Das Acronym „YOLO" - 2012 in einer Internet-Abstimmung zum „Jugendwort des Jahres" gekürt(1) - steht im Englischen für „you only live once", also übersetzt: „Du lebst nur einmal", und ist gewissermaßen so etwas wie ein Jugendsprech-Synonym für das altbekannte „Nach mir die Sintflut". Denn die YOLO-Maxime lautet: Lasse keine Gelegenheit aus, Spaß zu haben, ungeachtet möglicher Gefahren, gesellschaftlicher Normen, Anstand und Moral, lebe als ob es kein Morgen gäbe(2).
Vom antiken „carpe diem" - „pflücke den Tag" - unterscheidet sich „der"(3) YOLO deswegen deutlich, obwohl die Begriffe häufig synonym gebraucht werden, denn die Aufforderung des „carpe diem" zielte eher darauf ab, seine Aufgaben in Bescheidenheit zu erfüllen, um ein ruhiges Leben führen zu können. „YOLO" ist dagegen geradezu eine explizite Aufforderung, unvernüftig und ungehemmt lustfokussiert zu leben.
Und als besonders unvernünftig gilt es in unserem Kulturkreis seit jeher, sich etwas zu leisten, was man sich (eigentlich) nicht leisten kann, gerade im Hinblick auf materiellen Besitz und Luxusgüter. Denn sich etwas zu leisten, was man sich (eigentlich) nicht leisten kann, heißt, über seine Verhältnisse zu leben. Und über seine Verhältnisse zu leben bringt einen über kurz oder lang mit hoher Wahrscheinlichkeit in Schwierigkeiten, weshalb es eben unvernünftig ist und zugleich unmoralisch, sofern andere von diesem Verhalten betroffen sind und in Mitleidenschaft gezogen werden.
Grundlegende anthropologische Überlegungen
Damit stellt sich aber unmittelbar die Frage: Wieso neigen wir Menschen so häufig dazu, über unsere Verhältnisse zu leben? Dazu möchte ich zunächst einige grundsätzliche philosophisch-anthropologische Überlegungen anstellen.
Denn womöglich steckt hinter diesem Phänomen ein tief in unserer Psyche bzw. in unserer „Natur" verankerter anthropologischer Wesenszug: Die Neigung zum Vergleich mit anderen nämlich, und zwar häufig zum Vergleich mit dem, was andere HABEN. Der Religionsphilosoph René Girard nannte dies das „mimetisches Begehren", also das nachahmende Begehren: Was der andere hat, muss ich unbedingt auch haben(4). Das geht schon im Kindesalter los, allerspätestens in der Volksschule: Ob es sich um den Schulrucksack einer bestimmten Marke handelt, um spezielle Glitzerschuhe, um die neueste Spielkonsole, um den aktuell angesagten Schminktisch für frühstpubertierende Mädchen ab neun und natürlich auch um „Unverzichtbares" wie das Smartphone - schon für diese „Zielgruppe" werden von den cleveren Psychologinnen und Psychologen in den Marketingabteilungen der verschiedenen Industrien allerlei „must haves" definiert. Und wenn dann eines der kids dieses „must have" besitzt, wird es für die allermeisten Mitschüler/innen unweigerlich zum höchsten Ziel aller ihrer Wünsche: Das MUSS ich unbedingt auch haben! („Papa, BITTE!!, der Flo hat auch schon ein Smartphone, und der Philipp auch, und die Rebekka! BITTE, Papa, wenn du mir das Smartphone kaufst, werde ich dich NIE WIEDER um etwas bitten, ich versprech's!")
Hinter diesem mimetischen Begehren steckt aber noch ein weiteres menschliches Grundbedürfnis, nämlich das Bedürfnis, dazuzugehören. Und diese Zugehörigkeit wird eben sehr häufig auch durch Statussymbole zum Ausdruck gebracht, ob das die Glitzerschuhe bei den Volksschulkindern sind, must have-Gadgets für Teenies oder der Pool im eigenen Garten - der natürlich schon um einiges größer werden musste als der des Nachbarn. Was wir dagegen auf keinen Fall wollen - Kinder schon gar nicht - ist, der Loser zu sein, der uncoole Typ, der allein am äußersten Rand steht und nichts von dem mitmacht oder mitmachen kann, was gerade als „must have" angesagt ist.
