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„Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum will er was zu essen, bitte sehr!“ Eine ganz persönliche Zusammenschau literarischer Rezepte

Katharina ZEPPEZAUER-WACHAUER.   

Ja, ist das denn zu glauben, will man laut ausrufen – schon wieder ein Artikel rund ums Kochen und Essen in der Literatur! Warum schreiben neuerdings alle vom Schreiben über das Essen?

Das ist doch fast wie damals, als alle vom Schreiben übers Lesen schrieben. Und vom Schreiben übers Schreiben lasen, vor allem in Zeiten des eigenen horror vacui, der eigenen Angst vor dem leeren Blatt. Apropos, darf man so eigentlich auch die Angst vor dem leeren Teller bezeichnen?

Sei es wie es sei, dies wird keine Hommage an Textpassagen, in denen wunderhübsche Restaurants und stilvoll gedeckte Tische beschrieben werden, keine Bestandaufnahmen von glücklichen Kinderaugen, die auf festtägliche Schlemmereien gerichtet sind. Davon haben schon zahlreiche andere geschrieben. Besonders lesenswert etwa Alois Wierlacher in Vom Essen in der deutschen Literatur oder die schöne Zusammenstellung kurzer, relevanter Text- und Sprachzeugnisse auf www.foodnews.ch, wo sich auch Ergüsse finden wie folgender gastrophobischer Passus von Elfriede Jelinek: „Ich kann und will nicht kochen. Früher habe ich einmal ein Rezept gehabt, wie man aus alten Wolldecken und Eisenfeilspänen Zyankali herauskochen kann. Ich habe das aber verloren. Bitte um Entschuldigung, aber niemand wollte das Rezept haben."(1)

Nein, hier soll es praktisch zugehen, obwohl Jelinek uns mit ihrem Anti-Rezept schon eine gewisse Richtung weist. Was hier geschrieben werden soll, ist eine fast klassische Rezeptsammlung, ganz im Sinne von: Für Zyankali nehme man zwei alte, karierte Wolldecken, ein halbes Kilo Eisenfeilspäne und koche das Ganze 120 Minuten bei mäßiger Hitze. Nur: Essen sollte man die Ergebnisse dann bitteschön schon können, Frau Jelinek.

Zum Glück gibt es auch Autoren, die gerne essen, und sogar solche, die gerne kochen.

 

Wir haben gegessen wie die Fürsten: Hans Fallada

Einer, auf den diese Klassifizierung voll und ganz zutrifft, ist Rudolf Ditzen alias Hans Fallada (1893-1947). Er schreibt in seinen Werken, die überwiegend der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden können, nüchtern und dokumentarisch-exakt von tragischen Schicksalen, politischen Wendungen und distanzierten Lebens(ver)läufen. Poetisch verziert wird gar nichts; nicht umsonst wählte Fallada als Pseudonym den Pferde(kopf)-Namen des Hengstes der Gänsemagd aus dem gleichnamigen Grimm-Märchen, der immer nur die Wahrheit spricht, selbst über den Tod hinaus.

In der großartigen Zusammenstellung Der Schmortopf ist ganz überflüssig hat Sabine Lange, die von 1984 bis 1999 Archivarin im Hans-Fallada-Archiv in Feldberg und Gründungsmitglied der Hans-Fallada-Gesellschaft e.V. war, neben zahlreichen Textfragmente zum Thema Essen und Kochen auch Erinnerungen der Köchin Herta Schmidt zusammengetragen. Herta Schmidt war die letzte Köchin im Hause Fallada, angestellt von 1942 bis 1944. Obwohl der Krieg in allen Küchen Spuren hinterlassen hatte, und die Töpfe zum Zwecke des Stromsparens beim Kochen übereinander gestellt wurden, wurde am Genuss nicht gespart. Das heißt natürlich nicht, dass in Zeiten des Kriegsmangels regelmäßig teure Zutaten geschlemmt wurden, doch der findige Hans Fallada hatte schon lange vorm Führen eines eigenen Haushalts gelernt, aus wenig viel zu machen. Er liebte die deftig-einfache Landkost. „Wir haben gegessen wie die Fürsten", erinnert sich Herta Schmidt im Gespräch mit Sabine Lange, und schließlich stellt sie der Archivarin sogar ihr (damals) 50 Jahre altes, handgeschriebenes Kochbüchlein zur Verfügung, in dem in Sütterlinschrift noch die alten Rezepte aus dem Hause Ditzen-Fallada notiert sind.

