Die Gemüseexpertin steht bei ihren weltweiten, intensiven Recherchen immer wieder vor neuem Unbekannten. Aktuell etwa beim Thema Nachtschattengewächse.
Ist das nicht giftig? Diese Frage höre ich oft, wenn ich mit Workshops zu meinem Thema „Leaf to Root - Nose to Tail for Veggies" unterwegs bin. Und je länger ich mich mit der Materie befasse, desto weniger oft kann ich die Frage mit einem klaren Ja oder Nein beantworten.
Rückblende. 2014. Ich erntete im Garten Karotten und fragte mich: Warum eigentlich schmeißen wir das Kraut weg? Auch ich wusste damals nicht, ob es essbar ist. Ich fragte rum, bei Freunden, bei Foodies und bei Köchen. Die Antwort war meist in etwa so: „Ich weiß nicht, hab's immer so gemacht." Oder auch: „Ich glaube, es ist giftig."
Dieses Unwissen stachelte meine Neugierde als Journalistin an. Denn offene Fragen sind ja stets spannend als Ausgangspunkt, etwas Neues zu erfahren. Fürs Gemüse und dessen spezielle Teile hatte ich mich seit Längerem interessiert. Als Gastrokritikerin und Foodautorin bei Tages-Anzeiger/Züritipp konnte ich oft in Töpfe der Spitzenköche blicken, wo ich zunehmend spannende Gemüsezubereitungen entdeckte. Und ich besuchte auch beispielsweise regelmäßig die Konferenz „Chef Alps", wo hochdekorierte Köche jährlich ihre Highlights auf der Bühne präsentieren. Heinz Reitbauer etwa erzählte bei einem Auftritt, wie er darauf kam, Stängel der Artischocke als Gericht aufzutischen. Und Daniel Achilles aus Berlin stellte ein Gericht mit Rapsgrün vor.
Diese Beispiele innovativer Gemüseverwertung und vor allem eben die Fragen, die bei mir im Garten auftauchten, brachten mich dazu, den verschmähten Gemüseteilen eine Aktion zu widmen auf meinem Blog waskochen.ch. Ich nannte die Aktion „Leaf to Root", inspiriert von Fergus Hendersson, dem Vater von „Nose to Tail", den ich 2014 interviewen konnte. Und der mir übrigens für die Aktion auch gleich ein Rezept spendierte, nämlich einen Salat für Radieschenblätter.
Seither bin ich sehr intensiv und fast pausenlos unterwegs, um mehr über Gemüse zu erfahren. Ich recherchiere in historischen Quellen, ich interviewe Köche, ich experimentiere im eigenen Garten und in der Küche. Neu habe ich den Blog www.leaf-to-root.com, mit dem ich im Mai in China als „Best in the World" an den Gourmand Awards ausgezeichnet wurde. Dank Edouard Cointreau, dem Gründer der Gourmand Awards, hatte ich die exklusive Gelegenheit, den chinesischen Staatskoch Xu Long zu treffen. Zwei Tage bevor er Angela Merkel in der „Great Hall of the People" in Peking bekochte, zeigte er mir ein halbes Dutzend chinesische Gerichte, in denen spezielle Teile von Gemüse verwertet werden. So bereiteten wir etwa Erbsenschalen stir-fried zu, einen Salat aus den Schalen von Wassermelonen oder auch: grüne Kelche der Auberginen, als Tempura.
Womit wir wieder bei der Eingangsfrage wären: Ist das nicht giftig? Immerhin zählen die Auberginen zu den Nachtschattengewächsen. Und auch ich lernte einst: Was daran grün ist, ist giftig. Doch: Im Zuge meiner „Leaf to Root"-Recherchen hat sich das komplett relativiert. Begonnen hat dieser Prozess mit dem Tomatenkraut. „Nein", war meine Antwort noch 2014, als ich gefragt wurde, ob das essbar sei. Doch dann stieß ich auf einen Artikel in der New York Times, in dem Harold McGee beschreibt, dass viele Köche mit dem Kraut arbeiten und auch, wie er selber mit Tomatenkraut experimentiert hat. Offenbar fand er eine Quelle dafür, dass im 17. Jahrhundert das Volk auf der Ambon-Insel, die heute zu Indonesien gehört, rohe Tomatenblätter zu fermentiertem Fisch aß.
Meine Neugierde war einmal mehr geweckt. Und ich fand mit diesem Wissen und spezifischen Recherchen plötzlich ganz viele Hinweise darauf, dass Köche mit Tomatenkraut arbeiten - natürlich auch, weil ich konkret danach fragte. Dominique Crenn, World's Best Female Chef 2016, erzählte mir, dass sie Cracker mit Tomatenkraut backe. Stefan Wiesner, Avantgarde-Koch aus der Schweiz, gibt in seinem Kochbuch „Avantgardistische Naturküche" ein Rezept für einen Jus aus Cherrytomatenstielen an. Und der österreichische Sternekoch Thomas Dorfer verriet mir, wie er mit frischem Tomatenkraut eine klare Tomatensuppe aromatisiert. Profis wenden diesen Trick, das weiß ich heute, ja offenbar häufig an, in der Alltagsküche ist er aber recht unbekannt.