Natürlich liegt es nahe, in diesem Zusammenhang auf Autoren wie den Psychoanalytiker, Sozialpsychologen und Philosophen Erich Fromm und dessen Differenzierung zwischen den Lebensprinzipien „Haben oder Sein"(5) zu verweisen. Die unstillbare Gier nach dem Besitz materieller Güter, so lautet eine der berühmten Thesen Fromms, ist immer ein Ausdruck der inneren Leere. Wenn man nicht zufrieden ist mit dem, wer und wie man ist, wenn man von sich selbst entfremdet ist, ist man leicht geneigt, dieses Selbstzufriedenheitsdefizit durch materiellen Besitz zu kompensieren. Zumal man dadurch nach außen, gegenüber seiner sozialen Umwelt signalisieren kann, dass man „dabei" ist, dass man mithalten kann.
Sich etwas leisten, was man sich eigentlich nicht leisten kann, weil man haben will, unbedingt haben muss, was andere auch haben: Ein sehr großer Teil des Kreditwesens beruht haargenau auf diesem menschlichen Wesenszug. SchuldnerberaterInnen können davon ein Lied singen, nicht zuletzt im Hinblick auf Jugendliche, die sich eben für Smartphone, Tablet, Klamotten, das erste Auto (300 PS), den Karibik-Urlaub usw. usw. hoffnungslos verschulden.(6)
Und dann irgendwann leistet man sich etwas noch Größeres - ein schönes, luxuriöses Haus im Grünen mit allem drum und dran, wo die Kinder behütet und „artgerecht" aufwachsen können, ein stylisches Penthouse in der Stadt -, das man sich eigentlich gar nicht leisten kann, auch nicht auf der Basis eines noch so verführerisch klingenden Finanzierungsmodells. Was dann im Zweifel zur Folge hat, dass man sich selbst gewissermaßen versklavt, dass man Jahrzehnte mehr oder weniger rund um die Uhr schuften muss, um diesen Kredit oder die Kredite samt Zinsen und Zinseszinsen bedienen zu können.(7) Und am Ende der Schufterei, wenn man endlich seine ganze zusammengekaufte Habe so richtig genießen könnte, steht dann womöglich der burnout, die Krebserkrankung, der Schlaganfall, der Herzinfarkt, die Scheidung, weil man einander über all der Schufterei fremd geworden ist. Oder auch einfach die Frage: „Was soll ich mit dem ganzen Zeug?"
Exkurs 1: Bericht eines au pair girls über Reiche, noch Reichere und Superreiche in den USA
Als ich kürzlich mit Studierenden über jenen Fromm-Satz diskutiert habe, wonach die Gier immer ein Ausdruck der inneren Leere ist, erzählte eine Studentin von ihrem au pair-Jahr in den USA. Dort lebte sie bei einer Familie, die um ein Mehrfaches, für sie bis dahin gar nicht vorstellbares Maß wohlhabender war als alle Familien, die sie zuvor in Österreich kennengelernt hatte. Die Familie war in ihrer Wahrnehmung schlicht und einfach immens reich. Aber ihr ist aufgefallen, dass die Eltern dieser Familie nur zweimal im Jahr am Abend die große Terrasse zum riesigen Garten nutzten, dass sie kein einziges Mal im fancy Whirlpool waren und nur sie selbst als au pair mit den beiden Kindern der Familie den traumhaften Swimmingpool genießen konnte. Die Eltern waren einfach far too busy, viel zu sehr mit Geldverdienen beschäftigt, um die Kredite bedienen und ihren materiellen Besitz in Gestalt des noch größeren SUV für die Frau und des Sportcabrios für den Mann steigern zu können.
Und dann berichtete sie noch über einen Ausflug mit ihren hosts auf Einladung einer befreundeten Familie, die noch reicher gewesen sei als ihre Gastfamilie. Auf der Autofahrt zu dieser Familie sei dann voller Neid über deren „überflüssigen" Reichtum gelästert worden. Und mit jener noch reicheren Familie sei man mit dem Privatboot zum Privatstrand gefahren, wo man sich gemeinsam abfällig (bzw. neiderfüllt) über diese Superreichen an der Küste mit ihren Jachten und Bungalows ausgelassen habe.
Zusammenfassend kann man sagen: Das „Glück" primär über materiellen Besitz im Vergleich mit dem (größeren) materiellen Besitz anderer zu definieren, ist im Zweifel augenscheinlich nicht der geeignete Weg zum Glück, jedenfalls nicht zum Glück im Sinne eines anhaltenden, stabilen, nachhaltig positiven Gemütszustands, einer soliden Lebenszufriedenheit.(8) Dennoch leisten wir uns häufig, was wir uns nicht leisten können, leben über unsere Verhältnisse, weil wir nahbereichsfokussiert nach dem glücklichen Moment streben, der Bedürfnisbefriedigung im Hier und Jetzt, ohne mögliche mittel- und längerfristige Folgen angemessen einzukalkulieren.
