Garrett Hardin die theoretische Begründung für diese neoliberale Strategie des Welthungers. Hardin bezeichnete seine sozialdarwinistische Theorie als Lifeboat Ethics oder „Rettungsboot-Ethik".(2) Deren erbarmungsloses Kalkül sieht vor, das Problem einer wachsenden Zahl von Armen auf eine ebenso wirkungsvolle wie skrupellose Weise zu lösen: So sei das „Rettungsboot" (womit selbstverständlich die kapitalistischen Wohlstandsländer als Inseln der Glückseligen gemeint sind) bereits überlastet und der noch verfügbare Proviant nahezu aufgegessen, daher sei es am besten, wenn den Armen, die zu ertrinken bzw. zu verhungern drohen, nichtgeholfen wird und sie nicht gerettet und nicht mit „ins Boot genommen" werden. Nur mit dieser Problemlösungsstrategie könne immerhin ein Teil der Menschen gut überleben.
Der unverblümte Zynismus dieser „Ethik" schockiert gewiss; gleichwohl spiegelt dieses garantiert tödliche Rettungsboot-Kommando, welches die Hungrigen dieser Welt im wahrsten Sinne des Wortes bekämpft, die aktuelle Politik der reichen Staaten und die tägliche Realität unserer globalen Tischgesellschaft wider. Und wir näheren uns mit diesen politischen Zusammenhängen und ökonomischen Interessen auch den im Alltag unsichtbaren Hintergründen und hässlichen Wahrheiten „unseres Hungers". Denn dieser Hunger ist die Hauptursache und das entscheidende Problem des Hungers in dieser Welt.
Darum ist nicht etwa dem Hunger der Anderen - „der Armen" und „Hilfsbedürftigen" in fernen „Entwicklungsländern" - der Kampf anzusagen, sondern unserem schlechten Essen und einer ungerechten Politik, welche den Satten und Unersättlichen in den Schlaraffenländern übervolle Tische beschert und dafür Zigmillionen Bauernfamilien und mit ihnen zusammen gleich noch die natürlichen Ressourcen des gemeinsamen Planeten plündert. Von kaum einem anderen Faktor menschlichen Handelns geht ein größerer Eingriff in die gemeinsamen Lebensgrundlage aus: Was sind Autos, Städte, Kraftwerke, Kommunikationstechniken und Dergleichen gegenüber der weltweiten Verwandlung des Globus zu einer riesenhaften Agrarindustrieanlage? Seit Jahrhunderten - angefangen mit dem neuzeitlichen Kolonialismus über den modernen Kapitalismus bis zur gegenwärtigen Globalisierung - organisieren die reichen Industriemächte der Ersten Welt ihre Raubzüge in sämtliche Länder und Ländereien dieser Erde und beuten, so gut es geht, die Menschen, die Meere, die Böden, die Tiere, die Landschaften und die Rohstoffe jeglicher Art aus.
Doch wer wollte unsere Regierungen dafür verantwortlich machen? Wie die mächtige Wirtschaft und die transnationalen Nahrungskonzerne, so braucht auch die (zwischen-) staatliche Politik die alltägliche Unterstützung seitens ihrer Konsumenten. Ohne sie - ohne Sie und ohne mich - hat das vornehme Servicepersonal von Politik und Kapital weder Arbeit noch Auskommen. Wie heißt es so schön über den demokratischen Souverän in der unscheinbaren Verkleidung einer normalen Kaufkraft: „Der Kunde ist König".
Warum eigentlich? Weil dieser König, allemal an einem der vorderen privilegierten Plätze sitzend, am globalen Gastmahl teilnimmt und gleichwohl keine guten Tischsitten kennt. Der durchschnittliche Kunde kennt vor allem eins: Ausschließlich an sich selbst denken und den Teller mit all den verführerischen Dingen, die es ohnehin extra für ihn nahezu umsonst gibt, voll schaufeln und dann rasch alles in großer Hast weg konsumieren. Und am Ende, bei der Frage, wer die üppige Rechnung begleicht und wessen Hunger am größten sei und unbedingt bekämpft werden müsse, da zeigt dieser König, der keiner sein will, mit seiner „unsichtbaren Hand" auf - die Anderen.
Auf Menschen in einer „Dritten Welt", wo nur primitive Wesen leben, die noch etwas „unterentwickelt" sind. Man hört ihn diesen „Armen" und „Hungrigen" mitleidig und herablassend sagen: 'Entweder du gehst hilflos unter oder du entwickelst erst einmal gute Manieren! Wozu als allererstes gehört, dass du die Rechnung und sämtliche Kosten übernimmst.'
Das eigene kleine Königreich zu einer politischen Angelegenheit der Alltagsethik zu machen, das eigene Verhältnis zur globalen Mahlgemeinschaft zum Handlungsfeld von Gerechtigkeitspflichten zu erklären, heißt den feindseligen Hunger in der Welt zu bekämpfen. Nur dieser Kampf gegen unseren Hunger - gegen unser ethisch schlechtes Essen - und der Kampf um uns selbst als ethische Akteure (Esser) könnten den so genannten Welthunger bewältigen.