Der Zeitgeist pfeift zum Beispiel dem darin enthaltenen „Gespickten Igel" aus allen Poren, und das mag ich. Deshalb soll das erste Rezept in diesem Artikel jenem „echten" Kochbuch entnommen werden und Lust auf die folgenden literarischen Rezeptpassagen machen, um die es mir eigentlich geht. Ein kleines Amuse-Gueule auf das belletristisch-gastrosophische Werk Falladas sozusagen.

 

Gespickter Igel (Ditzen)

2 Pakete Leibnitzkeks, ½ Pfund Zucker, ½ Pfund Palmin (geht auch mit fester Butter), ¼ Pfund Kakao, 4 Eier, 2 Vanillezucker.

Zubereitung:

Palmin schmelzen, dann Kakao und Zucker vermischen und dazurühren. Nach und nach die Eier zuführen. Auf einem Brett ein Stück Pergamentpapier mit Wasser anfeuchten, von der Masse draufstreichen, darauf eine Schicht Keks legen, dann wieder Masse usw. Zuletzt von allen Seiten mit der Masse bestreichen und mit einer nassen Gabel verzieren.(2)

 

Nun aber weiter im bzw. mit dem Text, auf das reale Dessert folgt in etwas unorthodoxer Reihung eine Erbsensuppe à la Lämmchen, der bescheidenen, lieben Hausfrau aus Kleiner Mann - was nun? (Was Frau Jelinek wohl zum Lämmchen sagen würde, wenn sie es heute träfe?):

Warum hat er es ihr nicht gesagt, was es zum Mittagessen geben soll? Sie weiß es doch nicht! Und sie ahnt nicht, was er gerne ißt. Die Möglichkeiten verringern sich beim Nachdenken, schließlich bleibt Lämmchens planender Geist an einer Erbsensuppe hängen. Das ist einfach und billig, das kann man zwei Mittage hintereinander essen.
O Gott, haben's die Mädchen gut, die richtige Kochstunden gehabt haben! <...> Was braucht sie? Wasser ist da. Ein Topf ist da. Erbsen, wieviel? Ein halbes Pfund reicht sicher für zwei Personen, Erbsen geben viel aus. Salz? Suppengrün? Bißchen Fett? Na, vielleicht für alle Fälle. Wieviel Fleisch? Was für Fleisch erst mal? Rind, natürlich Rind. Ein halbes Pfund muß genug sein. Erbsen sind sehr nahrhaft, und das viele Fleischessen ist ungesund. Und dann natürlich Kartoffeln.            
<...> Sie setzt ihre Erbsen auf, ob man das Salz gleich reintut? Besser, sie wartet bis zum Schluß, dann trifft man es richtiger. <...>            
„Mittagessen!" ruft der Junge, schon draußen auf dem Flur. <...> „Noch nicht gedeckt?" fragt er. „Einen Augenblick, Jungchen, gleich", sagt sie und läuft zur Küche. „Darf ich den Topf auf den Tisch bringen? Aber ich nehme auch gerne die Terrine!" <...> Lämmchen füllt auf. Sie sieht etwas ängstlich aus. „Scheint etwas dünn?" fragt sie besorgt. „Wird schon richtig sein", sagt er und schneidet das Fleisch auf dem Tellerchen. Sie probiert. „O Gott, wie dünn!" sagt sie unwillkürlich. Und es folgt: „O Gott, das Salz!"          
Auch er läßt den Löffel sinken, über dem Tisch, über den Tellern, über dem dicken braunen Emailletopf begegnen sich beider Blicke. „Und sie müßte so gut sein", klagt Lämmchen. „Ich hab alles richtig genommen: ein halbes Pfund Erbsen, ein halb Pfund Fleisch, ein ganzes Pfund Knochen, das müßte eine gute Suppe sein!"           
<...> „Wieviel Wasser hast du denn genommen, Lämmchen?" „Es muß an den Erbsen liegen! Die Erbsen geben rein gar nicht aus!" „Wieviel Wasser?" wiederholt er. „Nun, den Topf voll." „Fünf Liter - und ein halbes Pfund Erbsen. Ich glaube, Lämmchen", sagt er geheimnissvoll, „es liegt an dem Wasser. Das Wasser ist zu dünn." „Meinst du", fragt sie betrübt. „Hab ich zuviel genommen? Fünf Liter? Es sollte aber für zwei Tage reichen. <...> Ach, mein armer Junge, hast du schrecklichen Hunger? Was mache ich nun? Soll ich ganz schnell ein paar Eier raufholen und uns Bratkartoffeln und Spiegeleier machen? Spiegeleier und Bratkartoffeln kann ich bestimmt." <...>
Als er dann zu ihr in die Küche kommt, laufen ihre Augen nicht von der Zwiebel, die sie für die Bratkartoffeln geschnitten hat. „Aber Lämmchen", sagt er, „es ist doch keine Tragödie!" Sie wirft beide Arme um seinen Hals. „Jungchen, wenn ich nun eine untüchtige Hausfrau bin! Ich möchte gern alles so nett für dich machen." <...> „Der Suppe fehlt doch gar nichts, nur zuviel Wasser. Wenn du sie noch mal aufsetzt und ganz lange richtig kochen läßt, daß alles Wasser auskocht, was zuviel ist, dann haben wir doch 'ne richtige gute Erbsensuppe."
(3)

