Dieser Text soll die notwendige Diskussion hierzu anregen.
Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit im Rahmen meiner Forschung in einem von jungen Leuten eröffneten Restaurant(1) in Brighton zu speisen. Mein Forschungstagebuch vom 31. Oktober 2016 liest sich wie folgt:
Es ist ein warmer Herbstnachmittag und ich befinde mich fast alleine im Gastraum. Die Sonne scheint milde durchs Fenster auf das schlichte Holzinterieur. Ich bestelle drei Gänge, und auch wenn die Vorspeise schon sensationell gut schmeckt (Ofentomaten mit jungem Frischkäse und Liebstöckel), bereitet sie mich nicht auf das vor, was als Dessert folgen soll. „Sea Buckthorn, Brown Butter and Pine" (Sanddorn, braune Butter und Kiefer) steht auf der Karte. Der Teller sieht nicht besonders aufregend aus, die eine Hälfte ist von einem hellen Hügel aus Krümeln bedeckt, die andere von einem orangefarbenen runden Gelee, das wie ein zu groß geratenes Eigelb wirkt, und halb unter gefrorenen Krümeln in derselben Farbe versteckt ist. Drumherum sind Spuren eines grünen Öls sichtbar. Geschmacklich offenbart sich der Teller jedoch als unglaublich dicht und „pur"- das, was man mit „auf den Punkt" schmeckend bezeichnen würde. Der helle Hügel stellt sich als sandfarbene Braune-Butter-Mousse heraus, deren nussiger Buttergeschmack durch dick darüber gegebene Shortbreadkrümel verstärkt wird. Kontrastiert wird die Mousse durch leuchtend orangefarbenes Sanddorn in zweierlei Texturen, als Gelee und als locker darüber gestreutes Granita. Beide Elemente schmecken relativ pur nach Sanddorn - sauer, herb, leicht gesüßt - doch die unterschiedlich kalten Texturen ergänzen sich auf unterhaltsame Weise, vor allem in Kombination mit den Kekskrümeln und der Mousse. Erst nach ein paar Löffeln probiere ich das grüne Öl, und was ich als etwas Kräuteriges erwarte, entpuppt sich als der ganz helle, klare, zitrisch-harzige Geschmack von frisch geernteten Kiefernspitzen. In der Kombination mit der Nussbutter-Mousse und dem säuerlich-herben Sanddornaroma ergibt sich ein sehr voller, dichter Geschmack, der mich völlig vereinnahmt. Ich habe den unmittelbaren Impuls, diese Erfahrung zu teilen und wähle die Nummer meines Mannes, nur um im Gespräch festzustellen, dass sich eine Geschmackserfahrung in ihrer emotionalen Tiefe eben doch nur schwer in Worte fassen lässt. So gerne würde ich dieses Erlebnis mit ihm teilen, als ob der Genuss sich dadurch sprichwörtlich verdoppeln ließe, und vielmehr dadurch erst existent würde. Ich sinniere weiter über die kulinarische Offenbarung auf meinem Teller, die ein Spiel von Einfachheit und Wiederholung zu sein scheint. Die Erweiterung der Säure des Sanddorns mit der zitrischen Note der Kiefernspitzen überrascht mich in ihrer Harmonie. Es ist, als ob dem Aroma vom Sanddorn noch eine Kontur rundum gegeben würde. Dazu die buttrige, fast dumpfe Tiefe der Mousse und die staubigen Krümel vom Shortbread - für mich ein Moment der Versöhnung mit Welt. Was geschieht mit mir? Wird sich dieses Erlebnis jemals wiederholen lassen? Und wer, um Himmels Willen, hat sich diese Speise ausgedacht?