Der Gier nach „mehr" und der YOLO
Der YOLO passt sehr gut in dieses Bild, besonders wenn man seine „Ich will Spaß"-Einstellung mit einer weiteren altbekannten Mahnung in Verbindung bringt: memento mori - bedenke, dass du sterblich bist! You only live once, du lebst nur einmal! Deshalb sieh zu, dass du diese knappe Lebensspanne, die dir zur Verfügung steht, von der du nicht mal sicher weißt, wann sie vorbei sein wird, so gut wie möglich nutzt, so viel genießt wie nur irgendwie möglich, darauf achtest, dass dein Lebens-Lust-Konto immer möglichst voll ist, und bedenke stets: „Genug kann nie genügen"(9). Das war freilich im Grunde schon das Lebensprinzip des Sokrates-Schülers Aristippos von Kyrene(10) vor gut zweieinhalb Tausend Jahren. Philosophiegeschichtlich kann man das sehr wohl als Nachweis werten, dass „YOLO" alles andere als ein neues, bisher unbekanntes Phänomen ist, sondern eher so etwas wie eine „anthropologische Konstante".
Exkurs 2: Ein Sekundenbruchteil kann entscheiden
An dieser Stelle möchte ich eine persönliche Begebenheit einflechten: Vor wenigen Wochen bin ich auf dem Weg zu meiner Hochschule mit meinem Fahrrad eine schnurgerade, leicht abschüssige Straße entlanggefahren, in der man das Verkehrsgeschehen über mehrere hundert Meter leicht im Blick hat. Kurz vor einer nicht ampelgeregelten Kreuzung kam mir aus der Gegenrichtung ein großer weißer SUV entgegen, links blinkend. Ich hatte eindeutig Vorfahrt, aber das nutzt einem Radfahrer im Zweifel nichts, wenn der große weiße SUV dann völlig unerwartet tatsächlich abbiegt. Ich habe keine Ahnung, wie ich an diesem Auto vorbeigekommen bin, es muss eine Art Überlebensreflex gewesen sein. Wäre ich um einen Sekundenbruchteil langsamer gewesen, der große weiße SUV um einen Sekundenbruchteil schneller ... Memento mori! Ein Sekundenbruchteil kann den Ausschlag geben. Und ganz nach dem YOLO-Prinzip habe ich mir am Abend dieses Tages ein außergewöhnlich gutes Essen mit außergewöhnlich gutem Wein gegönnt. Und mir am nächsten Tag einen richtig guten Fahrradhelm gekauft...
Konsequenz: Hat der YOLO nicht recht?
Wenn man dies alles bedenkt, dann ist doch die YOLO-Schlussfolgerung eigentlich nur konsequent: Gepfiffen auf die „Vernunft", diese arrogante Zicke (die im Zweifel noch dazu eine schlechte Köchin ist), gepfiffen auf den mittel- und längerfristigen „rationalen" Kalkül, gepfiffen auf irgendwelche wie auch immer begründete „Normen" - jetzt will ich LEBEN, jetzt will ich LUST, ein „Morgen" gibt es nämlich womöglich nicht.
Und kommt mir nicht mit „Argumenten"! Denn was ein „gutes Argument" ist, hängt ganz und gar davon ab, ob es mit meinen Grundüberzeugungen, meiner Lebenshaltung, meinem Weltbild übereinstimmt. Das wussten bereits die pyrrhonischen Skeptiker. Und die Anmaßung der sogenannten „vernünftigen" Argumente, der Appelle an die Mäßigung, das Maßhalten, tangieren den YOLO eben nicht, für ihn verwandelt sich die „Vernunft" in das Gegenteil ihrer selbst, in Unvernunft - oder schlicht in die Blödheit, sein eigenes Leben zu vergeuden, zu verpassen. Überhaupt: „Only the good die young!"
Ist das nicht egoistisch und unmoralisch?
Und was die Frage anbelangt, ob das denn nicht „egoistisch" oder/und „unmoralisch" (oder „pubertär") sei - ja, es ist egoistisch und: Was interessiert den YOLO die „Moral"? Bereits Nietzsche hat doch die „Moral" dekonstruiert, hat sie schonungslos enttarnt, indem er nachgewiesen hat, dass sie nichts anderes ist als das Machtinstrument der Masse, des Durchschnitts, der Mittelmäßigkeit, der Herde (bzw. der „Kaste" der Pfaffen), mit dem sie sich die überdurchschnittlichen, lebensstarken, lebenswilligen und deswegen auch rücksichtslosen Menschen gefügig zu machen, sie unter das Maß einer „Norm" zu deckeln, sie zu domestizieren versuchen.