Resümieren wir also Lämmchens Rezept und lassen nur etwas Wasser weg. Das könnte durchaus gelingen, und wenn nicht, essen wir wie Lämmchen und Jungchen eben Braterdäpfel mit Zwiebeln und dazu Spiegeleier:

 

Lämmchens Erbsensuppe

250g Schälerbsen (grüne), 1 Bund Suppengrün (Karotten, Sellerie, Peterwurz, Pastinaken, Porree), 50g Speck (durchwachsen), 200g Suppenfleisch vom Rind, 3 Erdäpfel (mittelgroß), Salz, Pfeffer, Majoran, 1 Liter Wasser

Zubereitung:

Den gewürfelten Speck im Topf erhitzen, mit dem Wasser ablöschen und zum Kochen bringen. Wenn das Wasser kocht, das Suppenfleisch in den Sud geben. Die Schälerbsen kurz (!) waschen, mit in den Topf geben. Auf kleiner Hitze weiterköcheln lassen. In der Zwischenzeit das Suppengemüse und die Erdäpfel putzen, in 0,5cm-Würfelchen schneiden. Nach einer Stunde Kochzeit das Gemüse zugeben. Nochmals 30 Minuten köcheln lassen. Nachdem die Erbsen weich sind, kräftig mit Salz, Pfeffer und Majoran abschmecken (Salz zu Beginn würde die Garzeit der Hülsenfrüchte verlängern, da hatte Lämmchen ganz recht). Nach der Garzeit das Fleisch aus der Suppe nehmen und in mundgerechte Stücke schneiden.

 

Das falladasche Suppenrezept - moosig grün und etwas unschön, wie alle traditionellen Erbsensuppen - funktioniert, das können Sie mir glauben, und es schmeckt ausgezeichnet. Das mag daran liegen, dass Hans Fallada selbst gerne kochte und aß, oder auch daran, dass seine Gattin, Anna Ditzen, die stets tüchtig am eigenen Herd werkte und ihre Köchinnen nur der großen Menge wegen als unterstützende Hilfen brauchte, ihn beim Schreiben des 1932 erschienenen Romans inspirierte. In jedem Fall aber wird aufgrund der Exaktheit der Angaben deutlich, dass hier einer schrieb, der Ahnung vom Kochen hatte.

Was jedoch bei fast allen der belletristischen Literatur entnommenen Rezepten auffällt, ist die vage Mengenangabe der Zutaten. Im Falle von Lämmchens Erbsensuppe erfahren wir als Leser sogar teilweise konkrete Angaben, eben weil das Ungleichgewicht von einem halben Pfund Erbsen zu fünf Litern Wasser den Witz und Charme der Textpassage ausmacht. Welches Fleisch jedoch, und was ein „Bißchen Fett" ist, das verschweigt die fleißige Hausfrau uns. Wir können aufgrund der ernährungsbewussten Bemerkung, zu viel Fleisch sei ungesund, jedoch annehmen, dass weniger tierische als pflanzliche Zutaten enthalten sind.

Was redet die denn da von genauen Mengenangaben, werden Sie sich jetzt vielleicht fragen. So ganz müßig, wie das Thema auf den ersten Blick wirken mag, ist es freilich nicht, denn die Beschäftigung damit gäbe Stoff für eine komplette kulturwissenschaftliche Abhandlung (Vorschlag für einen Arbeitstitel: Phänomenologie der Koch- und Küchenmaße). Schon muss ich mir deshalb einen zweiten Ausrutscher leisten, einen erneuten Sidestep in die Welt der Fachliteratur. Die Belles Lettres mögen es mir verzeihen.

 

Ausgerechnet von mir erwartet man, dass ich ein Kochbuch schreibe: Helen Nearing

Wenn es zwei Menschen gibt, deren Standhaftigkeit, klarer Geist und Lebensintensität mich nachhaltig beeinflusst haben, dann sind dies Helen und Scott Nearing. Die beiden naturnahen Exzentriker - heute würde man sie wohl als Aussteiger bezeichnen - waren der Inbegriff vom autarken Leben auf dem Land.

