Schon Epikur wusste: „Keine Lust ist an sich ein Übel. Aber das, was bestimmte Lustempfindungen verschafft, führt Störungen herbei, die um vieles stärker sind als die Lustempfindungen."(1)
Self-enhancement, self-empowerment, self-improvement, Selbstverbesserungskompetenz, Selbstoptimierung, Selbstwerdung und so weiter - das Subjekt der Gegenwart misstraut sich und ist sich nicht gut genug. Dieser Text handelt von der Notwendigkeit, sich zu erkennen, zu managen, zu tracken, zu kontrollieren, zu verbessern, zu regulieren und vor allem: ganz man selbst zu sein. Und er spürt der Frage nach, warum diese exzentrische Form der „Sorge um sich"(2)unsere Genussfähigkeit gefährdet.
Selbstoptimierung als Selbstermächtigung
Nimmt man den aktuellen öffentlichen Diskurs um das Thema Selbstoptimierung näher in den Blick, so erscheint dieser vor allem als (stets erweiterbares) Methodenrepertoire beliebig und jederzeit erlernbarer Kompetenzen und Fähigkeiten, die den Handlungsspielraum des Selbst im Umgang mit dem Anderen (zum Beispiel Dispositionen der Umwelt, Fremdheit, Sozialisation, Kultur, Genetik et cetera) ausbauen und perfektionieren sollen. Der Wunsch nach Dominanz und erfolgreicher Domestizierung jedweden bislang Unverfügbaren kennzeichnet die zugrunde liegenden Denkkategorien zeitgenössischen selbstoptimierenden Strebens - der Wachstums- und Fortschrittsglaube aus Technik, Wissenschaft und Wirtschaft schreibt sich in Form von Selbsttechniken und Selbsttechnologien in ein auf lebenslanges Lernen fokussiertes Subjekt ein:
„Freilich nicht nur die Erwerbsarbeit, auch das Familienleben und die Freizeitgestaltung, eigentlich das Leben insgesamt, scheinen für die meisten Menschen in der modernen Gegenwartsgesellschaft unter Optimierungsdruck zu stehen <...> Man sorgt sich um die Bindung, den Sex, das Outfit, die berufliche Herausforderung, die erotische Ausstrahlung und die körperliche Verfassung. Entgrenzung, Selbstwerdung, Flexibilität und Kreativität beschreiben eine Lebensführung außengeleiteter Intensivierung, bei der Hochstimmungen sich mit einem Mal in Leerlaufgefühle verwandeln."(3)
Die letzte Konsequenz dieser Denkfigur außengeleiteten Lebens besteht dabei nun nicht in einem lediglich besseren Zurechtfinden in einer komplexen Um- und Außenwelt, sondern vielmehr im Wunsch nach gänzlicher Kolonisierung derselben beziehungsweise ihrer totalen Unterwerfung im Sinne einer optimalen, perfekten Einrichtung, welche über die Steigerung der eigenen Anpassungsfähigkeit vermittelt ist, also letztendlich ein vollständiges Aufgehen alles Anderen im Eigenen bedeutet: Jeder ist selbst seines Glückes Schmied - und zwar idealerweise völlig. Das Streben nach Selbstoptimierung entspricht somit dem narzisstischen Wunsch nach totaler Selbstermächtigung.
