Ludwig Feuerbachs Diktum, dass der „Mensch ist, was er isst"(1), gehört zu den bekannten und vielmals umgedeuteten Formulierungen, die das Verhältnis Mensch - Nahrung zu beschreiben versuchen. Als Reaktion auf die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Einfluss der Nahrung auf die Physiologie des Menschen von Jakob Moleschott im 19. Jahrhundert, formulierte Feuerstein diesen Satz, der auf elegante Art und Weise Sinnfragen nach dem „Sein" mit physiologischen Vorgängen zu verknüpfen versucht.
Der Ausspruch birgt hingegen enormes Umdeutungspotential und lässt sich auf mehreren Ebenen verzeitgeistlichen. Essen als Ausdruck meiner Selbst mit Gleichzeitigkeit von Rebellion, Personifizierung und Symbolisierung von Status, um die markantesten Merkmale unserer Gesellschaft zu nennen. Keine neue Entwicklung könnte man als Fußnote anhängen und anführen: siehe Kulturgeschichte der Ernährung, Stichwort: Dekadenz der mittelalterlichen Tafelrunden versus spärlichen Bauernmahlzeiten. Essen als Ausdruck von Macht und Wohlstand. Nichts Neues.
In einer westlichen Überflussgesellschaft erfährt das „was man isst" eine neue Bedeutungszuschreibung, die sich aus mehreren Motiven speist: gesundheitliche, lifestyle-assoziierte oder soziale Aspekte wirken als Triebfedern. Diese Verknüpfungen von dem „was man wie, wo und wann isst" mit einem Ausdruck meiner Selbst, erreicht ein neues Drehmoment im Informationszeitalter - im Zeitalter, in dem sich soziale Netze vermehrt digital aufspannen, Kommunikation zunehmend online geführt wird und ohne direkten physischen Kontakt zwischen Sender und Empfänger miteinander in Kontakt getreten wird. Nahrung und Essen in Kommunikation einzubetten ist kein Kind des digitalen Zeitalters, wenngleich die Möglichkeiten und Geschwindigkeiten im 21. Jahrhundert anders sind. So können beispielsweise Beobachtungsstudien über das Verhalten des Menschen in einem digitalen Raum wesentlich leichter durchgeführt werden. Tagebücher oftmals als Facebook und Co. getarnt, sind längst nicht nur Vernetzungstools, sondern ein wesentlicher Bestandteil von Meinungsbildung, die im Fahrwasser von Big Data Research wichtige Informationsquellen für die Marktforschung liefern.
Beim Essen über das Essen reden ist ein alt bekanntes Phänomen, mit welchem sich die Wissenschaft bisher trotz epistemologischem Potenzial zu Unrecht wenig befasst hat. Es stellt eine stete Konstante bei Mahlzeiten dar (falls man in Gesellschaft isst und nicht gerade allein vor dem Fernseher seine Mahlzeiten zu sich nimmt) und gibt uns nicht nur Hinweise darauf, wer/wo/wann sein „bestes Schnitzel der Welt" gegessen hat, sondern verrät uns ein wenig wie Menschen ticken. Ähnlich dem Reflex zu gähnen, wenn man einen Text liest, der vom Gähnen handelt(2) oder sein Gegenüber beim Aufreißen des Mundes beobachtet und selbst kaum mehr das Gähnen zurückhalten kann(3), verbergen sich beim foodtalk ähnliche Mechanismen, die unwillkürlich Assoziationskaskaden lostreten können. Beim Essen über das Essen schreiben ist eher mühsam - außer man befindet sich auf einem Kindergeburtstag mit Kritzl-Tischdecke und versucht den Inhalt seines Suppentellers literarisch zu umarmen. Das machen die wenigsten, obwohl es als Interventionsmethode für Kinder oder Jugendliche á la Jamie Oliver durchaus vorstellbar wäre.
Raus aus der analogen und hinein in die digitale social media Welt, in der so einiges anders ist. Beim Essen das Essen zu posten, scheint einer viel niedrigeren Hemmschwelle zu obliegen. Nicht umsonst sind Fotos von Mahlzeiten/Lebensmitteln unter den beliebten Posts auf diversen social media Plattformen. Wie zum Beispiel erst kürzlich bei Das perfekte Dinner, einer TV Sendung im Deutschen Fernsehen in der Menschen gegeneinander antreten, füreinander kochen und versuchen durch ausgefallene Kreationen und Abendgestaltung ein perfektes Dinner zu gestalten. Eine Spezialsendung mit foodbloggern hat eindrucksvoll das Phänomen foodporn dargestellt. Das Smartphone reflexartig aus der Hosen- oder Handtasche zückend, wurde vor jeder Mahlzeit der Teller abgelichtet, ge-hipstert, ge-speichert, ge-instagrammed, ge-twittert oder ge-facebooked. Foodporn. Wörtlich übersetzt, die Pornographie des Essens. Eine Anspielung auf die kurzfristige Befriedigung, die man sowohl als Sender als auch Empfänger beim Sehen von Lebensmittelbildchen empfinden kann. „Click, drool, repeat"(4) gleichbedeutend mit „klicken, sabbern, wiederholen" als Werbeslogan einer foodporn Webpage beschreibt das Phänomen eindeutig und streicht diese kurze Befriedigungs-Halbwertszeit heraus.
Als Vorreiter des foodporn gelten natürlich foodblogger. Menschen, die sich (semi-) professionell mit der art de cuisine beschäftigen, diese Erkenntnisse mit einer community teilen und von dieser Feedback bekommen. Natürlich gibt es unterschiedlichste Beweggründe dies zu tun - ein selbstdarstellerischer Charakter gilt jedoch stets als Voraussetzung.