Um den Antworten auf diese Fragen auf die Spur zu kommen, scheint mir eine Annäherung an die Konstitution von Kochen, Essen und Geschmack hilfreich zu sein. Schmecken ist immer eingebettet in eine räumliche und soziale Atmosphäre. Es ist eine komplexe Angelegenheit, da eine Speise nie für sich alleine, sondern immer im Kontext von Produktion (die Zubereitung des Essens und seine Darbietung auf dem Teller) und Rezeption (was der Gast wahrnimmt) steht. Ein schmackhaftes Mahl benötigt eben nicht nur die optimale Zubereitung hochwertiger Lebensmittel, sondern ist genauso von der es umgebenden sozialen Situation, dem Setting, wie von der emotionalen Verfassung des Essers abhängig. Und Schmecken findet in einer inszenierten, also gestalteten Umgebung statt, die sich auf unser Erleben auswirkt - im privaten wie im öffentlichen gastronomischen Raum, der ja eher halböffentlich ist. Wir schmecken, wenn wir essen und trinken, also mehr, als molekular in einer Speise steckt. Man könnte sagen, (auch) beim Essen gehen wir in Resonanz mit unserer Umwelt(2). Auf der einen Seite findet dies molekular bedingt durch Nahrung statt, die wir uns einverleiben und aus der wir ganz profan Energie schöpfen. Auf der anderen Seite sind Geschmackserfahrungen als reflektierte Wahrnehmungen sozial und kulturell vermittelte Beziehungen zur Welt. Geschmack ist demnach Erlebnis, Erfahrung, Erinnerung und Erwartung - als ein Sich-erschließen von Welt.(3)
Die Summe der Dinge beim Essen
Die Geschmackserfahrung ist stets eingebettet in dingliche und undingliche Anteile eines Kontexts. Das Essen in seiner Präsentation, der Teller, die Materialien und ihre Anordnung auf dem Tisch, der umgebende Raum mit Licht und Akustik, die sich darin befindenden Menschen, all das bestimmt die eher dingliche Atmosphäre. Zu welchem Zweck und mit wem wir speisen, was die Menschen um uns herum ausstrahlen (Service, andere Gäste) und in welcher Stimmung wir selbst sind, bestimmt die eher undingliche Atmosphäre. Das heißt, gleich ob es sich um ein Essen im Restaurant oder Zuhause handelt, am Arbeitsplatz oder unterwegs, beim Essen kommen stets zwei Wahrnehmungsebenen/Bedingungen fürs Schmecken zusammen, die sich in veränderlichen Anteilen bestimmen lassen. Ihr Verhältnis zueinander steht dabei in Abhängigkeit von Zeitrahmen und Zweck des Essens (Bedürfnisbefriedigung, Genuss, soziale Begegnung, Besprechung eines Anliegens etc.).
Im Schmecken kommen also folgende Kontextfaktoren zusammen, auf die ich im Weiteren näher eingehen möchte:
Dingliche Faktoren
Der erste Aspekt bezeichnet das Essen an sich und schließt mit ein, wie es auf den Teller gelangt. Die Gelingensbedingungen von gutem Geschmack sind insbesondere auf dem Weg vom Feld zum Teller gut untersucht. Der Eigengeschmack oder Urgeschmack des Produkts wird im Wesentlichen durch die Dichte und Diversität an Nährstoffen, die aus dem Boden aufgenommen wurden, bestimmt.(4) Bekannt ist, dass neben der Qualität des Ausgangsprodukts (Sorte, Boden, Anbau, Ort, Klima, Zeitpunkt der Ernte, Transportweg) die Zubereitung einen ähnlich großen Anteil am Endergebnis der Speise hat. Durch gezielt eingesetzte Kochtechnik und kulinarisches Feingespür im Umgang mit Aromen können Lebensmittel spannungsvoll dargeboten werden.(5) Jüngere Studien der Wahrnehmungspsychologie befassen sich damit, wie auch die Materialität und Form sowie Größe des Geschirrs(6) und die Anrichtung(7) der Speise auf dem Teller ebenso die Rezeption des Geschmacks beeinflussen, als auch wieviel wir essen, bis Sättigung eintritt.(8) Natürlich sind auch der Gast selbst und alle anderen Anwesenden (Service, Küche und Gäste) durch ihre Körperlichkeit ein Teil der dinglichen Summe. Der Faktor Raum beschreibt die Art und Weise und in welcher Umgebung das Essen dem Gast angeboten wird. Die Gestaltung des Raumes, seine physikalischen Faktoren wie Licht, Akustik bis hin zu Luftqualität und Geruch spielen entscheidende Rollen in der Geschmackswahrnehmung.(9) Längst widmen sich Hotellerie und der Fine Dining Sektor der Gastronomie einer Innenarchitektur, die unter Berücksichtigung von Sounddesign und experimenteller Psychologie eine Inszenierung von multisensorischen Essenserlebnissen erschafft, wie sie beispielsweise in Restaurants wie The Fat Duck im englischen Bray oder im Ultraviolet in Shanghai zu finden sind. Ob dieses multisensorische Spektakel dem Essen als Speise zuträglich ist, sei mal dahingestellt. Mir wurde zumindest zugetragen, dass ein Abend im Ultraviolet „ziemlich abgefahren" sei.(10) Im Übrigen spielt insbesondere bei Fine Dining Restaurants natürlich auch die Anreise eine Rolle, da diese unter Umständen weiter oder aufwendiger sein kann und mehr Planung erfordert.
