Der Rest war und blieb Folklore: der Schweinebraten mit seiner mythischen Herkunft von den Kelten, der oft genug genauso alt schmeckt; weil sicher schon die Kelten den Braten eher überlagerten (entspricht dem heutigen „ofenfrisch") und die besseren Stücke den Besseren zukamen. Recht viel hat man also nicht von einer bayerischen Küche gehört: zu recht!
Wenn was passierte, dann durch Zugereiste - Zuagroaste - vor allem aus Österreich, gelegentlich Südtirol oder durch anderweitig Adoptierte. Aber einmal ein Indigener, einer aus dem Stamme selbst - und dann auch noch aus einer Zone, wo er sich am unverfälschtesten, sprich am wildesten erhalten hatte. Das gab's noch nie!
Jetzt durchweht die einschlägigen Gazetten und Journale ein kräftiger Wind, quasi ein frischer „Böhmischer", wie es bei den Waldlern hinten um den Arber herum heißt. Er trägt die Nachricht von unerhörten Geschehnissen am Großen Bärenstein hinaus in die weite kulinarische Welt und die Großen dieser Erde (auch der bayrische Ministerpräsident!) machen sich auf in diesen recht abgelegenen Winkel des Bayerischen Waldes; da wo er am tiefsten ist und am höchsten. Das eine, weil man ewig durch Wälder, Wiesen und wieder Wälder kurven muss, bis man hingelangt, denn die Autobahn hört gute 100 km vorher auf. Am höchsten, weil eben der Große Bärenstein, wie es sein Name sagt, groß ist, also hoch aufragt und weil da oben, ziemlich weit oben, einer der Neuen Jungen Wilden werkelt.
Wild auch deswegen, weil der schottrige Forstweg irgendeinmal aufhört (endlich kann ein Münchner/Wiener sein SUV nutzen!) und der letzte Kilometer nur ein Fußsteig über Steine durchs Holz ist. Für alle - auch für die Haflinger, die den Proviant bringen und fußschwache Großstädter auch mal hinauftragen!
Dort oben, in einer alten Jagdhütte des großen Fürsten Schwarzenberg, der jenseits der nahen Grenze große Besitzungen aufweist, sowie den berühmten Schwarzenbergschen Schwemmkanal zur einstigen Holztrift, werkelt, ja wütet geradezu der neue Star, dessen Stern nun weit über den Großen Bärenstein hinaus ins Land leuchtet, bis München und auch schon nach Berlin. Das heißt was, weil ja gerade gegen Norden die Wälder am undurchdringlichsten sind!
Es ist eine Geschichte wie aus dem Märchen. Sepp Kolbeck, so heißt der shooting star, stammt zwar aus einer alten Wirtsfamilie; seine Urgroßeltern haben in Grafenwiesen, einem Dorf unterm Hohen Bogen (auch einem großen Berg) das „Café am Sportplatz" betrieben, die Großeltern es weitergeführt; seine Mutter heiratete hinaus und er wollte auch nicht mehr zurück. Doch der Job im Finanzamt langweilte ihn dann auch, aber immerhin verstand er danach was von der Buchhaltung und vom Rechnungs-, aber auch vom Zuschuss- und Förderungswesen. Das verhinderte eine Bauch- und Bruchlandung, wie sie viele Köche, gerade die Quereinsteiger hinlegen. Auf der anderen Seite aber verhalf ihm das alles dazu, dass er irgendwie den Weg zurück fand: Es war ihm „halt aufgesetzt" wie er jetzt meint, wenn man nach den 12 Gängen noch mit ihm um Mitternacht am Feuer zusammensitzt und ein wenig redet, wenig, weil er ein wenig maulfaul ist.
Wie wir alles wissen, gibt es in der Gastronomie Grau- bis Schwarzgeldbereiche und eine Finanz, die das auch weiß. In so einem Kontext stellte sich der Kontakt zu den Köchen und dann der allmähliche Übergang her. Verständlich, dass diese allererste Station einer sensationellen Küchenlaufbahn ein schwarzer Fleck bleiben muss.
Von da an ging's bergauf, in jeder Hinsicht. Waldler reden nicht viel, arbeiten hart, langen hin. Der Sepp ist eher untersetzt und schaut ganz zach aus, seine blaue Arbeitsjoppe so, als ob sie noch vom Opa stammte: tut sie von der Idee her, ist aber nur schon so „z'sammgrackert".