Scott Nearing hat eine vielversprechende Karriere als Hochschulprofessor der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften vor sich, ist jedoch zu geradlinig und direkt für dieses Metier. Er spricht aus, was er denkt. Er, der radikale Pazifist und Sozialist, wird von der Universität entlassen, verliert in Folge dessen alle Verträge mit Verlagen, selbst bereits Publiziertes wird aus dem Programm genommen. Helen findet den 21 Jahre älteren Sturschädel charmant, versorgt sich und ihn eine Zeit lang von ihrem geringen Lohn in einer Fabrik. Schon kurz darauf, 1932, beschließen sie jedoch gemeinsam lieber „auf dem Land arm zu sein als in der Stadt" und ziehen in eine verfallene Farm mitten in den urigen Vermonter Bergwäldern (und wer sich dabei an Alice und Carl Zuckmayer erinnert fühlt: Ganz recht, auch diese beiden verbrachten viele Jahre auf einer sehr ähnlichen Farm in Vermont - mit ähnlichem Lebensstil). Sie nennen es ihr „gutes Leben", und sie werden dieses Leben beibehalten bis zu Scotts Tod. Dieser Tod ist auf seine ruhige, besonnene Art spektakulär: Kurz vor seinem hundertsten Geburtstag beschließt der kerngesunde Scott, dass es an der Zeit sei, zu gehen. Er fastet fortan, nimmt keine feste Nahrung mehr zu sich und verabschiedet sich sechs Wochen später für immer von Helen.

Was hat das nun aber mit Kochen und Essen zu tun? Viel - das kann ich Ihnen versprechen. Helen und Scott Nearing haben ihr „gutes Leben" mit viel Arbeit und wenig von dem verbracht, was man gemeinhin als „Luxus" bezeichnet. Luxuriös aber waren die Ruhe, die Stille, die Weite, die Schönheit ihres selbstgewählten Paradieses zu zweit (von dem sie übrigens später noch einmal aufgrund des aufkommenden Ski-Tourismus in Vermont an ein ebenso abgeschiedenes Plätzchen - die Küste von Maine - umzogen, Helen im Alter von 48 und Scott mit stattlichen 69 Jahren). Luxuriös waren meines Erachtens auch die Speisen, ihrer betonten Einfachheit und des damit einhergehenden Genusses absolut frischer Lebensmittel wegen.

Helen und Scott Nearing essen kein Fleisch, trinken keinen Alkohol, rauchen nicht, haben kein Fernsehgerät, kein Radio, kein Telefon, keine Zentralheizung. Sie arbeiten viel, und Helens Ansicht nach bleibt da nicht mehr genug Zeit und Muße, um stundenlang in der Küche zu stehen - wozu sie auch gar keine Lust hat. Dass ausgerechnet sie ein Kochbuch schreibt, wundert Helen wahrscheinlich am allermeisten:

„Der Vorschlag, daß ich, die ich weit davon entfernt bin, eine begeisterte und gute Köchin zu sein, ein Kochbuch schreiben solle, entstand vor Jahren - ausgerechnet in Frankreich, dem Land der Küchenchefs, Epikureer und Feinschmecker. Dabei verbringe ich möglichst wenig Zeit am Herd und stütze mich auf nur wenige Rezepte und Kochbücher, schütte dies und das für ein schnelles Mahl zusammen und benutze die einfachsten Zutaten und Verfahren - und von mir erwartetet man, daß ich ein Kochbuch schreibe."(4)

Aber was Helen kann, ist „eine große Familie oder viele Gäste schnell, einfach, nahrhaft und sparsam im Handumdrehen verköstigen."(5) Und schließlich das Resümee über das Kochbuch, das sie mit stolzen 76 Jahren doch noch verfasst: „Dieses Buch über einfache Nahrung ist für einfach lebende Menschen gedacht."(6)

Durch die einfache, selbst gezogene, vollwertige und stark rohkosthaltige „Bio"-Nahrung erhält Helen sich und Scott bis ins hohe Alter gesund (Helen stirbt mit fitten 91 Jahren bei einem Autounfall). Sie essen beinahe täglich Salat und Suppe oder Eintopf, und Helen behauptet von sich, wohl keinen Salat und keine Suppe zweimal in ihrem Leben auf dieselbe Art zubereitet zu haben, weil die Möglichkeiten zur Variation so vielfältig seien.