Nein! Die fade bürgerliche „Moral" geht den YOLO nichts an, sie gilt für ihn nicht. Und seine Werte bestimmt er als freier Mensch selbst.
Und sollte dem YOLO gar jemand mit einem „Gott" kommen, einem Strafgerichtshof im Jenseits, der ihn dann für seine „Sünden" hier auf Erden zu 200 Jahren Fegefeuer oder zum Büßen in Dantes Höllenkreisen 2-4 verurteilt - für den YOLO sind das nichts als Märchen, an die zu glauben wir erzogen werden, um die Macht der „Moral" (und damit die der „Herde" bzw. der Pfaffen) zu erhalten. René Descartes hat im Widmungsschreiben an die Herren der Sorbonne zu seinen berühmten „Meditationes" geschrieben, dass der Glaube an Gott allein nicht reiche, sondern dass die Existenz Gottes definitiv und unbezweifelbar bewiesen werden müsse, da es ansonsten für die Unmoralischen keinerlei Grund gebe, sich moralisch zu verhalten. Das ist des Pudels Kern! Ohne „Gott" (und den Glauben an einen jenseitigen Strafgerichtshof) bricht das ganze Machtkonstrukt „Moral" in sich zusammen.
Und da das mit den Gottesbeweisen (meines Wissens) bis auf den heutigen Tag nicht funktioniert hat(11), und wenn man zudem Nietzsches „Gott ist tot!" und der damit einhergehenden Nihilismus-Konsequenz zustimmt, stellt sich doch sehr wohl die Frage: Was ist eigentlich dem YOLO und seinem hemmungslos hedonistischen Lebenskonzept argumentativ entgegenzuhalten? Hat er nicht schlicht und einfach recht? Und die tumbe Masse der braven Moral-Gläubigen steht sich nur selber im Weg, versäumt und verplempert in ihrer ethisch-moralischen „correctness" ihr Leben, das - mit Camus formuliert - unter'm Strich um keinen Deut weniger absurd ist als das des YOLO und fragt sich am Ende enttäuscht: „Soll das alles gewesen sein?" Und klammert sich mehr oder weniger verzweifelt an den Hoffnungsstrohhalm des Glaubens an eine „jenseitige" Gerechtigkeit, und sei es auch nur als „regulative Idee" im Sinne Kants.
Der YOLO im Globalisierungskontext
Bevor ich versuche, eine Antwort auf diese Frage zu geben, ob der YOLO recht hat, möchte ich das YOLO-Prinzp noch auf eine andere Ebene, einen anderen Maßstab übertragen, und zwar den globalen: Wenn alle Menschen auf der Erde so leben würden wie im Durchschnitt die Einwohner Österreichs, so viel Energie und so viele Ressourcen verbrauchen würden wie diese, bräuchten wir rein rechnerisch drei Planeten.(12) Die haben wir aber nicht. Rein theoretisch steht uns allen ein ökologischer Fußabdruck von 1,71 gha(13) zur Verfügung, aber im Durchschnitt leben die ÖsterreicherInnen auf großem Fuße und brauchen 4,8 gha.
Der „Earth Overshoot Day"(14) ist der Tag des Jahres, an dem die Ressourcen irreversibel verbraucht sind, die eigentlich für ein ganzes Jahr zur Verfügung stünden. Als dieser Earth Overshoot Day 1987 zum ersten Mal berechnet wurde, lag er am 19. Dezember. 2018 liegt er am 01. August. Anfang August 2018 sind also die Ressourcen irreversibel verbraucht, die eigentlich für das ganze Jahr zur Verfügung gestanden hätten. Das heißt, wir leben ab Anfang August auf Pump, verschulden uns (oder: machen uns schuldig), leben eindeutig über unsere Verhältnisse - oder besser: über die Verhältnisse unserer Kinder und Enkel und nachfolgender Generationen (was im Sinne der Brundtland-Definition(15) der Nachweis dafür ist, dass unsere Lebensweise alles andere als „nachhaltig" ist). Und natürlich über die Verhältnisse von Menschen in anderen Teilen der Welt. Neben uns die Sintflut! Unsere „Externalisierungsgesellschaft"(16), unser Lebens-Luxus beruht auf der Armut und dem Elend vieler Menschen in den Ländern des Südens ebenso wie auf dem Leid und dem Tod von Abermilliarden Tieren, deren Lebensräume großflächig für den Anbau von Futterpflanzen zerstört werden, die dann an die erbarmungswürdigen Viecher in der globalisierten Qualmastindustrie verfüttert werden, die dann (möglichst billig) an uns verfüttert werden.
