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Hedonismus. Eine antike Philosophie für Hier und Heute

Ute von MAURNBÖCK-MOSSER.   

Wie funktioniert ein gelungenes Leben? Es gibt offenbar Parameter, die für Alle gelten. Klar scheint: das Streben nach immer mehr macht unglücklich.

Wir sprechen über den Hedonismus, über die Philosophie der Lust. Diese fordert mehr Nachhaltigkeit und Reflexion als man gemeinhin mit dem Begriff „Hedonismus" in Verbindung bringt.

Schon im vierten vorchristlichen Jahrhundert haben einige Denker darauf hingewiesen, dass unsere Lebenszeit begrenzt ist und nichts darauf hinweist, dass es so etwas wie ein Weiterleben nach dem Tod und eine unsterbliche Seele gibt. Damit standen diese Philosophen im Widerspruch zu Platon, nach dessen Vorstellung die Seele nach dem Tod in ein Schattenreich eintaucht und geläutert wird, um dann in einem höheren Bereich die Unsterblichkeit zu erfahren.

Im Gegensatz zu Platons Idealismus sind die Hedonisten empiristisch orientiert, sie betonen die Bedeutung des Diesseits. Danach sind wir Menschen ein Stück Natur, wir leben eine Zeit lang und wir haben die Bestimmung, dieses Lebensintervall optimal zu gestalten. Diese Zeitspanne plädierten die Epikureer schon im 4. bzw. 3. Jahrhundert vor Christus, sollen wir so optimal wie möglich gestalten. Für uns und unsere Umgebung. Der Selbstgenügsamkeit größte Frucht: Freiheit.

 

Das Entstehen des höchsten Gutes und der Genuss daran sind gleichzeitig.

Patrick Schuchter begreift sich als philosophischer Praktiker; er organisiert Projekte für Menschen, die an ihrem Lebensende stehen und - wie er es ausdrückt - erste und letzte Fragen des Lebens besprechen wollen. Er verweist auf den Unterschied zur Antike:

Das liegt ja in der Philosophie der Antike und des Hellenismus ... überhaupt im Konzept der Philosophen, dass sie keine Philosophie am Schreibtisch ist, sondern tägliche Lebensübung. Das ist ein entscheidender Unterschied: Wir sind es heute gewohnt, unter Philosophen Leute zu verstehen, die in der Öffentlichkeit stehen, intellektuell in den Medien auftreten oder an der Universität gute, dicke Bücher schreiben, die bestimmt sind für ihresgleichen. Die Philosophen in der Antike, standen im Alltag und haben für andere Menschen, tiefer das Leben reflektiert und deshalb für als Weise gegolten.

 

Eine Erkenntnis daraus liegt darin, Fragen aus dem täglichen Leben wiederum an das tägliche Leben zu richten.

Auch Epikur beschäftigte sich mit diesen ersten und letzten Fragen. Der Philosoph, der im 4. Jahrhundert vor Christus geboren wurde, stand in der Tradition einer entwickelten philosophischen Hochkultur. Die Fragen des Lebens, der Ethik und des Sterbens verankerte er abseits der Götterwelt und wollte sie nicht mit den Mitteln der Religion, sondern mithilfe der Selbstreflexion und des Nachdenkens über eigene Erfahrungen entwickeln. Beantworten wollte er sie nur bedingt, denn auf viele Fragen wie nach dem „Danach" gab es für ihn keine letztgültige Antwort. Die Mitglieder seiner Gemeinschaft, die auf Geschlechter- und Klassengerechtigkeit ausgerichtet war, philosophierten bei den Spaziergängen in seinem Garten epikureische Grundsätze.

 

Patrick Schuchter weiter:

Die Art und Weise, wie diese Philosophie funktioniert ..., hat im letzten Jahrhundert Rainer Maria Rilke schön ausgedrückt, wenn er sinngemäß sagt: ... man muss Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen und die Fragen lieb haben, wenn man die Fragen lieb hat, lebt man eines Tages vielleicht in die Antwort hinein, es geht nicht darum, dass man auf schwierige existentielle Fragen, auf die es letztlich keine Lösung gibt, fixfertige Antworten hat, sondern dass man sich immer wieder mit diesen Fragen beschäftigt im sozialen Austausch. Was nach diesem Muster, in der Rezeption bei den Epikureern idealisiert wurde, das versuchen wir heute auch zu machen, in Gesprächskreisen, nicht immer auf Nützlichkeit bedacht, sondern auf Verständigung; sich verständigen, was betrifft dich, was ist die tiefere Frage hinter deiner Geschichte, die du erlebt hast?