Doch Helen hält nichts von klaren Mengenangaben, ja hat große Probleme, als ihre Verlegerin von ihr konkrete Maßeinheiten verlangt (haben Sie meinen feinen, schriftstellerischen Kniff des motivischen Wiederaufgreifens bemerkt?). Ich bin der Meinung, dass dies auch eine Frage der Kochbuch-Sozialisierung ist, denn folgender Abschnitt hat fast alle, denen ich ihn vorgelesen habe, amüsiert: „Wenn meine Verlegerin es erlauben würde, würden meine Rezepte so aussehen: ‚Eine Handvoll von dem und ein bißchen von jenem'. Nicht: ‚Zwei kleine Zwiebeln', sondern ‚einige Zwiebeln'. Zitronensaft kann hinzugefügt werden, wenn vorhanden. Wer Kräuter mag, soll diejenigen nehmen, die gerade da sind."(7) Nur eine hat nicht verstanden, was wir Jungen so lustig finden an den Rezepten von Helen Nearing: meine Oma. Omas Rezepte sehen nämlich genauso aus wie Helens: ungefähr drei, vier Handvoll Grieß abbrennen mit etwas Butterschmalz, mit so viel heißem Wasser aufgießen, bis man denkt, das war jetzt aber zu viel. Daraus Grießknödel formen und diese kochen, bis sie fertig sind. Und das sind, mit Verlaub, die absolut besten Grießknödel der Welt!

Helen Nearing ist eine vielbelesene Frau, und ihre Bücher (auch das Kochbuch!) bestehen zu 50% aus prägnanten Zitaten, die sie passend zum Thema in der Bibliothek sucht. Ihr Motto: „Wenn jemand anderes es besser und früher gesagt hat, warum soll ich diese Quelle anderen nicht zugänglich machen?"(8)

In diesem Sinn sammelt sie auch eine Vielzahl an Zitaten, um ihre These gegenüber ihrer Verlegerin zu untermauern, dass präzise Mengenangaben einem Kochbuch nur abträglich seien:

„Meiner Ansicht nach sollten Rezepte absichtlich unbestimmt bleiben, so daß man sie ausarbeiten und das nehmen kann, was man hat. <...> Hier ein typisches ungenaues Rezept aus einem alten schottischen Kochbuch: ‚Ein kleines bißchen Mehl, ein kleines bißchen Butter, ein kleines bißchen Zucker und ein kleines bißchen Melasse' Oder folgendes aus einem irischen Kochbuch: ‚Vom Mehl nimmt man etwas mehr, als man denkt, vom Backpulver nur ein ganz kleines bißchen und von der Milch einen kleinen Krug voll.' <...> Vielleicht das unklarste von allen Rezepten ist eines für Ingwerbrot , das ich in einem Old Farmers Almanac fand: ‚Ich nehme immer etwas Mehl, gerade genug für die Kuchen, die ich machen will; das mische ich mit etwas Buttermilch, wenn ich sie habe, gerade so viel, daß es für das Mehl reicht, dann nehme ich etwas Ingwer: Manche mögen mehr, manche weniger. Ich tue ein wenig Salz und Perlasche <=wohl Pottasche, also Kalciumcarbonat> hinein, und dann bitte ich John, Melasse hineinzuschütten, bis ich ihm sage, daß er aufhören soll.'"(9)

Am Ende schafft Helen Nearing es aber doch noch, ihre schmackhaften, einfachen Gerichte in buchtaugliche Form zu bringen. Um diese Arbeit zu honorieren, sei an dieser Stelle eines ihrer Rezepte vermerkt:

 

Rosenkohlgericht

1 Pfund Rosenkohl, 2 Tomaten (zerkleinert), 1 Zwiebel (gehackt), 2 EL Butter, 1 TL frischer Thymian (gehackt), 2 Schalotten (gehackt)

Zubereitung:

Rosenkohl putzen und reinigen und in ½ Tasse heißem Wasser 10 Minuten lang kochen. Mit Tomaten, Zwiebeln und Butter in eine Pfanne geben und einige Minuten lang bei geringer Hitze umrühren. Thymian und Schalotten hinzufügen und ihn sofort servieren.(10)

 

Schilderer guter Mittagessen: Thomas Mann und Theodor Fontane

Thomas Mann ist für die meisten wohl eher der gestrenge Familienvater und literarische Nobelpreisträger als ein Gourmet (oder gar Gourmand). Hageres Gesicht, penibel gestutzter Schnurrbart (in dem sich vielleicht doch einmal die eine oder andere Suppennudeln verfangen hat?), Virtuose und geistiger Vater des neuen, deutschen Gesellschaftsromans, Verfechter eines stark anspruchsvollen, komplizierten Stils. Einer, in dessen Gesellschaft man sich wahrscheinlich etwas unwohl - weil: chronisch ungebildet - fühlen würde.

