Lothar Kolmer
Sommer. Hitze. Ferien! Eigentlich ganz einfach: ausspannen. Wie es das Wort meint, sich vom Zuggeschirr befreien, auf eine (noch) grüne Wiese stellen/legen und ab & an im Wasser plantschen.
Wenn es denn so einfach wäre! In den Medien drängen sich die Staus allenthalben: Zu Wasser, Land und Luft. Es mangelt nicht an vielen guten Ratschlägen, die zum Teil trivial sind: viel Wasser trinken ... aber auch: wie man sich richtig entschleunigt und erholt. Braucht es das? Ich schau meinem Hund zu, wie er im Bachbett beschleunigt, dass die Tropfen in der Sonne fliegend glänzen und freu mich. Wir sind ganz allein; ich hör das Glucksen der Wellen, riech die Bäume ... und sitz da.
Schließlich habe ich gerade diese EPIKUR Nummer redigiert - und selbst etwas gelernt. Das macht und bringt Freude!
Man braucht nicht viel - wenn man einmal darüber nachdenkt. Vielleicht hilft einem doch dieser praktische Philosoph; antik - aber bewährt. Das hat den Vorteil nicht dogmatisch zu sein, wie Religion, sondern Raum zum eigenen Denken und Handeln zu lassen und dafür doch einen Rahmen zu liefern.
Könnte uns, unter all den zerspragelten Lebensumständen, widersprüchlichen Leistungsanforderungen, divergierenden Normen und Regeln, diversen Dogmen von Diäten bis Religionen, anflutenden Werbeverlockungen, dem innigen Handyismus, nicht doch eine Art von geistiger Orientierung durch die mutmaßlichen Labyrinthe lotsen? Ganz ohne „Zauberflöte".
Sinnsysteme bieten sich vielfältig an, mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit und mehr oder weniger Abhängigkeitspotential. Besser also gleich zur klassischen Disziplin, der Philosophie, zu gehen. Schiebt man dort die grundlegenden Seinsfragen beiseite, gelangt man in deren praktische Abteilung und nimmt dort die Abzweigung und den schmalen Pfad zum Epikureismus. Dessen Hedonismus als Lebensform ist in seiner ursprünglichen Form durchaus ansprechend: Am besten lässt sich Hedonismus als eine „heitere, in der europäischen Antike wurzelnde Lebensform beschwingter Bejahung von Genuss- und Lustmaximierung sehen" (Benjamin Berend). Diese Definition macht einsichtig, dass der landläufige Begriff von Hedonismus, am einfachsten mit „Konsumismus" gleichgesetzt, nichts mit der ursprünglichen Bedeutung zu tun hat. Es ist eine Abwertung, eine pejorative Begriffsumdeutung, die in der Antike schon die Platoniker und dann die katholische Kirche vorgenommen haben, um ihre große und attraktivere Konkurrenz schlecht zu machen. So geht es hier auch darum, den alten Begriff wieder einzusetzen und ihn gegen den „vulgären Hedonismus" abzugrenzen.
Diese Umwertung der Begriffe hebt Ute von Maurnböck-Mosser als eine zentrale Erkenntnis hervor, die sie bei der Erstellung ihrer vierteiligen Rundfunkreihe im ORF im März 2018 gewonnen hat. In Diskussionen danach waren wir uns einig in dem Wunsche, die Sendung nicht verfliegen, „sich versenden" lassen, sondern in schriftlicher Form zu bewahren und zu publizieren. Dafür bot sich das bestehende Format des EPIKUR-Journals an.
Das Manuskript der Sendung habe ich von „Hören" auf „Lesen" redigiert, ohne die Beiträge inhaltlich zu verändern. Die Gelegenheit der Publikation nutzend, bat ich weitere Autorinnen und Autoren, so an den vorigen Hedonismus Bänden beteiligte(1), ergänzende und oder weiterführende Beiträge zu schreiben. Ich freue mich, dass dies gelungen ist und wir eine abgerundete Ausgabe zur Lektüre vorlegen können. Vielleicht aus zu stark angewandtem Hedonismus sind einige versprochene Beiträge nicht eingelangt ... Aber da die Diskussion weitergeht und viele Artikel ein eigenes Symposion verlangten, bin ich optimistisch bezüglich von noch mehr les- und lebbarem Hedonismus.
Dieser Einleitung folgt die Vorbemerkung von Ute v. Maurnböck-Mosser. Weil nach der Sendereihe ein allfälliges Nachwort nicht möglich war, steht der Text hier am Anfang. Was hat die Redakteurin selber an Erkenntnissen aus ihrer Reihe mitgenommen: dass die Gedanken der Epikureischen Philosophie große Aktualität haben und uns klarmachen, dass wir „ein Leben" führen sollen.