Undingliche Faktoren
Zu den undinglichen Faktoren, die wie eine Klammer funktionieren, gehören der Zweck des Essens und der zur Verfügung stehende Zeitrahmen. Beide zusammen bestimmen, an welchem Ort das Essen stattfindet, und - so er/sie die Möglichkeit der eigenen Wahl hat - auch, wo sich ein Gast im Raum niederlässt. Da spielt auch der Blick auf den Raum oder die Tür eine Rolle, und ob am Tresen oder Tisch, im Tageslicht oder in der gemütlichen Ecke der bessere Platz zu sein scheint. Hinzu kommen soziale Faktoren: Die Stimmung, Emotionen und Erwartungen des Ichs als Speisendem in seiner Interaktion mit anderen Menschen und wie dieses Erleben Körperfunktionen beeinflusst und damit auch die körperliche Verwertung des Essenserlebnisses. Die Verbindung zwischen Essen und Emotion ist ein alter Hut, sie spiegelt sich in landläufigen Redewendungen wie Liebe geht durch den Magen oder auf den Magen schlagen wider. Auch englische Begriffe wie Soul Food oder Comfort Food legen ein Verständnis von Essen nahe als etwas, das nicht nur kalorisch, sondern auch emotional nähren kann. Umgekehrt sind aus der Psychologie eine ganze Reihe von Essstörungen bekannt, die ihren Ursprung in psychischen Dysbalancen haben.
Nach dem US-amerikanischen Psychologen Marc David ist für ein positives Essenserlebnis nicht nur ausschlaggebend, was wir essen, sondern vor allem, wie. David meint damit die Beziehung, die wir zu unserem Essen und zu unserem Körper haben und in welcher Situation, Umgebung und mit wem das Essen stattfindet. Anspannung oder Wohlbefinden beeinflussen direkt unseren Metabolismus und damit auch unser Wohlgefühl und unsere Gesundheit. Jeder, der einmal einen Streit beim Essen hatte, weiß wovon hier die Rede ist, wenn der Appetit versagt und man keinen Bissen mehr hinunter kriegt. Das heißt, sogar unsere Beziehung zum/zur Kochenden kann eine Rolle dabei spielen, wie gut es uns schmeckt. Je entspannter die Situation, desto wohltuender kann die Erfahrung wahrgenommen werden.(11) David stellt sogar die These auf, dass ein nährstofflich betrachtet gesundes Essen vom Körper nicht ordentlich verstoffwechselt werden kann, wenn wir den Geschmack ablehnen, also während des Essens Stresshormone ausgeschüttet werden. Er zeigt auf, dass Entspannung und Ruhe essentielle Bedingungen für die Verdauung sind, da der Körper nur im Ruhemodus Nährstoffe verwerten kann - bei Stress kommt unter anderem die Fettverdauung quasi zum Stillstand. Der „Fight or Flight"-Modus beschreibt die körperlich-metabolische Seite bei akuter Gefahr, denn wenn der Säbelzahntiger um die Ecke kommt, dann ist es prioritär untergeordnet, die noch eben genossene Mahlzeit zu verdauen.(12) David spricht gar vom „Vitamin P for Pleasure", also von Genuss als lebenswichtigem Vitamin, das den Metabolismus erst ankurbelt.(13) Da der Prozess der Verdauung in Abhängigkeit von Anspannung/Entspannung steht, ist wenig verwunderlich, dass die Stimmung des Speisenden sich direkt auf seine Verdauung auswirkt. Dies bedeutet auch, dass die emotionale Ebene beim Essen auf das Körpergefühl nach dem Essen und damit auf die erlebte Qualität der Essenserfahrung in seiner Gesamtheit Einfluss nimmt. Zusammen gefasst heißt das, die Synthese all dieser Aspekte (Zweck/Zeitrahmen, Weg, Essen, Raum, Begegnung, Ich), in Relation mit dem eigenen Urteil über diese, bestimmt den Grad einer subjektiv genussvollen Essenserfahrung. Einfacher ausgedrückt: Wir nehmen uns beim Essen in der Summe unserer Erfahrungen immer mit.