 

Die Philosophie des Epikur ist aufs Diesseits bezogen, nicht aber - wie sie heute oft missverstanden wird - als eine ausschweifende Suche nach immerwährendem Genuss. Ausgangspunkt ist das Elementare; das ist wenig:

 

Die Stimme des Fleisches spricht: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren. Wem das zuteil wird und wer darauf hoffen kann, der könnte sogar mit Zeus an Glückseligkeit wetteifern.

Patrick Schuchter überträgt die Gedanken des antiken Philosophen in die Gegenwart.

Wer sich um das Morgen am wenigsten kümmert, geht ihm mit der größten Lust entgegen.

 

Wer übers Leben nachdenkt, sucht existenzielle Antworten. Doch die Epikur gegeben hat, waren nicht überall geschätzt. Die griechischen Stoiker und später die christliche Kritik stießen sich am hedonistischen Lustprinzip. Im Zentrum sollte, ihrer Auffassung nach, die Tugend und nicht die Lust stehen. Zudem lehnte die christliche Lehre mit ihrem Jenseitsglauben den Hedonismus mit seiner Betonung auf das diesseitige Leben ab.

 

Der Schriftsteller Franz Schuh, der voriges Jahr den Band „Fortuna. Aus dem Magazin des Glücks" vorgelegt hat, meint zur gegenseitigen Ablehnung von Stoikern und Hedonisten:

All diese antiken Lehren haben eine gewisse Einseitigkeit, sind auch dadurch entstanden, dass sie Oppositionen zueinander sind, Stoa und Hedonismus vertragen sich naturgemäß nicht besonders gut. Die Stoiker verspüren Angst vor einer Abhängigkeit am Lustempfinden, dem hinterher jagen zu müssen - da ist Selbstbeherrschung geradezu angenehm.

 

Das griechische Wort hedoné bedeutet Freude, Lust, Genuss, Vergnügen und sinnliche Begierde.

Der Experte für Positive Psychologie und Lernen, Benjamin Berend, bringt eine sehr gute Definition:

Am besten lässt sich Hedonismus als eine „heitere, in der europäischen Antike wurzelnde Lebensform beschwingter Bejahung von Genuss- und Lustmaximierung sehen".

 

Kritiker setzten die Epikureer mit Schweinen gleich, stecke doch das Schwein mit seiner Schnauze im sinnlichen Gewühl, anstatt den Kopf zum Himmel zu heben. Die sinnlichen Genüsse seien diesen demnach wichtiger als Moral und Transzendenz. Tatsächlich geht es bei Epikur um die Lust am Sein. Zu leben ist die zentrale Lust. Was danach und darüber hinaus passiert, schreibt er, wissen wir nicht, deshalb müsse es uns auch nicht beschäftigen.

 

Die Psychologin, Tatjana Schnell, die sich an der Universität Innsbruck mit Empirischer Sinnforschung beschäftigt, hat mit ihrem Team eine Studie unter 2000 nichtreligiösen Menschen durchgeführt. Sie wollte herausfinden, ob diese - die ja stärker im Diesseits verhaftet sind - hedonistischer leben als religiöse Menschen. Sind Hedonistinnen und Hedonisten also besser darin einen Sinn zu finden?

Durch Studien in der letzten Zeit wurde deutlich belegt, dass Leute, die nach Lust streben und Unlust vermeiden, viel weniger Lusterleben haben als solche, die nach Sinn streben. Das kann man gut erklären dadurch, dass wir Erfahrungen machen, Grundlagen für schöne Gefühle, tolle Erfahrungen, tiefgehende Befriedigung suchen, das ist nichts Religiöses per se, eher quasi- religiös; es gibt eine Gesundheits-, Fitness-, Sportorientierung oder auch eine Wissensorientierung,  das geht auch im moderaten Rahmen.

 

Auch wenn es einer Gesellschaft wirtschaftlich gut geht, bedeutet das nicht, dass es deshalb mehr Hedonistinnen und Hedonisten gibt.