Aus hedonistischer Perspektive wohnt dieser zwangsgeleiteten Wunschvorstellung die angst- und somit auch unlusterfüllte Idee inne, dass das Eigene noch nicht (und niemals!) genügen könne, um Umwelt und Umständen ein hinreichendes Maß an Lust abzutrotzen. Vielmehr besteht die Idee der Optimierung im Wunsch nach einer besseren (besten!) Ausbeute, entspringt also der chronischen Grundauffassung der eigenen Unzulänglichkeit des narzisstischen Subjekts: „Die Mobilisierung des Könnens in alle Richtungen und auf allen Ebenen wird von der plötzlich auftauchenden Frage nach dem Wollen auf Grund gesetzt. Wozu das alles? Worum geht es im Zweifelsfall? Was will ich im Leben?"(4)Mit Lacan gesprochen, findet sich im Optimierungsverhalten des Perfektionszwangs eine neurotische Beziehung zwischen Ideal-Ich und Ichideal.(5)Diese impliziert eine narzisstische Disposition leidvoller Selbsteingenommenheit, gepaart mit der unbedingten Bereitschaft zur stetigen Selbstveränderung, befördert also das ganz eigene Ideal der absoluten Flexibilität des (Größen-)Selbst und somit den Ausbau narzisstischer Unlustpotentiale. Gesellschafts- und kulturkritisch gewendet nimmt sich derzeit übrigens auch Byung-Chul Han dem Problem dieser „Austreibung des Anderen" zugunsten einer Anhäufung des Gleichen an.(6)
Die Selbstoptimierung wird schließlich zum Selbstzweck, zum unabschließbaren Prozess, und folgt dabei einer kapitalistischen Logik; das Subjekt befindet sich im Zustand der neoliberalen Selbstakkumulation: Alles wird zum Selbst, alles kann, soll, muss restlos beherrscht, erlernt, erschlossen, angeeignet werden; jedes Außen, jede Verbindlichkeit erscheint lediglich noch als Ausstülpung des Innen - jede mögliche Alteritätserfahrung wird in eine Selbsterfahrung umgewandelt. Die genussversprechenden Konsumgüter gewinnen dabei zunehmend die Form der dienenden Virtualität und Abrufbarkeit, weil scheinbar alles gleichzeitig, sofort und ohne Aufwand und Einbußen verfügbar wird.(7)Der Zugang des Subjekts zum Genussmittel ist dabei ökonomisch und einseitig dominant determiniert, es herrscht die strategische Sparsamkeit mit dem Selbst und seiner potentiellen Labilisierung. Die autonome Macht(8)der Substanz wird im Zuge der Ermächtigung des Selbst außer Kraft gesetzt.
In der Optimierung liegt die Lust? - Genuss als Begegnung mit dem Anderen
Nun kann man argumentieren, dass Lernen Spaß mache, dass die Lust an der Fähigkeit zur Lustentwicklung selbst bereits genussvoll sein könne.(9)Grundsätzlich wohnt dieser Idee sicherlich viel Wahrheit inne. Man kann noch weiter gehen und feststellen, dass ohnehin jedes Genießen ein narzisstisches Element besitze, da der lustvolle Umgang mit dem Anderen Erfahrungen der Lust und Unlust mit dem Eigenen voraussetze, das Selbst festige und zugleich labilisiere und auch immer partiell ein Selbstgenießen sei.(10)
Genuss kann in diesem Sinne also als überwiegend lustvoll gedeutetes Spannungsverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen beschrieben werden. Dieses Verhältnis positioniert sich performativ zu seinen Elementen, gleicht also für das genießende Subjekt einem Balance-Akt. Es bedarf eines Verhaltens, das einerseits sowohl das Eigene bis zu einem gewissen Punkt (so weit wie nötig) bewahrt, aber auch andererseits Veränderungen durch das Andere, Fremde (so weit wie möglich) zulässt, diesem also in Hingabe die Möglichkeit zur Invasion einräumt. Das Andere als das Fremde muss hierbei als unkontrolliert und unverfügbar erscheinen, da es sonst seine Andersheit einbüßt.
Problematisch erscheint bei der vollständigen Eliminierung des Anderen aus den Genüssen und Lüsten im Zuge einer maßlosen selbstgenießerischen Optimierung und Perfektionierung des Eigenen allerdings die Gefährdung ebendieser Unverfügbarkeit. Sebastian Knöpker macht dies deutlich, wenn er den Kern des Genießens im Anderen, das heißt dem Unverfügbaren selbst, festmacht: „Die Lust in der Lust zu entdecken, also die Freude am Freude-Haben-Können, bedeutet, einen Platz freizuhalten für etwas, das nicht sicher kommt und nicht gewollt werden kann".(11)
Verfehlt man es - aufgrund einer übermäßigen Präferenz für das Eigene im Zuge selbstoptimierender Aneignung, diesen Platz freizuhalten - sich also lustvoll zu öffnen für das Andere und Fremde, das potentielle Schiefgehen im Unverfügbaren, kann dieses zu hoch gewählte Maß an Eigensinn nicht nur, wie gerade zu beobachten, schwerwiegende politische Folgen haben(12), sondern gefährdet auch das gute, also im Sinne hedonistischer Philosophie lustvolle Leben des Einzelnen.
Der reine und maßlose Selbstgenuss perfektionistischer Optimierung droht sich schädlich auszuwirken auf die Voraussetzung des Genießens, welche vor allem in der Möglichkeit des Spannungsverhältnisses zwischen Eigenem und Anderem besteht, welches im Genießen wieder und wieder seine lustvolle performative Neuverhandlung erfährt und erfahren muss. Die Abtötung der Spannung durch das Begehren ihrer Intensivierung, das maßlose Verhältnis zum Eigenen, entspricht somit der Abtötung des Genießens selbst.