Der Sepp stieg auf, war beim Winkler in Aschau, beim unvermeidlichen Alfons, beim tantrischen Haas, wechselte dann ins Österreichische hinüber zum kongenialen Petz und zum völlig artverwandten Tom am Kochen in Leutschach. Von da macht er einen Sprung nach Dänemark zu den Nordmännern, auch einem harten Stamm , wo er bei Redzepi im Noma meinte, viel Unterschied zu den Viktualien daheim „im Wald" gebe es auch nicht. Nach einer Zwischenstation im Pariser Arpège fühlte er sich reif „für den Berg". Und wieder half der Zufall, in der Gestalt des damaligen tschechischen Außenminister Schwarzenberg, der just dort speiste. Beim „Dank in der Küche" kamen die beiden ins Gespräch und der Fürst erwähnte, dass er gerade bei Magnus Nilsson in Fäviken war. Sepp Kolbeck lachte nur: „das brächten wir auch im Wald zusammen!" Der Fürst schmunzelte und meinte: „Top - die Wette gilt! Ich hab am Großen Bärenstein eine Jagdhütte, die ist mindestens so abgelegen und noch schwieriger zu erreichen, die lass ich herrichten und die ersten Gäste bring ich auch her..." „Dann fehlt nichts mehr, dann sperren wir halt auf..." erwiderte Sepp.
So kam es. Seitdem ist der kleine Parkplatz voll, viele Autos passen ohnehin nicht drauf, denn Anzahl der Gäste ist auf die der Apostel beschränkt. Um 18:00 Uhr geht es los, da lotst die Anna Maria im Arbeitsg'wand und in Bergschuhen die Gäste den Weg hinauf. Wer zu spät kommt, muss schaun, wo er bleibt, denn Wegweiser fehlen und mancher Pfad zweigt ab. Die Luft ist frisch und schmeckt lange nach Schnee und hinein mischt sich ein wenig grünlicher Geruch, nach Moos, Moder und Fichtenwipfel. Weit oben ragt der Spitz des Großen Bärenstein auf, eisumglänzt und darunter kaum zu erkennen, so ein- und verwachsen mit dem dunkelgrauen Granit - die alte Jagdhütte. Anna Maria greift munter aus, die Gäste aus aller Welt folgen, etwas sprach- und ratlos. Dann bleibt die Führerin auf einmal stehen. Am Wegrand stehen zwei Pfosten, ein rohes Holzbrettl liegt drüber und auf dem findet sich als Vorspeise und Muntermacher, ein Glas mit undefinierbar rötlicher Flüssigkeit. Der erste Schluck zieht einem fast die Füße weg, bevor Wärme und Kribbeln aufsteigen: Bärwurz mit mazerierten Granitflechten, aufgeschlagenen Ameiseneiern und gestocktem Blut von der Arberseeforelle. Daneben, hauchdünn, knusprig Pschornblattl mit einem Teig aus Quellwasser, Trebern und grobgeschrotetem Hafer, belegt mit von im Totholz angeräucherten Scheiben vom Auerhahnhinterschlegel auf Eichenlaub mit Schwertlilienfäden.
„Was es halt hierherum so alles gibt", deutet die Anna Maria die Gegend aus. Nach einigen Hundert Metern wartet eine Art dekonstruierter Steinpilz, handzersägt, mit rohen Flussmuscheln vom Weissen Regen auf einem essbaren Moosbeet, aus dem er quasi herauswächst. Das Ganze ist mit einer Art - von echten? - Spinnenfäden überzogen, die in roten, einmal gefrosteten Hagebutten ankern.
So geht es noch über zwei Stationen weiter - bis man in die Hütte kommt. Grob, urig, ein Feuer mit großen Scheitern im offenen Kamin, axtbehauene Bänke, auf denen Bärenfälle aus einer Schwarzenbergschen Jagd liegen. Der Blick von der Hütte, atemberaubend, die Wälder wogen und fluten auf und ab, drüber jagen die Schatten der großen weißen Wolken, halten inne, holen Atem, bis sie sich wieder aufmachen. Auch wir holen Atem, den wir auch nach dem Aperitif brauchen: „Himbeersaft" heißt der, und der Sepp schwört, mit dem sei er aufgewachsen und dem verdanke er alles an Kraft. Dass tatsächlich Himbeeren drin sind, und zwar mit voller Kraft und selten vollem Aroma wird beim ersten Schluck klar, was aber noch, darüber schweigt sich der Koch aus. Kräuter sagt er und noch was aus unserer Destille, die hinter der Hütte in einem kleinem Steinhäusl raucht. Und dann geht's los, Roggene Semmel, Damendaumenlang und -fein, mit umgeschlagenem Bier als Art von Essig und drin Schnipsel von abgestürztem Schwarzwild (vom Fürstenjäger täglich angeliefert) auf Hoiwablattlbett. Es folgt ein confit vom luftgeselchten Fasan, der, ganz archaisch, einen enormen Hautgout aufweist. Der Hase fürs Hauptgericht wird vor den Augen der Gäste per Handkantenschlag erledigt und dann in seinem Blut serviert. Zu erwähnen wäre noch, auf flaschengrüner Wadlerglasplatte, die Emulsion von Granitstaub, samt abgeschabtem Pilzpenicillin über Bärtingerbrust, gebraten auf jahrelang abgeglommener Köhlerkohle. Wobei zu vermerken ist, dass der Bärtinger, am Großem Bärenstein zuhause, die lokale Spielart des berühmten Wolpertinger ist. Hier aber rutscht dieses Vieh während der langen Wintermonate gerne die schroffen Hänge des Bärensteins auf seiner Brust hinunter, die dadurch eine eigene Konsistenz bekommt...