 

Tatjana Schnell führt aus:

Wenn Menschen es schwierig finden, Sinn zu finden, zumindest schöne Momente zu erleben, glücklich zu sein, und das weniger als früher, als der gesellschaftliche Überbau geschlossener und homogener war, dann wird klarer in welche Richtung es geht - in die zu weniger Freiheit. Mehr Freiheit, mehr Wahlmöglichkeiten, wie schaffe ich, dass es stimmig ist, wo möchte ich dazugehören, wo involviert sein? Das muss jeder für sich leisten, für sich begründen. Dabei kann man leichter scheitern als früher. Studien zeigen: wenn das Scheitern geschieht, kein Sinn da ist, ist ein größeres Bedürfnis nach guten Gefühlen da.

 

Die „Vorlust" und die „Endlust", nannte Sigmund Freud die Vorfreude und das Vergnügen nach einem Lusterlebnis, der „Zustandslust". Je mehr Lüste und Annehmlichkeiten wir haben - sei es ein warmes Zuhause, ein Leben in friedlicher Umgebung, einen vollen Bauch - desto anfälliger sind wir, diese Zustände auch als natürlich gegeben zu empfinden. Um mit Epikur zu sprechen, bedeutet schon die „Abwesenheit von Unlust" Glück. Viele verderben sie sich durch die ständige Forderung nach mehr: einem feineren Essen, mehr Sex, dem größeren Auto.

Wahre Hedonistinnen und Hedonisten sind also Pragmatiker.

 

Suche das Glück als Leben in Freude und Lust ohne Schmerzen und Unruhe.

Wer sich in maßlose Ideen verrennt, verdirbt sich sein Glück, meint der Philosoph, Robert Pfaller. Auch bei der Lust und dem Genussfähigkeit ist maßhalten angesagt, sonst wird sie zur Sucht und damit zur unlustvollen Unfreiheit.

Es sind Menschen, mit eigenen Einbildungen: Ich muss Präsident werden oder Weltmeister oder Schönheitskönigin. Solche Ideen verderben den Menschen meistens das Glück. Die gute Nachricht ist, dass wir diese Wahnideen beherrschen können, uns Psychotechniken zurechtlegen können, dass wir bestimmten Einbildungen mit anderen Einbildungen begegnen.

 

Die Sexualberaterinnen Barbara Zuschnig und Beatrix Roidinger sind die Gründerinnen des Zentrums für Sexualberatung und Selbsterfahrung „E.R.O.S. & du". Lustvoll und ohne Ängste experimentieren: das geben sie in Workshops weiter und haben dafür in der ganzen Welt geforscht. Hedonismus, das Genießen im Jetzt: Barbara Zuschnig wünscht sich, dass über das oft Unausgesprochene geredet wird.

Man soll das Thema zum Thema machen, Vorfreude entwickeln, der auch eine gewisse Zeit widmen, dass die Begegnung am Abend stattfinden kann. Der weitverbreitete Gedanken ist noch tiefverwurzelt, dass Sex nur authentisch und gut ist, wenn er spontan ist. Dem widersprechen wir, wenn beim Kochen und Essen auch Beschäftigung zum Genuss führt, kann das genauso auch beim Sex zum Genuss führen.

 

Mit einer positiven, einer hedonistischen Grundeinstellung, sagt auch Beatrix Roidinger, merkt man schnell, was einem guttut.

Das Thema in der Beratung, aber auch in vielen Workshops, welche Körper und Alltag miteinbezieht, nicht nur auf ein paar Quadratzentimeter Genital oder den Orgasmus reduziert, oder: so muss das sein, so hab ich es in der Pornographie gesehen ... Das Zielgerichtete ist nie genussvoll. Das ganz Wichtige ist, den ganzen Körper als Genussmedium zu verstehen und zu pflegen, was viele nicht gelernt haben oder sich zugestehen ...