An seine Stelle tritt ein onanierendes, system- und strukturnegierendes, gänzlich selbstermächtigtes Subjekt, das Erfolg um Erfolg feiert, als seien es die eigenen.
In seiner die Welt ausschließlich als Wille und Herausforderung wahrnehmenden Selbsteingenommenheit verfehlt es auf dramatische Weise zahlreiche Einsichten Epikurs, allen voran die folgende: „Von dem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des gesamten Lebens bereitstellt, ist das weitaus Größte der Erwerb der Freundschaft."(13)Nur in Gemeinschaftlichkeit und Solidarität kann Genuss tatsächlich auf hedonistische und somit lustvolle Weise wirksam werden, eine Einsicht, die sich übrigens auch aus dem gotischen Wortstamm „ganiutan" herleiten lässt, was in etwa „gemeinsam nutzen" bedeutet.(14)
Die Optimierung des Selbst hingegen entspricht einem durch und durch individualistischen und zudem gänzlich maßlosen Unterfangen - ihr fehlen Großzügigkeit, Freundschaft, Solidarität zugunsten von Effizienz, Kontrolle und Selbstverbesserungskompetenz. Die Fokussierung auf das Eigene trübt den Blick für das Gemeinschaftliche ein.
Genuss aber bedarf in erster Linie gerade nicht einer über individuelle Leistung verbesserten Fitness oder gar Professionalität des Einzelnen, sondern vielmehr einer Haltung des Platzhaltens.
Genuss bedarf also der Bereitschaft, die Alterität anzuerkennen, und das heißt vor allem, sie staunend, erfreut und dankbar zur Kenntnis zu nehmen, ohne ihr völliges Verstehen, ihre Integration oder Aneignung anzustreben.
Über den Weg narzisstischer Selbstoptimierung werden diese Werte nicht erreicht - ihre Verwirklichung führt keineswegs zu kontrollierten, optimalen oder perfekten Ergebnissen. Der Erfolg eines Genießens ist nicht endgültig planbar, sein Auftreten und seine Realisation bleiben für das Subjekt immer partiell unverfügbar und somit der Grund für lustvolles Erstaunen. Eine freundschaftliche Grundhaltung heiterer Gelassenheit gegenüber dem Eigenen, dem Anderen und der Welt im Allgemeinen erweist sich daher als ausgesprochen nützlich.
Als Quintessenz könnte man deshalb zusammenfassen: Genuss braucht derzeit vor allem eines: ein gewisses Maß an Lässigkeit.
Verwendete Literatur:
Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst. BpB, Bonn 2015.
Decker, Oliver, Kies, Johannes u. Brähler, Elmar (Hg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Psychosozial, Gießen 2016.
Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Band 3. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989.
Han, Byung-Chul: Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute. Fischer, Frankfurt am Main 2016.
Jünger, Ernst: Annäherungen. Drogen und Rausch. Klett-Cotta, Stuttgart 1978.
Knöpker, Sebastian: Die gerettete Lüsternheit. Der Genuss am Genießenkönnen. In: Epikur. Journal für Gastrosophie 2 (2013). http://www.epikur-journal.at/de/ausgabe/detail.asp?id=468&art=Artikel&tit=Die%2520gerettete%2520Luesternheit%2E%2520Der%2520Genuss%2520am%2520Geniessenkoennen (02.01.2017).
Krautz, Hans-Wolfgang (Hg.): Epikur. Briefe. Sprüche. Werkfragmente. Griechisch/Deutsch. Reclam, Stuttgart 1985.
Nemitz, Rolf: Graf des Begehrens. Ich - Ideal-Ich - Ichideal: Der Zauberspiegel. Blogeintrag. http://lacan-entziffern.de/spiegelstadium/ich-idealich-ichideal/ (02.01.2017).
Pfaller, Robert: Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen. Springer, Wien u. New York 2000.
Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. Fischer, Frankfurt am Main 2011.
Rother, Wolfgang: Genießen und Genuss. Annäherungen an ein Phänomen menschlicher Existenz. In: Michael Brauer u. Lothar Kolmer (Hg.): Hedonismus. Genuss - Laster - Widerstand? Beiträge zur Tagung am Zentrum für Gastrosophie, Salzburg 24./25. Februar 2012. Mandelbaum, Wien 2013. S. 15-28.
Žižek, Slavoj: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur. Turia + Kant, Wien 1992.