Wenn Sie es bis jetzt nicht gemerkt haben! Das ist alles viel zu schön und zu natürlich - um wahr zu sein. Man muss nur wissen, was man wie für wen schreiben muss.
Jetzt wird es etwas analytischer. Um einen großen Denker zu zitieren, die Journalisten beschreiben die Welt, wie sie sie sehen, es kommt aber darauf an, zu begreifen und zu erkennen, was da abläuft. Das wäre gemeinhin ein wissenschaftlicher Auftrag, aber denen das Thema für gewöhnlich eher als trivial, was aber nur einer der vielen Irrtümer auf diesem Sektor ist.
Wir haben in all diesen gastronomisch-kulinarischen Texten eine sehr einheitliche Erzählstruktur vor uns, nach Hayden White handelt es sich um eine „epische Romanze". Ein göttergleicher Held kämpft sich stellvertretend für uns durchs Leben, bietet Möglichkeit zur Identifikation, zur Befriedigung (mancher Leser-/Schreiber Bedürfnisse) und zur Erlösung. Dieses Muster liegt auch den Heiligenleben zugrunde - und oben haben wir es so eingetextet: Ein Mensch geht seinen Weg, bis er erkennt, dass er den falschen gewählt hat, durch überirdische Fügung und Befolgung der Winke dieser Instanz kommt er auf den richtigen Pfad und folgt ihm bis ans Ende. Er landet dann als eine Art von Einsiedler in der Wüste oder auf einem hohen Berg, abgeschieden von den Menschen, die aber gerade umso mehr in diese einsamen Gegenden strömen, um der Erlösung teilhaftig zu werden. Das geschieht ganz religiös durch Mahlteilnahme, am Tisch der 12 Apostel. Aufgetragen werden die einfachen Nahrungsmittel der Gegend in brutaler Schlichtheit, wie es apostolischer Tradition entspricht, freilich in römisch-katholischer Interpretation - und da darf es etwa üppiger und raffinierter sein!
Vom Berge zurück verkünden es die neugewonnen Mitglieder der Sekte allen draußen im Lande und die strömen nun ihrerseits... Irgendwann hört davon auch ein Mensch in der Stadt, der für ein Magazin oder dergleichen schreibt und der dem Wesen dieser Sache nach, immer hungrig auf Neuigkeiten ist. Denn die early adopters genießen Prestigegewinn, wenn sie als erste davon berichten können. Sie schreiben das dann in ihrer Prose, mit all den typischen Tropen und Topoi nieder - und von ihnen schreiben es die andern ab. Was man also zunächst in einem der Gourmetmagazine las, wird irgendwann in der Tageszeitung enden. Und dann werden nach den Gourmets die Gourmands die Felsen erklimmen - und es wird Zeit, dass der Held stirbt, d.h. zumacht wie Ferran Adria.
Derlei sind die perfekten stories für die konsumistische Welt von heute. Wo man meint- klassisches Köhlerargument - dass weit außerhalb der „Zivilisation" das wahre unverfälschte Leben liege, mit „authentischen Produkten". Doch das ist alles Marketing in Art der Potemkinschen Dörfer/Jagdhäuser/Produkte. Über die wahre Erkenntnis von Rousseau kommen wir nicht hinweg, dass alles so zivilisiert ist, vielleicht bis zum Überdruss, aber wir alle darin sind. Das mutet an wie das Dörfchen der Marie Antoinette in Versailles, wo man auch Dorfleben, sprich „heile Welt" spielte... Vielleicht ist es auch nur das alte Spiel von „des Königs neuen Kleidern".
So läuft es momentan. Es muss immer neu sein, immer regionaler, weil das das Gegenstück zur erfahrbaren und erlittenen Globalisierung ist, immer radikaler, weil man die Fischlein auf den heißen Steinen und die „lebenden Ameisen auf Creme fraiche" (SZ 97, S.3) satt hat. Nur die übertrumpfende Innovation zählt in der auf Wachstum getrimmten Welt und wer ständig das Neueste hat und weiß - auch davon zu berichten - verfügt über Prestige. Nur bei wem? Bei einigen Food-Journalisten? Die davon leben, das zu befeuern!
Wir anderen, die wir nicht zum Nilsson am Polarkreis fahren können - und wollen - freuen uns über solche Texte. Und kochen gern unseren eigenen, einfacheren Brei!