Speisende als Grenzgänger*in
Selbstverständlich spielen diese inneren und äußeren Kontexte in jeder Art von räumlichen und sozialen Erfahrung eine Rolle. Dem Menschen, hier als Speisenden, kommt dabei eine doppelte Rolle zu, da der Körper per se dinglich ist, seine sinnliche Wahrnehmung jedoch auch durch Undingliches bestimmt wird. Der Gast oder die/der Speisende wird so zu einer Art Grenzgänger*in zwischen der gegenständlich und nicht gegenständlich erfahrbaren Welt.
Beim Essen kommt jedoch noch eine wesentliche Konstruktion hinzu: die körperliche Einverleibung. Das heißt, beim Essen findet eine körperliche Aneignung von von außen nach innen, von Außenwelt nach Innenwelt, statt. Im Schmecken konstituiert sich damit eine besondere Berührung mit dem Anderen. Dabei werden wir nicht nur sprichwörtlich, sondern ganz real, was wir essen. Der Körper hat aus biochemischer Sicht an molekularen Bausteinen nur das zur Verfügung, was er durch (vorrangig) Magen, Lunge und Haut aufnimmt und davon zum eigenen Nutzen verwandeln kann. Es findet beim Essen also zwangsläufig eine körperliche Berührung statt. Materie wird durch den Prozess der Verdauung (kauen, einspeicheln, mit Enzymen und Säure versetzen, aufschlüsseln) in Energie transformiert. Interessant ist hier die Wechselseitigkeit der stattfindenden körperlichen Berührung, denn das körperliche Berühren ist immer auch ein körperliches Berührtwerden, in diesem Fall durch Essen.
Das Aufeinandertreffen zweier Anliegen
Und doch, vermute ich, gibt es einen weiteren Faktor, eine Unbekannte x, die nicht immer, aber stets dann anwesend ist, wenn sich überraschend eine emotionale Berührung durch eine Essenserfahrung ereignet. Etwas, das sich im Essen ausdrückt, und das zu erfahren, so meine These, eine Bereitschaft des Gastes voraussetzt, möglicherweise im Sinne einer dialogischen Achse zwischen Koch und Gast. Insofern kann ein Essen auch als Berührung von zwei Anliegen betrachtet werden, dem des Senders (Koch, Gastgeber), das auf das Anliegen des Empfängers (Gast) trifft. (Abbildung 1: Koch-Speise-Gast (Quelle: Anneli Käsmayr))
Doch was muss eigentlich zusammenkommen, damit sich über die Körperlichkeit hinaus ein emotional berührendes Geschmackserlebnis ereignen kann? Ist es möglich, dass eine gewisse Berührung dieser Anliegen im Sinne eines „Schlüssel-Schloss-Prinzips" zu meinem Erlebnis führt?(14) Und, weitergedacht, kann ein Koch über seine Speisen bewusst auf die Ermöglichung dieses Ereignisses hinarbeiten?