Die anschließenden vier Teile der ORF- Sendung geben einen sehr guten Überblick über die Philosophie und deren Anwendung hier und heute. So lautet auch passend die Überschrift des ersten Teils: „Eine antike Philosophie für Hier und Heute". Das zweite Kapitel handelt über Lust und Begierde und den Umgang damit: Gemäßigte Begierden? - denn die Lust wird nicht abgelehnt, nur „vernünftiger" Umgang damit angeraten. Analoges gilt für den Verzicht: „Luxuriöse Askese?" Askese um ihrer selbst willen bringt nichts, zu viel Luxus macht auch keine Freude. Welche „Lebenswege und Lebensformen" möglich sind beschreibt der vierte Teil.
Wir haben genügend damit zu tun, uns im Leben und für das Leben zu orientieren. Dazu verhilft Nachdenken, das zu einer Reduktion aufs Wesentliche führt. Analog betrifft das auch die Frage nach dem Sinn. Dafür muss man nicht metaphysisch werden, es reicht eine pragmatische Antwort. Es gilt nachzudenken, was man wirklich braucht und dieses Wenige dann voll zu genießen. Das bedeutet aber in unserer Gesellschaft, dass man diese Genüsse erst wieder lernen muss. Grundlegend bleibt die Einsicht, wie wenig man eigentlich für ein solches Leben braucht und es dabei wesentlich darum geht, sich darauf einzustellen und einzulassen.
Wir können nicht von der Natur des Menschen mit all seinen Begierden absehen. Aber der Mensch hat die Möglichkeit ein Lust-Kalkül aufzustellen, seine Begierden zurückzustellen, zu kanalisieren oder in ihnen nachzugehen. Das klingt vielleicht egoistisch, aber wenn man sich um die anderen sorgen will, muss man sich auch um sich selbst sorgen, um überhaupt in der Lage zu sein altruistisch zu handeln. Das erfordert also rationale Überlegungen: was will ich und warum will ich es, auf was kann und will ich verzichten; in der Einsicht, dass eine umfassende Bedürfnisbefriedigung unmöglich ist: es geht nicht alles. Das bedeutet aber nicht, die Askese um ihrer selbst willen anzustreben, demonstrativen Verzicht zu üben, sondern manche Dinge sein zu lassen oder für später aufzusparen, auf manches im Moment oder grundsätzlich zu verzichten, weil man es nicht wirklich braucht, weil es sich unnötig anfühlt oder keinen Platz mehr offen lässt für das Glück.
In der epikureischen Philosophie kommt dem Miteinander eine große Rolle zu. Sebastian Knöpker verwendet hier den schönen Begriff der „Allmende", wie die Bauern früher des Vieh auf die Gemeindewiesen trieben, um es dort grasen zu lassen, so kann man, bildlich gesprochen, sich miteinander auf eine Allmende begeben, um dort miteinander zu speisen und zu reden. Essen und Trinken, miteinander reden ist eine Basis des Glücks. Dazu braucht es, wie Epikur ausführte, wenig; ihm reichte Wasser und ein Stück Käse, bei uns dürfen es auch Wein und vielleicht zwei, drei Käsesorten sein. Doch das bildet nur die Basis, auf der sich das Miteinander und das Gespräch entfalten. Das reduziert auch die schwierige Suche nach dem Sinn. Epikureismus stellt keine Dogmen auf, hat nichts Metaphysisches. Es geht darum sein Leben zu führen, unter all den Umständen, die existieren, mit dem Druck und dem Stress aus der Arbeit, aus den beruflichen wie den gesellschaftlichen Anforderungen und Regelsystemen, auch im Umgang mit den Ansprüchen Anderer an einen selbst. Wie findet man in diesen Spannungsfeldern so etwas wie „Erfüllung" - auch hier zeigt die Epikureische Philosophie Lösungswege auf.
Wie könnte heute „Epikurs Garten" aussehen? Es ist ein „anderer Ort" - was ist das? Benjamin Behrend beschreibt „Gegenorte" mit ihren vielfältigen Möglichkeiten des Miteinanders, des Gestaltens, aber auch des Über-Sich-Hinauskommens. Auch das wäre von seiner Argumentation her in Symposien zu überlegen, wie sich derlei bei uns gestalten ließe. Die großen Festivals „übersetzt"? Aber, so frage ich mich: ist nicht heute auch ein Bio-Bauernhof ein epikureischer Garten?