Wenn das wahre Problem nicht der extreme Hunger und die existenzielle Armut in der Dritten Welt, sondern der unersättliche Hunger und die kulinarische Armut in der Ersten Welt ist, dann verlangt seine Bekämpfung auch eine entgegengesetzte Strategie: Massive Entwicklungshilfe für uns - für die kulinarisch unterentwickelten Schlaraffenländer und Vereinten Fast-Food-Nationen. Hier bei uns Satten und Unersättlichen fehlt es an allem, was für die Entwicklung einer für alle guten Esskultur notwendig ist. Wir brauchen humanitäre Notprogramme, um dem gastrosophischen Analphabetismus entgegenzuwirken - einem verbreiteten und leidvollen Unwissen darüber, welche Konsequenzen eine falsche Ernährung für die eigene Gesundheit, für die Umwelt und für das Wohl anderer hat.
Wir brauchen konzertierte Hungerhilfe-Aktionen und sofortige esskünstlerische Interventionen, um die betroffenen Menschen aus ihrer kollektiven Dekadenz zu befreien, dass sie nur mit reichlich Steaks, Würsten und Gourmet-Events dem ansonsten vermeintlich drohenden Siechtum und Elend einer politisch korrekten Küche entkommen könnten. Oder schreit die Masse nicht regelmäßig wild auf, wenn jemand ihr das tägliche Fleisch nehmen will? Nichts braucht die Welt dringlicher als ernährungsethische Rettungspakete gegen diese kulinarische Armut und Phantasielosigkeit. - Außerdem braucht die Welt gemeinsam genutzte und solarbetriebene Kochstellen und subventionierte Bioprodukte aus fairem Handel für jeden.
Die gastrosophischen Entwicklungsländer in der Ersten Welt brauchen einschneidende Maßnahmen zur Anpassung an gesellschaftliche und politische Strukturen einer good food governance. Wie sonst könnte in den ökonomisch wichtigen Bereichen der Nahrungsproduktion und der Ernährungssouveränität jahrzehntelange Misswirtschaft, Korruption und Neoliberalismus-Verbrechen zum Wohle der Nationen abgebaut werden? Ebenso ist das zivilgesellschaftliche Engagement von unzähligen Nichtregierungsorganisationen notwendig, um Abhilfe zu schaffen für die zahlreichen Erscheinungsformen der kulturellen Benachteiligung und Unmündigkeit, die Menschen dazu bringt, sich möglichst das Billigste einzuverleiben.(3)
Denn das lehrt die Weisheit vieler nicht-westlicher Zivilisationen und Hochkulturen: Hoch entwickelte Gesellschaften kultivieren das kulinarische Leben und nutzen dafür den größten Teil ihres Wohlstandes.(4) In solchen paradiesischen Ländern des kulinarisch guten Lebens lebt man nicht von der Hand in den Mund, von minderwertigem Fastfood und bequemen Fertigprodukten. Dort herrscht keine Primitivität, die meint, gelegentlich in überteuerten Sternerestaurants stilbewusste Feinschmeckerei nachzuholen, sei das sichere Zeichen echter Lebenskunst und einer gehobenen Kultur.
In gastrosophischen Ländern und Küchen einer wirklich reichen Esskultur geht es anders zu. Dort wird die individuelle Kochkunst, geschmackvolle Speisen auch mit einfachen Zutaten kreieren zu können, wertgeschätzt ebenso wie die bäuerliche Arbeit, mithilfe einer umweltfreundlichen und fair bezahlten Landwirtschaft Lebensmittel von hoher Qualität zu produzieren. Kulturen eines ethisch guten Essens betrachten praktische Kenntnisse einer phantasievollen Zubereitung sowie den gemeinsamen Genuss eines untereinander gerecht geteilten Mahls - gute Tischsitten und das konviviale Tafelvergnügen - als gesellschaftliche Errungenschaften, die nur vergleichbar sind mit anderen Hochleistungen in Technik, Wissenschaft und Kunst.(5)
Literatur:
Hardin, Garret: Lifeboat Ethics. The Case Against Helping The Poor. In: Psychology Today 8 (1974). S. 38-43 u. 123-126
Lemke, Harald: Die Kunst des Essens. Zur Ästhetik des kulinarischen Geschmacks. Bielefeld 2007
Lemke, Harald: Die Weisheit des Essens. Gastrosophische Feldforschungen. München 2008
Lemke, Harald: Politik des Essens. Wovon wir die Welt von morgen lebt. Bielefeld 2012
Pogge, Thomas: Anerkannt und doch verletzt durch internationales Recht. Die Menschenrechte der Armen. In: Bleisch, Barbara u. Schaber, Peter (Hg.): Weltarmut und Ethik. Paderborn 2007. S. 95-138