Wer aber Manns Werk kennt, weiß, dass man beim Lesen Hunger kriegt. Seine kulinarischen Schilderungen sind zahlreich und so genau, dass man ihnen nachkochen kann. Wie bei Hans Fallada merkt man, dass der Schriftsteller wirklich etwas vom guten Essen verstand und sich nicht nur der Kunst wegen damit beschäftigte. Ja ganz im Gegenteil, Mann sorgte sich sogar, „in weiteren Kreisen als Schilderer guter Mittagessen"(11) (X, 837, 1904) geschätzt zu werden, und nicht seines fulminanten Gesamtwerkes wegen.

Anregung für dieses „kulinarische Schreiben" fand Thomas Mann aber sicher auch bei einem Kollegen, der großen Einfluss auf seine sowie auf jene weiterer namhafter Autoren des 20. Jahrhunderts nahm: Theodor Fontane. Es liegt mir fern, hier in frevelhafter Kürze die Beziehung von Mann und Fontane zu schildern; zu diesem Zwecke können die zahlreichen Thomas-Mann-Studien(12) konsultiert werden. Sicher ist, dass auch Fontane ein Freund der guten Küche und literarischer Rezepte war. Es nimmt also kaum Wunder, dass Generationen von Literaturwissenschaftlern und -liebhabern Buch um Buch herausgegeben haben, in denen kulinarisch-literarische Passagen von Fontane oder Mann (oder Goethe oder Schiller, s. Literaturempfehlungen unten) untersucht und Inspirationen zum Nachkochen gegeben wurden.

Der Literaturwissenschaftler Alexj Baskakov etwa geht in Speisen mit Thomas Mann der kulinarischen Qualität in den Buddenbrooks, im Felix Krull, im Zauberberg etc. auf den Grund und arbeitet die kochkünstlerischen Vorlieben der mannschen Figuren heraus. 26 rezeptähnliche Anleitungen sind dabei herausgekommen, nebst passender Tischdekoration. Es folgt ein Restaurantverzeichnis von Gaststätten, die entweder Speisen aus dem Werk Manns nachkochen oder aber anderweitig relevant für sein Leben waren. Im Lübecker Buddenbrookhaus selbst kann gar als individuelles Angebot das literarische Menü „Zu Gast bei Buddenbrooks" im Gewölbekeller gebucht werden!

Sybil Gräfin Schönfeldt hat in Bei Thomas Mann zu Tisch und in Wanderungen durch Theodor Fontanes Eßlandschaften Ähnliches geleistet: Streng einer kulinarischen Abfolge verpflichtet (also vom doppelten Frühstück über das Mittagessen bis zum gutbürgerlichen Diner) folgt Schönfeldt einer etwas verwischten Charakterstudie von realen Manns und fiktiven Buddenbrooks (resp. Fontane und Romanfiguren Fontanes), bringt aber durchaus ansprechend den Charakter einer längst vergangenen, bürgerlichen Esskultur auf den Tisch. Was mir ein wenig fehlt, ist die augenzwinkernde Leichtigkeit, mit der beide Schriftsteller abseits ihrer Romane über literarische Menüpunkte zu schreiben pflegten, etwa in der Weißerübensuppe Fontanes, die der Autor anlässlich einer Einladung von Karl und Emilie Zöllner, Bernhard von Lempel und Hermann Wichmann am 19. Januar 1867 verfasst hat:

 

„Rindfleisch schlage, stampfe, klopfe,
Brüh es ab im irdnen Topfe,
Spargelschnitzel, Portulacke
Nimm aus sauberm Sommersacke,

Morcheln, eine ganze Sippe,
Ziehe von der Fensterstrippe,
Petersilie, Kohl vom Wirsich,
Sellerie (den ‚Bowlenpfirsich'),

Gelbe Möhren, große, runde,
Laß sie kochen eine Stunde,
Laß sie kochen, bis die Trübe
Klar sich schäumt, dann Rübe, Rübe,
Weiße Rübe schnell hinein,
Und so wird's gelungen sein.