Eine Frage der Dosis sei es, sagen sowohl Stefan Wiesner oder auch Dominique Crenn - und ich teile ihre Meinung. Natürlich soll man da nicht leichtfertig sein. Denn es gibt ja durchaus Lebensmittel, wie etwa den Knollenblätterpilz, bei denen nicht mal die kleinste Dosis vertretbar ist. Doch bei den Nachtschattengewächsen ist das offenbar anders. Hier reden wir etwa vom Alkaloid Solanin, das auch in den Tomaten selber vorhanden ist, doch mit dem Rötungsprozess baut sich der Gehalt mehr und mehr ab.
Sobald man etwas weiterdenkt, fallen einem auch die grünen Tomaten ein. „Fried Green Tomatoes" etwa - ein bekanntes Gericht im Süden der USA, für das unreife Tomaten in einem Teig frittiert werden. Früher gab es sogar bei uns in der Schweiz die Tradition, unreife grüne Tomaten als Konfitüre einzumachen. Natürlich aß man davon nicht kiloweise - also wiederum: eine Frage der Menge.
Angesprochen auf die Giftigkeit vom Auberginen-Grün erklärte mir Xu Long in Peking, dass einerseits die Menge zähle (eine offenbar weltumspannende Haltung), andererseits auch etwa Solanin abgebaut werde durch die Zubereitung. Bei ihm Zuhause seien die grünen Auberginenkelche ein traditionelles Gemüse. Sie würden im Sommer sogar getrocknet und dann im Winter schweren Fleischgerichten zugegeben.
Als ich das wiederum im Juni an einem Workshop, den ich gemeinsam mit Andree Köthe vom „Essigbrätlein" in Nürnberg an der Genussakademie Bayern gab, den Teilnehmern erzählte, kam Erstaunliches Zutage. Ein Teilnehmer, selber Experte für exotische Früchte, wusste nämlich, dass in Asien auch die Blätter von Chili-Pflanzen als Gemüse verwendet werden. Die ganz jungen solle man nehmen, erklärte er mir - und schickte mir im Nachgang ein Rezept für einen Fleischeintopf mit Chili-Blättern von den Philippinen.
Aus meinen Recherchen wusste ich auch, dass man in Kenia ebenfalls Laub von Nachtschatten (African Nightshades) auf dem Markt kaufen kann. Einmal monatlich esse man das, also nicht täglich, schilderte mir jemand wiederum auf meine Frage zur Giftigkeit. Sprich: In Ländern, in denen man solche Gemüseteile konsumiert, weiß man offenbar auch, wie und wie oft man sie essen kann.
Dieses Wissen fehlt uns natürlich - und darum bin auch ich weit davon entfernt, Grünes von Nachtschattengewächsen als Lebensmittel hochzuhalten. Zwar habe ich - immer jeweils nach intensiver vorangehender Recherche - Vieles probiert. Und mir gestern beispielsweise auch gerade Chilipflanzen gekauft, um die Blätter zu verkosten. Aber um für die große Masse zu sagen, was genießbar ist, was empfehlenswert und von welchem Nachtschattengewächs was geerntet wird, brauche ich für meinen Geschmack noch mehr Wissen.
Spannend aus meiner Sicht aber ist nicht nur die Frage nach der Giftigkeit. Sondern auch die, warum sich die Traditionen von Gemüseverwertung in einzelnen Ländern so unterscheiden. An Workshops und Referaten erlebe ich, dass wir Europäer sehr darauf getrimmt sind, nur Dinge zu essen, die von offiziellen Stellen abgesegnet und als genießbar taxiert sind. Nicht zuletzt natürlich auch, weil wir aktuell auch nicht gezwungen sind, uns neue Nahrungsquellen zu erschließen, da ohnehin genug vorhanden ist.
Mich interessiert denn auch vor allem der kulinarische Wert von Gemüseteilen, die wir bislang links liegengelassen haben. Und da denke ich, dass wir sehr viel von anderen Kulturen lernen können. Aktuell plane ich denn auch, «Leaf to Root» noch intensiver weltweit zu erforschen, mit einer Reise, die sich an den speziellen Teilen von Gemüse orientiert (siehe BOX). Wenn ich Köchinnen und Köchen in Afrika, auf den Philippinen oder in China in die Töpfe blicken kann, werde ich die Zusammenhänge verstehen. Nur dann kann ich sehen, welche Pflanzensorten eingesetzt werden, welches Gemüseteil wie gekocht wird und in welcher Jahreszeit man was isst.
Nach der Reise wird sich meine Antwort zur Frage „Ist das nicht giftig?" vielleicht schon wieder etwas verändert haben. Bestand haben aber wird nach meinem bisherigen Erfahrungsschatz in Sachen spezieller Gemüseteile die Aussage von Paracelsus: „Allein die Dosis macht's."
Leaf to Root around the world
„Leaf to Root around the world" ist das nächste Projekt von Esther Kern. Sie hat bereits Kontakte zu unzähligen Köchinnen und Köchen weltweit, die ihr zeigen möchten, wie in ihren jeweiligen Ländern spezielle Gemüseteile verarbeitet werden. Da diese Recherchereise mit Kosten und Aufwand verbunden ist, sucht Esther Kern dafür Sponsoren, die von einer engen Zusammenarbeit auch viel profitieren können (Content, Knowhow, Bilder). Interessenten melden sich gerne unter mail@leaf-to-root.com. Generell sucht die Autorin stets neue Inspiration rund um spezielle Gemüseteile und sie sammelt fortlaufend Wissen auch zu „giftigen" Gemüseteilen (Kulturgemüse, Kulturfrüchte). Sie ist dabei auch interessiert an Forschungsergebnissen in diesem Bereich und freut sich auf Austausch.