Legen wir doch als ethisches Gedankenexperiment einmal Immanuel Kants kategorischen Imperativ an unsere Lebensweise an und fragen uns, ob wir wollen können, dass alle Menschen auf der Erde so leben wie wir. Denn das entspricht der Grundformel des kategorischen Imperativs: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."(17) Oder eben konkreter formuliert: Kann ich wollen, dass alle Menschen auf der Erde so leben wie wir? Die Antwort könnte etwa lauten: Ich kann es durchaus allen Menschen wünschen, dass sie leben können wie wir (schon weil dann wohl eine der wichtigsten Fluchtursachen beseitigt wäre), aber ich kann es nicht wirklich wollen, weil das nämlich bedeuten würde, dass sehr schnell alle ökologischen und mit ihnen auch alle sozialen und politischen Systeme kollabieren und das ausbrechende allgemeine Chaos höchstwahrscheinlich auch mich selbst, meine Familie, meine Freunde, mein ganzes gewohntes Umfeld mitreißen würde. Die Maxime, unseren Lebensstil zu verallgemeinern, steht somit also im Widerspruch zu sich selbst - was nach Kant ein klarer Indikator dafür ist, dass sie moralisch nicht zu rechtfertigen ist.
Was hat nun das YOLO-Prinzip in diesem globalen Zusammenhang für eine Bedeutung? Nach meiner Einschätzung eine mehrfache:
Zum einen ist es dem YOLO schlicht und einfach egal, was anderswo passiert und ob sein Lebensstil negative Konsequenzen für Menschen in anderen Erdteilen oder für nachfolgende Generationen jenseits seines unmittelbaren Wahrnehmungsbereiches hat. Der YOLO ist ein begnadeter Ignorant und Verdrängungskünstler, häufig auch ein begnadeter Zyniker.
Zudem lebt der YOLO wie (fast) wir alle in der bereits angedeuteten Nahbereichsfalle, räumlich, zeitlich und sozial. Was über den Nahbereich hinausgeht, geht uns nichts an, tangiert uns nicht, überfordert uns kognitiv und vor allem emotional. Dass Indonesien brennt, in riesigem Maßstab Regenwald für Palmölplantagen brandgerodet wird, damit wir Biosprit tanken und nach Herzenslust Nutella und Schokoriegel essen können - was geht das uns an? Dass in Afrika hunderttausende Menschen von ihrem angestammten Land vertrieben werden, in die Slums der Städte, in den Hungertod oder auf den Verzweiflungstrip über's Mittelmeer, weil auf ihrem Land ausländische Investoren riesige Soja-, Zuckerrohr-, Avocado-, sonstwas-Monokulturen anlegen wollen(18) - was juckt das uns, Hauptsache Avocado-superfood gibt's für uns das ganze Jahr. Dass 90 % des in Österreich an die Mastviecher verfütterten „Kraftfutters" - also vornehmlich (genverändertes) Soja - aus Ländern wie Brasilien, Argentinien, Paraquay importiert werden, in denen viele Millionen Menschen hungern und keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben - was interessiert das uns, Hauptsache unser Schnitzel bleibt billig. Dass die Ozeane hochgradig mit Plastik verseucht, dass die Meeresfauna und -flora massiv gefährdet sind, dass die maritimen „Todeszonen"(19) sich rasant ausbreiten und wohl unaufhaltsam weiter ausbreiten werden - was soll's, Hauptsache die Drinks an der Pool-Bar im all-inclusive Robinson-Club sind gratis.
Bei der Gelegenheit eine simple Frage an die Leserinnen und Leser: Hand auf's Herz, wer weiß noch (ohne zu googeln), wer Aylan Kurdi war?(20)
Wenn eh schon alles zu spät ist ...
Ein weiteres YOLO-Argument in diesem globalen Kontext lautet: Wenn eh schon alles zu spät ist, und zwar schon deswegen, weil gerade 2,5 Milliarden Chinesen und Inder auf der Überholspur sind, die „nachholende Entwicklung" dergestalt anstreben, dass sie den gleichen (durchschnittlichen) Wohlstandslevel wie den von uns Mitteleuropäern oder den der Amerikaner oder der Australier erreichen wollen - was schlicht und einfach faktisch nicht möglich ist -, wenn wir die Karre also sowieso an die Wand fahren, wenn die Titanic sowieso auf den Eisberg krachen wird, wieso sollten wir dann unsere glückliche Lage nicht ausnützen und an der Bar und dem üppigen Buffet verweilen, solange es nur geht, bis es dann halt irgendwann zur großen Katastrophe kommt? Nach uns die Sintflut! Wir haben die herrschenden Verhältnisse nicht gemacht, sind in sie hineingeboren, haben schlicht und einfach Glück gehabt, das „Schicksal" hat es gut mit uns gemeint. Dass „Neben uns die Sintflut" eigentlich bereits längst Realität ist, dass andere Leute irgendwo anderswo die „Arschkarte des Lebens" gezogen haben und unter jämmerlichen Sklavenbedingungen unsere Jeans und unsere T-Shirts und unsere Laufschuhe und unsere Fußbälle und unsere Smartphones und unsere ... produzieren müssen - das ist eben für die dumm gelaufen, wir können es leider nicht ändern und Hauptsache, uns und unseren Lieben geht es gut.