(Macbeth, Koch)"(13)

 

Haben Sie den kleinen Schmäh am Ende bemerkt? Fontane setzt unter dieses Gelegenheitsgedicht: „Macbeth, Koch". Der Grund: Es ist dem Anti-Rezept aus der Hexenszene in Shakespeares Macbeth nachempfunden: „Sumpf'ger Schlange Schweif und Kopf / Brat' und koch' im Zaubertopf: / Molchesaug' und Unkenzehe, / Hundemaul und Hirn der Krähe; / Zäher Saft des Bilsenkrauts, / Eidechsbein und Flaum vom Kauz: / Mächt'ger Zauber würzt die Brühe, / Höllenbrei im Kessel glühe!"(14) (Aufzug IV, Szene 1)

Und nachkochen lässt sich der fontansche Spaß selbstverständlich auch (ich habe mir allerdings erlaubt, noch ein paar nicht erwähnte Gewürze zuzufügen):

 

Weißerübensuppe aus dem Hause Fontane

1 Rinderbeinscheibe, 1 Handvoll getrocknete Spargelabschnitte und -schalen vom letzten Spargelessen bzw. -putzen, 1 Handvoll junge Portulakblätter, 100g Morcheln (geputzt od. Champignons, braune), 1 Bund Suppengrün (Peterwurz, Sellerie, gelbe Rüben), 100g Wirsing od. Grünkohl, 400g weiße Rüben (z.B. Herbstrüben; alternativ auch Mairübchen od. Steckrüben), 1 EL Öl od. Butter, 1 EL Staubzucker, Salz, Pfeffer, 1 Lorbeerblatt, Petersilie zum Garnieren, 1 Liter Wasser 

Zubereitung:

Fett in einem großen Topf erhitzen und die Beinscheibe darin rundherum kräftig anbraten. Suppengrün putzen und in grobe Stücke (3-5cm) schneiden, mit dem Staubzucker bestäuben und ebenfalls anbräunen. Spargelabschnitte, Pilze, Wirsing und Lorbeerblatt zugeben. Etwas salzen und pfeffern. Mit dem Wasser auffüllen und 1 Stunde zugedeckt köcheln lassen. Den Fond durch ein feines Sieb gießen (das Gemüse wird nicht mehr benötigt, Fleisch beiseitelegen). Rüben in 1cm-Würfel schneiden und bei mittlerer Hitze ca. 10 Minuten im Fond garen. Inzwischen das Fleisch von der Beinscheibe auslösen und ebenfalls würfeln; zugeben. Suppe mit Salz und Pfeffer abschmecken, evtl. mit Petersilie garnieren.

 

Zum Abschluss versuchen wir uns noch an dem Plettenpudding der Familie Buddenbrook, denn zumindest ich brauche stets etwas Süßes hinterher:

„Nun kam, in zwei großen Kristallschüsseln, der ‚Plettenpudding', ein schichtweises Gemisch aus Makronen, Himbeeren, Biskuits und Eiercreme; am unteren Tischende aber begann es aufzuflammen, denn die Kinder hatten ihren Lieblings-Nachtisch, den brennenden Plumpudding bekommen."(15)

Der Plettenpudding erlaubt uns ein wenig mehr kochkünstlerischer Freiheiten, zumindest was die Menge und Zubereitung der Zutaten betrifft. Doch hier verlasse ich mich ausnahmsweise auf das Rezept eines anderen, nämlich das des findigen Lebensart-Journalisten Wolfram Siebeck:

„Für 4 Personen nehme man: 1 Liter Sahne, 7 frische Eigelb, dazu 1 Vanillestange und ein wenig Kartoffelmehl. Diese Crème in raschen Bewegungen über dem Feuer abschlagen. Dann in einer feinen Glasschüssel anrichten wie folgt: 1 Schicht >Schuhsohlen< (Löffelbisquit), 1 Schicht Crème wie oben beschrieben, 1 Schicht Makronen, 1 Schicht Himbeergelee, darauf Kokosflocken, 1 Schicht >Schuhsohlen<, 1 Schicht Crème wie oben beschrieben, 1 Schicht Makronen, 1 Schicht Johannisbeergelee. Diese Schicht mit unserer Crème in einem Zuge verschließen. Auf die drei Crème-Schichten werden insgesamt verteilt: 1/8 Pfund Pomeranzenschale und 1/8 Pfund Succade."(16)

Wer nun auch noch dieses üppige Dessert genossen hat, nun, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen. Ich gratuliere herzlich zu dem neu erhaltenen Status des literarischen Meisterkoches und belletristischen Gourmets!

 

Mahlzeit!