„Alles ist da, aber etwas fehlt"
Mich interessieren nun die Momente, die über eine gute Geschmackserfahrung hinausgehen und durch das Erleben hindurch das in uns zum Klingen bringen, was der Sozialphilosoph Hartmut Rosa „konstitutive Resonanzerfahrung" nennt.(15) Das Gefühl einer vibrierenden Glückserfahrung, die Ausdruck einer dialogischen Antwortbeziehung mit der Welt ist und das Potential hat, uns zu verändern. Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und diesen Moment, in dem sich ein genussvoller, emotionaler Wahrnehmungsraum öffnet, in seinem Potential als momentane Versöhnung mit Welt beschreiben, da dieser in seiner Gegenwärtigkeit alle Unstimmigkeiten des Alltags emotional temporär zu überlagern vermag. Die Geschmackserfahrung wird dann zu einem Sehnsuchtsort. Ich denke da zum Beispiel an die als Erinnerung abgespeicherten fluffigen Dampfnudeln der Oma, wenn die Geschmackserfahrung ein positives Gefühl im Hinblick auf eine Bezugsperson weckt (beispielsweise der Geborgenheit). Oder das Kochen für die Liebste, in dem sich etwas offenbart, das als Verführung und/oder emotionale Berührung erlebt werden kann. Doch auch im halböffentlichen Raum eines Restaurants, in dem der Koch dem Gast bekannt oder nicht bekannt sein mag, kann eine einprägsame Erfahrung durch ein genussvolles Essen erfolgen, wie mein anfangs beschriebenes Erlebnis in Brighton zeigt. Ein Gegenbeispiel im Restaurant wäre eine Essenserfahrung, die qualitativ gut ist, aber mehr auch nicht und an die man sich nach kurzer Zeit schon nicht mehr erinnern kann, es also keine ausgeprägte positive oder negative Resonanz gibt. Denn selbstverständlich finden eindrückliche Geschmackserfahrungen auch negativ konnotiert statt, und sorgen später womöglich dafür, dass bei bestimmten Gerüchen, Geschmäckern oder Speisen einem das Kotzen kommt.
So gesehen lassen sich drei verschiedene Situationen der emotionalen Berührung durch Essen unterscheiden:
Um mein anfangs beschriebenes Erlebnis zu ergründen, interessiert mich der erste Fall im Besonderen. Was passiert an dieser Schnittstelle zwischen Koch und Gast? Und wie konstituiert sich diese Unbekannte x, die dem Essenserlebnis wie ein hinzukommender Geschmack etwas hinzufügt, das sich als emotionale Berührung beschreiben lässt? Ist diese Erfahrung im reinen Geschmack verborgen oder bezieht sie noch etwas anderes mit ein? Ließe sich die Qualität einer solchen Erfahrung wiederholen oder handelt es sich stets um ein (überraschendes) Ereignis des Neuen? Ist das, was der Koch an Intention und Aufmerksamkeit im Sinne von Selbstausdruck in die Produktion des Essens legt, womöglich für den Gast spürbar? Und kann man in letzter Konsequenz gar schmecken, wer gekocht hat?
Das Handwerk des Kochens
Um diesen Fragen nachzuspüren, scheint mir ein Blick in die Praxis des Kochens hilfreich. Kochen ist ein Handwerk, das mit physikalischen und chemischen Aspekten gleichermaßen umgeht und immer im Jetzt stattfindet. Es geht um Aufmerksamkeit, Präzision und richtiges Timing - mitunter sind einige Sekunden entscheidend zwischen optimal und zu früh/wenig oder zu spät/viel. Die Prozesse verlaufen in der Regel in eine Richtung - der Garzustand eines Lebensmittels ist erfahrungsgemäß nicht reversibel, ein Zuviel an beispielsweise Salz nicht rückgängig zu machen. Ein Koch gleicht daher ständig aus, je natürlicher die Zutaten sind, desto stärker kann der Geschmack und das Aussehen schwanken und desto mehr handwerkliches Können ist notwendig, um eine bestimmte Qualität zu reproduzieren. Den tagesaktuellen Ausgleich schafft ein Koch durch präzise Zugaben von Salz, Säure, Süße, Adstringenz und so weiter. Die gestalterische Arbeit des Kochens, so eine weitere These, beinhaltet aber auch die Möglichkeit eines Selbstausdrucks. Im Fine Dining hat sich hierfür der Begriff der kulinarischen Signatur gebildet. Damit ist die persönliche Handschrift des Chefkochs gemeint - ein eigener Stil, der seine Arbeit im Wettbewerb der Gastronomie unterscheidbar macht und den ein jeder erreichen möchte. Die kulinarische Signatur ist letzten Endes das, was die gestalterische Arbeit und Herangehensweise eines Kochs auszeichnet, ein Stil mit Wiedererkennungswert.