Warum das so ist, hat viel mit der Transitzeit zu tun, in der wir uns befinden. Wir schreiben wieder gerne Tagebücher, nur bleiben diese nicht mehr privat, sondern stellen uns über einen selbst geschaffenen Avatar dar und verzieren diesen mit eigenen Vorstellungen davon, wie und was man gerne wäre oder vielleicht nicht gerne wäre oder vielleicht mal war und nicht mehr ist oder vielleicht irgendwann mal sein will. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Dass dabei das Essen zum Ausdruck unserer Selbst wird, ist nur eine Zwangsläufigkeit, denn genau wie man sich über Mode, Kunst oder Wissen definieren kann, ist die Funktionsweise hierbei die Gleiche - und dabei Feuerbach erneut bedient. Foodporn ist auf einzelnen Blogs, dem tag-Moloch tumblr oder über hashtags (#foodporn) auf social media Seiten zu finden - als Empfänger hat man eine große Auswahl an anzuzapfenden Kanälen.
Betrachtet man foodporn aus einem wissenschaftlichem Standpunkt, wird deutlich, welchen Einfluss das Umfeld, sprich eine obesogenic environment(5) auf das Verhalten und im Speziellen auf das Ernährungsverhalten hat. Nicht nur, dass diverse hormonelle Regulationsmechanismen von Appetit und Sättigung durch sogenannte food cues beeinflusst werden können (siehe Physiologie von Ghrelin(6) und Insulin(7)), sondern auch, dass man mittlerweile davon ausgeht, dass die Menge von kurzfristig aufgenommener Nahrung sehr von diesen priming Effekten vor und nach der Nahrungsaufnahme abhängig ist.(8)
Natürlich gibt es noch eine Fülle anderer Faktoren, die unser Ernährungsverhalten beeinflussen, in diesem Feld muss noch viel geforscht werden. Oder um es im Wissenschaftsjargon zu sagen: „Further research is needed".
Dass der virtuellen Welt auch Grenzen gesetzt sind, sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Allein der Versuch gustatorische Eindrücke eines geposteten Burger Bildchens über ein Smartphone durch Heranpressen meines Riechorgans zu gewinnen, bleibt erfolglos, wie man es drehen und wenden will. Gegebenenfalls wir laufen in zehn Jahren alle mit Google Glass durch die Weltgeschichte, so bleibt auch in diesem Fall der Eindruck eines virtuellen Bildchens digital, da der Gesamteindruck nie zur Gänze abgebildet werden kann. Dazu fehlen dem physischen Substrat die Rezeptoren. Oder hätte Proust seine memoire involuntaire(9) mit dem kleinen Gebäckstück namens Madeleine ebenfalls so verinnerlichen können, wenn er in seiner Kindheit die Erfahrung nicht analog sondern digital gemacht hätte?
Diese kurze Darstellung zum Thema foodporn ist aus einem inneren Bedürfnis heraus entstanden, nachdem sich der Autor ebenfalls in social media Sphären bewegt und somit introspektive Erfahrungen zum Thema beitragen kann, aber auch einen wissenschaftlichen Background in diesem Feld vorzuweisen hat. Im aktuellen Epikur Heft kann man sicherlich noch einige andere Artikel zum Thema „Schreiben übers Essen" finden - sicherlich mit anderen Schwerpunkten. Digitale Kommunikation ist jedoch ein Thema der Zukunft, in welcher Form auch immer, ob nun über Bilder, Hashtags, Smileys oder Abkürzungen kommuniziert wird, ist eigentlich nebensächlich, weil der Inhalt der Kommunikation entscheidend ist. Inhaltlich ist foodporn ein altes Phänomen, das im digitalen Zeitalter nun eben in neuem Gewand und in beschleunigter Form auftritt. Von wegen, YOLO!
Literatur
Cherno, M.: Feuerbach's "Man is what He Eats". A Rectification. In: Journal of the History of Ideas 24 (1963). S. 397-406
Dürrschmid, Klaus: Zur Sensorik von Madeleines und Tee. http://homepage.boku.ac.at/DUERR/Proust.pdf (09. Oktober 2013)
Harris, J., Bargh, J. & Brownell, K.: Priming effects of television food advertising on eating behavior. In: Health psychology: official journal of the Division of Health Psychology, American Psychological Association 28 (2009). S. 404-413
http://foodporndaily.com/ (09. Oktober 2013)
Labouebe, G., Liu, S., Dias, C., Zou, H., Wong, J. C., Karunakaran, S., Clee, S., Phillips, A., Boutrel, B. und Borgland, S.: Insulin induces long-term depression of ventral tegmental area dopamine neurons via endocannabinoids. In: Nature Neuroscience 16 (2013). S. 300-308
Provine, R.: Contagious yawning and laughing. Everyday imitation- and mirror-like behavior. In: Behavioral and Brain Sciences 28 (2005). S. 142
Provine, R.: Yawning. In: American Journal of Science 93 (2005). S. 532-539
Schussler, Kluge, M.,Yassouridis, A., Dresler, M., Uhr, M. und Steiger, P.: Ghrelin levels increase after pictures showing food. In: Obesity 20 (2012). S. 1212-1217
Swinburn, B., Egger, G. und Raza, F.: Dissecting obesogenic environments: the development and application of a framework for identifying and prioritizing environmental interventions for obesity. In: Preventive medicine 29 (1999). S. 563-570
Van der Plasse G., Merkestein, M., Luijendijk, M., van der Roest, M., Westenberg, H., Mulder, A. und Adan, R.: Food cues and ghrelin recruit the same neuronal circuitry. In: International Journal of Obesity 37 (2013). S. 1012-1019