Die Menschheit schafft sich ab
Es ist schon klar: Auf die Dauer kann das alles nicht funktionieren. Uns stehen keine 3 Planeten zur Verfügung, und wenn Ressourcen wie z. B. Wasser oder fruchtbarer Ackerboden bei gleichzeitig weiterhin exponentiell wachsender Weltbevölkerung und exponentiell wachsendem Ressourcenbedarf knapper und knapper werden, muss man kein großer Mathematiker sein, um sich auszurechen: Das geht sich nicht aus. Schon Konrad Lorenz hat 1988 kurz vor seinem Tod in einem Spiegel-Interview die These formuliert: „Der Mensch, dieses blöde Vieh, ist zu dumm für's Überleben", und er begründete diese düstere Prognose mit dem Argument, der Mensch habe sich selbst (globalisierte) Lebens- und Überlebensbedingungen geschaffen, an die er als nahbereichsfokussiertes Kleingruppenwesen schlechterdings nicht angepasst sei. Und Harald Lesch vermarktet gerade eifrig sein letztes Buch: „Die Menschheit schafft sich ab".(21)
Aber dem YOLO ist das eben egal, er will sein Leben genießen, jetzt und hier, solange und so gut es noch geht - und ich muss sagen, dass ich diese Haltung, die mir vor allem bei jungen Studierenden immer häufiger begegnet, durchaus nachvollziehen kann.
„Bildung" als Ausweg aus der YOLO-Falle?
Die Frage, ob der YOLO recht hat, ist also m. E. eindeutig zu bejahen - sofern man sie aus der fatalistischen „Ich will Spaß"-YOLO-Perspektive betrachtet und im Ausgang von seinen (zweifelsohne starken) Argumenten bewertet. Aber ist das einfach so hinzunehmen? Ist das tatsächlich sowas wie ein anthropologisches Gesetz? Müssen wir - mit Michael Schmidt-Salomon - akzeptieren, dass wir mitnichten das „animal rationale", das vernunftbegabte Tier, oder der „homo sapiens", der verständige, der kluge Mensch sind, der weise die mittelfristigen Konsequenzen seines Tuns kalkuliert und in seinen Nachhaltigkeitskalkül die Interessen zukünftiger Generationen mit einbezieht? Ganz im Gegenteil - so Schmidt-Salomon(22) - verdienen wir eher die Gattungsbezeichnung „homo demens", der wahnsinnige Mensch, dem im Unterschied zu Ameisen, Bienen und Fischen keine Schwarmintelligenz, sondern eine unglaubliche und längstens mittelfristig selbstzerstörerische Schwarmblödheit zu attestieren ist. Eine Schwarmblödheit, die eben daraus resultiert, dass wir in unserer Nahbereichsbeschränktheit nicht realisieren, dass unser Nahbereichs-Lebensstil nicht universalisierbar ist.
Und zu dieser Blödheit passt die YOLO-Logik perfekt, dass aus der „Du lebst nur einmal"-Einsicht nur ein vulgär-hedonistischer Lebensstil folgen kann, der unter „Lust" nichts anderes versteht als die körperliche, sinnliche Lust, nur die hemmungslose Lebenshaltung des „bios apolaustikos".
Wollen wir uns das noch leisten?
Wollen wir uns das noch leisten, was wir uns (bzw. unsere Nachkommen und unsere Mitmenschen anderswo) auf Dauer mit Sicherheit nicht leisten können? Wollen wir uns das noch leisten, diesen systemischen Wahn vom immerwährenden (wirtschaftlichen) Wachstum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen? Wollen wir weiterhin in einer „Zuvielisation" leben? Wollen, müssen wir uns der Logik des vulgär-hedonistisch interpretierten YOLO ergeben?