 

Barbara Zuschnig fährt fort:

Es ist ein Missverständnis, wenn ich sage, ... ich würde mir eine einstündige Massage wünschen. Der Partner denkt, ah, ich muss sie geben, aber wichtig wäre, den Wunsch als Wunsch aussprechen zu dürfen, ohne Adressierung, ohne schlechtes Gewissen machen zu wollen, mehr zu zeigen, was man denkt oder braucht oder sich wünscht. Epikureer, die in Lustgärten gewandelt sind, was haben die gemacht? Ohne Ziel Gedanken ausgetauscht, immer wieder, das hat mich inspiriert, das macht auch in Gesprächen bei Paaren Räume auf, die sie sonst nicht gesehen haben, weil sie sonst immer abwehren müssen: das mag ich nicht, das ist mir zu viel oder von dem halte ich nichts. Es geht um erzählen, ohne gleich zu meinen, ich muss es für jemanden machen.

 

Erwachsene Menschen wissen meist viel zu wenig über ihren eigenen Körper und ihr Verlangen, sagen die Expertinnen von „E.R.O.S. & du". Denn so wie Sexualität von früh auf wahrgenommen wird, prägt es die Lust und Genussfähigkeit.

 

Beatrix Roidinger verweist auf heutige Zustände:

Derzeit wächst eine ganze Generation mit Pornographie auf, es wird eine Form von Sex dargestellt, schon früh sehen das Kinder und Jugendliche; das macht etwas, sie denken, so ist Sex, so sind Menschen. Davon wird eine besondere Vorstellung geprägt. Bevor sie noch Händchen halten, kennen sie sich schon bei Analsex aus, nur im Sinn von Rezeption, nicht von eigenem Nachspüren. Dann passiert oft großer Frust, weil es nicht so ist, der Partner reagiert nicht so oder auch ich, wie ich das gesehen habe. Die ganze falsche Vorstellung von Performance: Männer, die immer Erektion haben, Frauen, die in jeder Stellung kommen können und das nach wenigen Minuten ...  der Vergleich macht Stress, der genau das Gegenteil von Genuss ist.

 

Sex kann man lernen. Genuss im Allgemeinen ebenso.

Robert Pfaller spricht den Menschen ein gesundes Verhältnis zum Genuss schlicht ab. Wir gönnen uns nichts, fürchten uns vor allem - und wenn wir hedonistisch leben, müssen wir das tyrannische Über-Ich überwinden, und Genuss erlernen, sagt er. Und das nicht nur bei Essen, Trinken oder Sex.

Das ist mit anderen Dingen auch so, Gesundheit, Sicherheit, man merkt das an der Orthorexie oder wenn man der Sicherheit alles opfert, wenn plötzlich die Polizei selbst gefährlich wird oder die Geheimdienste Alles überwachen und zur Gefahr werden. Hedonisten sind Leute, denen klar ist, dass man der Lust nicht alles opfern darf, weil man sie dann nicht erreicht, denen aber auch klar ist, dass es sich lohnt, die Lust zu erreichen, und man deshalb nicht die Lust vermeiden darf.

 

Anders ausgedrückt: sich maßlos zu mäßigen, ist unvernünftig.

 

Soll Widerstand geleistet werden und wenn: Wogegen? Gegen übertriebenes Eingreifen des Staates, das den Hedonismus systematisch herabwürdigt und verunmöglicht, sagt der emeritierte Kulturhistoriker und Gründer des Zentrums für Gastrosophie, Lothar Kolmer.

Darf der Staat zu einem bestimmten Verhalten „schubsen" - um weniger Zucker zu konsumieren? Etwa mit einer Zuckersteuer? Wo es sie gibt, wirkt sie, viel mehr als das sanftere Mittel der Aufklärung über die Schäden von zu viel Zucker im Körper. Analog gilt das fürs Rauchen! Zucker in Lebensmitteln erhöht den Gewinn der Produzenten und das Gesundheitsrisiko beim Konsumenten. Was wiederum zu höheren Kosten im Gesundheitssystem führt, die alle Bürger treffen ...

Was aber heißt „Staat"? Das ist die Gemeinschaft der Bürger. Diese sind auch voreinander zu schützen, etwa vor Gewalt, damit jeder ein selbstbestimmtes Leben führen kann - aber auch vor finanziellen Nachteilen durch Krankheitskosten von Rauchern? Das ist eine Gratwanderung. Aber grundsätzlich dürfen die Freiheitsrechte nicht beschnitten werden - und die sind durchaus in Gefahr.

 

Genuss ist nichts Einfaches, sagt Robert Pfaller, denn Genuss hat immer auch mit Souveränität zu tun.