Das Dessert „Oops, I dropped the Lemon Tart" von Massimo Bottura ist ein gutes Beispiel, das wildes Gekleckse auf dem Teller salonfähig machte.(16)
Ursprünglich aus einer versehentlich fallengelassenen Zitronentarte entstanden, wurde es zum Beispiel für Poesie im Küchenalltag. Botturas Ansatz „Make the invisible visible" („Mach das Unsichtbare sichtbar") steht hier für ein aufmerksames Auge, für Fantasie beim Kochen und Offenheit gegenüber Neuem. Ein Küchenteam im Fine Dining muss diese kulinarische Signatur des Küchenchefs erfassen und eigenständig reproduzieren und erweitern können (in der professionellen Küche geht es also weniger um die Kreativität des Einzelnen, sondern um eine kontinuierlich gleichbleibende Reproduktion der kulinarischen Handschrift des Küchenchefs). Trotz Rezepturen können bei natürlichen Ausgangsprodukten die Ergebnisse aber nie zu hundert Prozent übereinstimmen. Es braucht immer eine regulierende Hand und einen aufmerksamen Gaumen, da der Geschmack der Produkte je nach Sorte, Saison, Temperatur, Zubereitungsart und auch Klima natürlicherweise variiert. Insofern ist das Verhältnis von Kochen und Kochrezept eher eine Interpretation, die sich mit der Interpretation eines Musikstücks vergleichen lässt. Die Noten auf dem Papier sind die gleichen, und doch färbt die persönliche Handschrift des Musikers das Stück in einer Weise, die es einzigartig und erkennbar macht. Das heißt, es drückt sich etwas an Persönlichkeit im Essen aus, das schwierig messbar, wohl aber deutlich wahrnehmbar ist (und dessen Fehlen beim Gast durchaus den Gedanken aufkommen lässt, dass der Chefkoch heute wohl nicht im Hause sei).
Will man sich nicht mit dem Begriff des menschlichen Genies als Erklärung begnügen, müsste man sich nun fragen, ob diese Praxis des Selbstausdrucks vermittelbar ist. Doch obgleich eine kulinarische Handschrift notwendig ist, um sich gastronomisch durchzusetzen, ist die Lehre davon hierzulande noch nicht durchdrungen. Im deutschen Standardlehrbuch „Der junge Koch, die junge Köchin" sucht man vergeblich Beispiele, in denen es auch nur annähernd um ästhetische Praktiken geht. Die ersten Kapitel widmen sich ohnehin insbesondere der Hygiene, Arbeitssicherheit und Arbeitsplanung, gefolgt von Ernährung, Arbeitsgestaltung, Kochtechniken und Service. Die Begegnung zwischen Service und Gast wird ziemlich weit hinten unter dem Punkt „Werbung" eingeordnet und ausschließlich aus der Perspektive des Verkaufsgesprächs abgefertigt. Das Wort Atmosphäre taucht im ganzen Band nicht auf.(17)
Interessanter ist hingegen der Ansatz eines schwedischen Modells, das Aspekte der dargelegten Beschreibung von Speise - Raum - sozialem Ereignis aufnimmt. Das „Five Aspects Meal Model", kurz FAMM(18), den Kriterienkatalog des „Guides Michelin" zur Bewertung von Restaurants und Hotels erweiternd, fragt: wie lässt sich die Qualität einer Essenserfahrung in Bezug auf den Raum, die Begegnung (mit dem Servicepersonal als auch anderen Gästen), das Produkt (Essen und Trinken), das Management Control System, (die ökonomischen und logistischen Bedingungen) und die Atmosphäre (Summe aller Punkte) definieren? Das Modell wurde 1990 in Schweden im Department of Restaurant and Culinary Arts der Örebro University entwickelt, wo es seitdem die inhaltliche Ausrichtung für das Curriculum in der Ausbildung von Köch*innen, Sommeliers und Servicekräften darstellt.