Ich will mich mit dieser fatalistisch-negativen Antwort bei allem Verständnis (noch) nicht zufriedengeben, schon alleine weil ich das Gefühl habe, dies meinen Kindern und Enkeln zuschulden (wohl wissend, dass dies ein Motiv ist, kein Grund). Allerdings hielte ich es für sehr vernünftig, uns Menschen nicht mehr pauschal als „vernünftig" zu definieren. Schon Immanuel Kant hat den Menschen als ein „animal rationabile" bezeichnet, als ein zur Vernunft begabtes Tier, das aus sich ein „animal rationale", ein vernünftiges Tier, erst machen müsse.(23) Aber WIE kann das geschehen, WIE soll das gelingen?
Es mag sein, dass das bei mir als Philosophieprofessor an einer pädagogischen Hochschule berufsbedingt ist, und es mag auch sein, dass es naiv ist, weil wir diese Diskussion im Grunde in der immer gleichen Weise seit über zweieinhalbtausend Jahren führen, spätestens seit Platons „Politeia", aber meine Antwort auf die Frage, wie das gelingen kann, dieser Schritt vom „animal rationabile" zum „animal rationale", das sich dessen bewusst ist, dass es eben nicht primär rationales Lebewesen ist, sondern höchstgradig emotional, affektiv, triebgesteuert, und das genau wegen dieses Bewusstseins womöglich doch dazu fähig sein/werden könnte, die eigenen Triebe, Affekte und Emotionen zumindest einigermaßen zu steuern und zu kontrollieren, diese Antwort lautet: Bildung!(24) Bildung, Bildung und nochmals Bildung - worunter ich freilich nicht dieses unsägliche Abfüllen von Kindern als Stoff-Stopfgänsen verstehe, das in unserem Verbildungssystem, das sich „Schule" nennt, noch immer gang und gäbe ist. Sondern eine Bildung, die wesentlich philosophischer orientiert wäre, der es im Kern um die Frage ginge, was denn das Menschenleben wirklich lebens-wert macht, die im Ausgang von Erich Fromm die Frage stellen würde, ob es im Leben wirklich in erster Linie auf das Haben ankommt, auf den materiellen Besitz, von dem man sich versklaven lässt, oder ob es nicht doch eher auf das Sein ankommt, darauf was man IST, wie man mit sich selbst zurande kommt, welche Beziehungen mit welcher humanen Qualität man zu anderen Menschen pflegen kann, welche Qualitäten Freundschaften haben, welche Verbundenheit man mit der nichtmenschlichen Natur spürt.
Exkurs 3: „Donau in Flammen" und die „wahren Werte"
Vor wenigen Wochen (im Juni 2018) bin ich in Linz mit zwei befreundeten Frauen zur „Donau in Flammen" gegangen, Wein, Käse, Oliven und eine Picknickdecke im Rucksack. Mit dem Feuerwerk hatte ich aus diversen Gründen meine Probleme (langweilige, einfallslose Geldverschwendung mit grauenvoller Öko-Bilanz), aber diese Stunden des Zusammenseins, des Redens über dies und das und alles und nichts, das gemeinsame Genießen von Wein, Käse, Oliven und der sommerlichen Stimmung am Fluss, das gemeinsame Lachen, die Sensation, dass da plötzlich ein Schwarm Junikäfer herumbrummte (es gibt sie also doch noch!), all das habe ich - ganz im Sinne von John Stuart Mills „qualitativem Hedonismus" - als ungemein wert-voll empfunden, hat mich mit einem Gefühl der tiefen Freude und entspannten, wohligen Zufriedenheit erfüllt. So interpretiert definiere ich mich als überzeugten, leidenschaftlichen YOLO.
Zum Schluss: Es reist sich besser ...
Von Epikur ist die Aussage überliefert: „Willst du einen Menschen glücklich machen, so vermehre nicht seine Habe, sondern verringere seine Bedürfnisse." Epikur war sich offensichtlich also bereits dessen bewusst: Materielle Habe und ein Leben in Saus und Braus, die möglichst lückenlose Aneinanderreihung von Festgelagen, sexuellen Abenteuern, Im-Stau-Stehen im fetten SUV und Cocktails-Schlürfen an der Pool-Bar machen uns nicht glücklich, jedenfalls nicht notwendig (was die moderne empirische Glücksforschung nachdrücklich bestätigt(25)). Und um einen anderen der „weisen Alten" zu bemühen: Am Ende seiner „Nikomachischen Ethik", in der es um die Frage geht, wie ein Mensch in seinem Leben das höchste Gut der Glückseligkeit erreichen kann, gelangt Aristoteles zum Ergebnis: „Glückselig ist, wer mit äußeren Gütern mäßig bedacht maßvoll gelebt hat." In diesem Sinne haben auch Eric Burdon & the Animals in ihrem Song „Good Times" (1967) skeptisch überlegt: „When I think of all the good times that I've wasted having good times"(26) ...