Einen schönen Beleg dazu hat Bert Brecht geliefert in seinem Gedicht „Resolution der Kommunarden". Er lässt die Aufständischen von der Pariser Commune 1871 sagen: In Erwägung, dass Ihr uns dann eben mit Gewehren und Kanonen droht, haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod ...

Das ist Hedonismus! Was Lustfeinde übersehen, asketische Fanatiker, die sich in die Luft sprengen und sagen: ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod! Auch die Asketen bei uns, die jede Gesundheitsgefährdung ausschließen wollen und uns nur noch gesunde Sachen verschreiben wollen, die übersehen, dass genau der Hedonismus selbst, nicht in der Erhaltung des Lebens sein höchstes Gut hat, sondern dass man lebt, wofür es sich zu leben lohnt. Dann ist man bereit, dafür das Leben selbst zu riskieren. Schlechtes Leben mehr als Tod fürchten, das ist es, was Menschen unbeugsam macht, weil sie sich nicht mehr Alles gefallen lassen.

 

Es ist nicht der Umstand, dass wir leben, sondern dass das Leben „ein Leben" ist - mit all seinen scheinbar kleinen Dingen: vom Lächeln des Verkäufers in der Bäckerei bis zum Geruch von Erde. Und dazu gehört ebenso der erwachsene Umgang mit Lust und Genuss, fordert Robert Pfaller, der eine zunehmende Aufmunterung zu kindlichem Verhalten ortet.

Auf einem Flug in den USA wurde ich vor „Erwachsenensprache" in dem Film „Amour" von M. Haneke gewarnt. Der Film ist weiß Gott kein Porno, sondern handelt von alten Leuten, die sterben. Man warnt in den USA auch Erwachsene vor Erwachsenensprache, adult language, vor irgendwelchen körperlichen, sexuellen Wörtern. Ich glaube, wir müssen erkennen, dass diese Infantilisierung, diese Rücksicht auf Empfindlichkeiten auch ein Schüren von Bedürfnissen ist, das in ihre eigene Unterdrückung einschult. Wenn sie so kindlich sind, dass sie Erwachsenensprache nicht ertragen, wird man ihnen morgen das Wahlrecht entziehen, denn sie können auch nicht sinnvoll entscheiden, welche Partei sie vernünftigerweise wählen sollen.

 

Eine „postmoderne Infantilisierung" macht Robert Pfaller in unserer Gesellschaft aus, und fordert zur Verteidigung eines erwachsenen, souveränen Umgangs mit Gegenmeinungen auf. Zu einem solchen Umgang mit Lust bedarf es nicht nur einer Gelassenheit, sondern auch Bildung und einer gefestigten Meinung.

 

Die Lektüre der antiken Denker beantwortet Fragen, die aktuell waren und immer noch sind, bekräftigt der Kulturhistoriker Lothar Kolmer. Neben dem lustvollen Leben diskutierte Epikur Themen wie Verteilungsgerechtigkeit oder das Zusammenleben von Frauen und Männern. Fragen, die Hintergrundwissen, Analysekenntnisse und Texterfassungsfertigkeiten voraussetzen. Nur so - damals wie heute - bilden sich neue Generationen mündiger Bürgerinnen und Bürger heran.

Die Mythen laufen jetzt wieder gut. Der Mythos „Heimat"! Das ist, muss man erkennen, keine Realität. Das ist das, was man „große Erzählung" nennt, eine fiktive Geschichte, erzählt zu emotionaliserenden Zwecken, sei es politisch, sei es ökonomisch. Um dagegen vorgehen zu können, braucht es kritisches Denken. Dabei kann die antike Philosophie helfen; das Muster stammt aus dieser Zeit. Man entdeckt dann, dass ganz aktuelle Probleme so neu nicht sind, dass es eine lange Auseinandersetzung gibt und verschiedene Positionen dazu. Die Auseinandersetzung damit verhilft wiederum dazu, sich seine eigene Haltung zu bilden. Epikureismus ist kein dogmatisches System, wie eine Religion, wo man etwa an eine Jungfrauengeburt glauben muss, sondern ein philosophisches. Die Argumente zählen - da kann und muss man Meinungen kritisieren, auch verwerfen; seine eigene bilden.

Maurnboeck-Mosser2 (73k)

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