(19) Es geht davon aus, dass alle fünf Faktoren des FAMM gleichwertig aufeinander einwirken und nur im Gesamten ein genussvolles Restauranterlebnis ermöglichen können, in dem „Kunst, Handwerk und Wissenschaft vereint sind"(20). Der Aspekt der gastronomischen Inszenierung als Gestaltung eines Raumes, in dem Menschen anderen Menschen begegnen und Fragen von Atmosphäre und Gastlichkeit eine bedeutsame Rolle gegeben wird, wird in den Mittelpunkt gestellt.
Wenn darüber hinaus der Koch für den Menschen im Allgemeinen und im Sinne von Selbstausdruck kocht, öffnet sich über die Speise eine Begegnungsmöglichkeit zwischen Koch und Gast. Wie verhält es sich dann mit der Intention und Aufmerksamkeit, die der Koch im Prozess der Zubereitung hat? Nach einer Anekdote im Zen-Buddhismus darf ein schlechtgelaunter Koch in dieser Verfassung nicht in der Klosterküche arbeiten. Dem liegt ein Energiebegriff zugrunde, der sich in jedem Handeln (und Denken) ausdrückt und in einer Berührung des Anderen mündet, wie ein Zitat des japanischen Zen-Meisters Suzuki Roshi über das Kochen lehren will: „Du arbeitest nicht nur am Essen, du arbeitest an dir selbst und an anderen Menschen".(21) Dieses Bild, dass wir beim Kochen an einem anderen Menschen arbeiten, ihn sinnlich beeinflussen und gar verführen, stimulieren und bewegen können, scheint mir ein genauso gewagtes wie reizvolles zu sein. Und weitergedacht würde die Annahme, dass sich Stimmung und Intention eines Menschen im Kochen manifestieren, also im Umkehrschluss bedeuten, dass ein vom 3-D-Drucker hergestelltes Essen (das weniger Zukunftsmusik ist als gedacht) zwangsläufig anders schmeckt als ein von Hand Gekochtes? Und was ist es, dass sich wahrnehmbar übertragen mag in einer Speise, mit was gehen wir hier im Prozess des Schmeckens in Resonanz?
Eine Antwort scheint mir in der Untersuchung des versöhnlichen Glücksversprechens zu liegen, dem Kulinarik inzwischen unterliegt. Und in der Bestimmung der Geisteshaltung, grundsätzlich durch Welt, Kultur etc. emotional berührt werden zu wollen.(22)
Eine andere, zugegebenermaßen abstraktere, in einem Weltverständnis, in dem die Dinge als Materie im Grunde aus informierter Energie bestehen, wie es die Quantenphysik lehrt, und demnach alles miteinander irgendwie verbunden ist. (Abbildung 2: Sea Buckthorn, Brown Butter and Pine, Silo Brighton, England. (Foto: Anneli Käsmayr))
Bleibt noch die Frage, ob sich das Ereignis einer berührenden Geschmackserfahrung wiederholen lässt. Ich habe es ausprobiert und bin ein Jahr später nochmal nach Brighton gefahren, dieses Mal in Begleitung. Zu meiner Verzückung gab es das gleiche Dessert auf der Karte - in leicht veränderter Anrichtung zwar, der Geschmack war jedoch genauso herausragend wie beim ersten Mal. So gut, dass wir uns noch eine weitere Portion geteilt haben.
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