Konfrontiert mit der Frage, ob wir uns das aus hedonistischer Sicht noch leisten wollen, so zu leben als ob uns die Ressourcen von drei Planeten zur Verfügung stünden, könnten (!) wir demzufolge eigentlich ziemlich gelassen sagen: „Nein, wozu? Und zwar gerade weil wir YOLO sind! Weniger ist mehr, es ist sogar eine existenzielle Befreiung." Und es hätte womöglich noch dazu die für unser eigenes Selbstbild und unser Selbstwertgefühl durchaus positiven Nebenwirkungen, dass ein „weniger" bei uns auch Menschen in anderen Teilen der Welt ein angenehmes (wenn auch kein luxuriöses) Leben ermöglichen könnte und dass auch nachfolgende Generationen noch die Chance erhalten, ein solches angenehmes, lebenswertes Leben führen zu können.
In diesem Sinne zitiere ich abschließend ganz profan aus dem Lied „Leichtes Gepäck"(27) der deutschen Rock-Pop-Band „Silbermond":
„Eines Tages fällt dir auf
Dass du 99 % nicht brauchst
Du nimmst all den Ballast
Und schmeißt ihn weg
Denn es reist sich besser
Mit leichtem Gepäck."
Ich finde diesen Gedanken als YOLO treffend und schön - nur kann ich natürlich keinen absoluten „Wahrheits"-Anspruch oder gar einen normativen Anspruch erheben und könnte völlig verstehen, wenn der „leichtes-Gepäck"-Gedanke für den „Ich geb Gas, ich will Spaß"-YOLO(28) allenfalls amüsant wäre.
Literatur:
Aristippos und der Hedonismus. In: Paideia. Der Blog für Philosophie, Politik und Kultur vom 19.1.2012, online unter: http://diepaideia.blogspot.com/2012/01/aristippos-und-der-hedonismus.html (08.08.2018).
Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. dtv, München 2010.
Greenpeace: So viele Planeten bräuchten wir, wenn jeder so leben würde wie die Menschen der folgenden Staaten (Grafik 2013), online unter: http://www.greenpeace.org/austria/Global/austria/grafiken/konsum/overshoot_day_2013/Planetengrafik.jpg (08.08.2018).
Hauff, Volker (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Online unter: https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/brundtland_report_563.htm (08.08.2018).
Kant, Immanuel: Der Charakter der Gattung. In: Ders., Der Streit der Facultäten in drei Abschnitten. Königsberg 1798. Online unter: https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/aa07/321.html (08.08.2018).
Lesch, Harald u. Kamphausen, Klaus: Die Menschheit schafft sich ab. Die Erde im Griff des Anthropozän. Knaur, München 2018.
Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser, Berlin 2016.
Maciej, Martin: Was heißt eigentlich „YOLO": Bedeutung, Erklärung und Ursprung. In: Giga vom 3.6.2015, online unter: https://www.giga.de/extra/netzkultur/specials/was-heisst-eigentlich-yolo-bedeutung-erklaerung-und-ursprung/ (08.08.2018).
Ruckriegel, Karlheinz: Happiness Research (Glücksforschung) - eine Abkehr vom Materialismus. In: Sonderdruck Schriftenreihe der Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule Nürnberg 38 (2007). Online unter: http://www.ruckriegel.org/papers/schriftenreihe_gluecksforschung.pdf (08.08.2018).
Savulescu, Julian u. Persson, Ingmar: Moral Enhancement. Human Enhancement. In: Philosophy Now 91 (2012). Online unter: https://philosophynow.org/issues/91/Moral_Enhancement (08.08.2018).
Schmidt-Salomon, Michael: Keine Macht den Doofen! Eine Streitschrift. Piper, München / Berlin / Zürich 2012.
Schroth, Jörg: Texte und Materialien zur Ethik. Online unter: http://www.ethikseite.de/prinzipien/zkatimp.html (08.08.2018).
Turek, Elisabeth: Landgrabbing. In: polis aktuell 12 (2014). Online unter: https://www.politik-lernen.at/dl/MmtKJMJKomLkNJqx4KJK/pa_2014_12_landgrabbing.pdf (08.08.2018).
Verschuldung Jugendlicher oder „Jung, dynamisch & verschuldet". Online unter: https://www.schuldnerberatung.de/verschuldung-jugendlicher/ (08.08.2018).
Yolo, Alter. Jugendsprache. In: Spiegel Online vom 25.11.2012, online unter: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/jugendwort-des-jahres-2012-jury-kuert-yolo-a-869201.html (08.08.2018).