 

 

Literatur

Fallada, Hans: Der Schmortopf ist ganz überflüssig. Geschichten und Rezepte. Hg. v. Sabine Lange. Berlin 2001

Fallada, Hans: Kleiner Mann - was nun? Reinbek bei Hamburg 2008

Fontane, Theodor: Große Brandenburger Ausgabe (GBA). Berlin 1994ff

Heftrich, Eckhard u. a. (Hg.): Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des Internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997, Frankfurt am Main 1998 (=Thomas-Mann-Studien, Bd. XVIII)

Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt am Main 1981

Nearing, Helen: Kochbuch des guten Lebens. Eine Sammlung vegetarischer Rezepte für Menschen, die das Einfache lieben. Darmstadt 2001

Sandberg, Hans-Joachim: Gesegnete Mahlzeit(en). Tischgespräche im Norden, in: Thomas Mann Jahrbuch 15. Frankfurt am Main 2002. S. 69-88

Siebeck, Wolfram: Käse oder Dessert? Gerne beides!, in: Zeit Online 40/2000,           
http://www.zeit.de/2000/40/Kaese_oder_Dessert_Gerne_beides_/komplettansicht (05.11.2013)

 

Literaturempfehlungen

Baskakov, Alexej: Speisen mit Thomas Mann. Lübeck 2006

Beckmann-Kircher, Gudrun u. Schork, Burkhard: Mit Schiller zu Tisch. Ein literarisches Kochbuch. Warendorf 2008

Berg-Ehlers, Luise u. Erler, Gotthard: Ich bin nicht für halbe Portionen. Essen und Trinken mit Theodor Fontane. Berlin 1998

Bockholt, Werner u. Frauenberger, Herbert: Das Goethe-Kochbuch. Ein literarisches Kochbuch. Warendorf 1996

Bockholt, Werner u. Rohde, Andreas: Das Theodor Fontane-Kochbuch. Ein literarisches Kochbuch. Warendorf 1998

Bockholt, Werner u. Zawaba, Michael: Das Kochbuch der Weimarer Klassik. Warendorf 1998

Herdan-Zuckmayer, Alice: Die Farm in den grünen Bergen. Frankfurt am Main 2012

Lockheimer, Birgit: Zu Tisch! Das Hausbuch vom Essen und Trinken. Hildesheim 2013

Nearing, Helen und Scott: Ein gutes Leben leben. Die ersten 20 Jahre in Vermont 1932-1952. Darmstadt 1996

Nearing, Helen und Scott: Fortführung des guten Lebens. Die nächsten Jahre in Maine 1952-1979. Darmstadt 1997

Nearing, Helen: Ein gutes Leben - ein würdiger Abschied. Mein Leben mit Scott. Darmstadt 1996

Ostmann, Lea Katharina (Hg.): Das Lesebuch für Genießer. Frankfurt am Main 2008

Schönfeldt, Sybil Gräfin: Feine Leute kommen spät. Bei Thomas Mann zu Tisch. Tafelfreuden im Lübecker Buddenbrookhaus. Hamburg 2012

Schönfeldt, Sybil Gräfin: Gastlichkeit in üppigen und sparsamen Zeiten. Wanderungen durch Theodor Fontanes Eßlandschaften. Hamburg 2005

Schönfeldt, Sybil Gräfin: Gestern aß ich bei Goethe. Bilder einer neuen Gastlichkeit. Hamburg 2002

Schönfeldt, Sybil Gräfin: Zu Tisch, zu Tisch! Eine literarisch-kulinarische Reise durch das 20. Jahrhundert. Hamburg 2010

Wierlacher, Alois: Vom Essen in der deutschen Literatur. Mahlzeiten in Erzähltexten von Goethe bis Grass. Stuttgart 1987

ZeppezauerWachauer (112k)

Quellen, Anmerkungen

  1. http://www.foodnews.ch/allerlei/30_kultur/Lit_Koechinnen.html/ (11.11.2013)  
  2. Fallada, Der Schmortopf ist ganz überflüssig, 11.  
  3. Fallada, Kleiner Mann - was nun?, 81ff.  
  4. Nearing, Kochbuch des guten Lebens, 15.  
  5. Ebd., 24.  
  6. Ebd., 25.  
  7. Ebd., 76.  
  8. Ebd., 11.  
  9. Ebd., 76ff.  
  10. Ebd., 151.  
  11. Zit. nach Sandberg, Gesegnete Mahlzeit(en), 84.  
  12. Zum Beispiel: Heftrich, Theodor Fontane und Thomas Mann (=Thomas-Mann-Studien, Bd. XVIII).  
  13. Fontane, GBA, Gedichte 3, 514.  
  14. Übers. von Dorothea Tieck, http://colecizj.easyvserver.com/pgshama3.htm/ (11.11.2013).  
  15. Mann, Buddenbrooks, 37.  
  16. Siebeck, Käse oder Dessert?, Zeit Online.  
Foto: Marianne J. / pixelio.de