Wie weit diese antike Philosophie für hier und heute aktuell und nutzbar ist, greift Wolfgang Rother auf. Wir leben unser Leben im Diesseits, ein Jenseits mag existieren, es beschäftigt uns auf Erden aber nicht. In Epikurs Anschauung führen die Götter ein glückliches, abgehobenes Leben, sie kümmern sich nicht um uns, warum sollten wir es umgekehrt machen? Aus der Differenz von Religion und Philosophie und deren Betrachtung gewinnt man tiefere Einsichten. Lösen sich die Götter in den Lüften auf? Wird aus einem rächenden und strafenden Gott ein indifferenter oder vielleicht sogar guter Gott? So schwindet die Angst vor dem Tod. Klar gesehen bereitet die Unsterblichkeit Angst. Das Leben auf Erden ist für die meisten Menschen mühsam, Angst und Schrecken entstehen, wenn im Jenseits Gericht und Strafe auf einen warten. Die Einsicht in unsere Endlichkeit hilft dazu, auf Erden erfüllt zu leben. Ein solches Leben bedeutet, über sich selbst nachdenken und - wiederum als Kernstück der epikureischen Philosophie formuliert - es fordert einen rationalen Umgang mit unseren Begierden. Das rechte Maß ist die Richtschnur; aber mit guten Gründen kann durchaus davon abgewichen werden. Ein oder mehrere Gläser Wein bei einem gemeinschaftlichen Mahl, wo gutes Miteinander zelebriert wird, können den Genuss steigern. Über ein „Miteinander" ergeben sich Verbindungen zum „Letzten Abendmahl", das unter dem Gesichtspunkt eine andere Beleuchtung bekommt als die gängige theologische.
Bei der Betrachtung unseres Lebens wird klar, dass auch Leid und Tod Teile des Lebens sind. Dass wir immer leben, auch wenn wir manchmal meinen, nur wie ein Automat zu agieren. Das verlangt Bewusstwerdung und Bewusstseinsbildung. Die weit verbreitete Ansicht: wir arbeiten jetzt und leben in der Rente - führt eher schon gar nicht mehr in die Rente ... Es gibt kein Aufschieben: Leben ist immer jetzt. Patrick Schuchter schreibt über die „letzten Dinge" aus seiner tiefen Erfahrung heraus. Zum Leben gehören Tod und Leid, das ist in der epikureischen Philosophie enthalten. Er sieht Hospizarbeit als Kulturarbeit und für eine gute Sorge in menschlichen Grenzsituationen hilft eine „Ethik der Sorge", gestützt auf diese Philosophie. Wir müssen lernen, die gegenwärtige Lust wahrzunehmen, die Lust am Leben zu sein, lebendig zu sein. Damit verbunden ist ein Bewusst-sein, dass wir hier sind, aber auch dessen, was wir brauchen, was für uns notwendig ist. Ein solches Erkennen, ein vertieftes Genießen sollte immer erfolgen, nicht erst vor dem Hintergrund von Krankheit, unter deren Einschränkungen manchem Menschen erst sein Leben bewusst wird. Aber auch in Krankheit und Alter wird das epikureische Prinzip des Miteinanders, der Zuwendung, der Freundschaft erkannt und wichtig. Und es wird einsichtig, dass die Zuwendung zu Kranken diesen Hilfe, aber auch den Zuwendenden Stärke und eine Glückserfahrung gibt.
Gabriele Sorgo schreibt über sehr Irdisches: Wir sind von den Verlockungen des Konsums umgeben, umzingelt. Der industrielle Zuschnitt unserer gesamten Lebensumstände, die Verlockungen der Werbung führen dazu, dass wir blind und im eigentlichen Sinne „geschmacklos" konsumieren. Es geht darum „Geschmack" wieder zu lernen, es geht um Geschmacksbildung. Das setzt eine Sensibilisierung des Einzelnen voraus, bis hin zur Urteilsfindung, Urteilsbegründung und Urteilsformulierung. Das erfordert auch Wissenserwerb und Anwendung des gewonnen Wissen, was sich in einer Genossenschaft, also bei einem gemeinsamen Mahl schulen und vertiefen lässt. Ein qualitativ gutes Essen ist gut nicht nur für den Magen, sondern auch für das Denken. Ein solches Denken wiederum lässt Resistenz gegen das auf uns einprasselnde Marketing entstehen: die Verlockungen der Bilder und der Plastikwelt lassen sich mit sinnlichen Erlebnissen überspielen. Zugewinn von Bildung und Erfahrung, mit dem Ansporn zu deren Umsetzung, bedeutet hinwiederum, aus der verbreiteten Passivität herauszukommen, die übliche Konsumentenrolle zu verlassen und ein rational seinem Lust-Kalkül folgendes Individuum zu werden.
Die Möglichkeit sich selbst seines Leibes und seines Daseins bewusst zu werden und dann entsprechend zu agieren stellt eine Herausforderung dar. Es geht um die Wahrnehmung seines Leibes, aber auch um die der anderen Körper - damit überhaupt um Lebendigkeit. Man führt sein Leben jetzt; es ist sein eigenes Dasein. In diesem Dasein gibt es Lüste und viele Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung. Dagegen steht die Unlust, die auch ihre Rolle spielt als Gegenpol, und ihre Berechtigung aufweist. Es geht wieder darum, sich zu überlegen, was man braucht, was Sinn hat und Sinn macht, was welche Erfahrungen bringen/was nicht und wie sich dies alles wiederum auswirkt. Erfahrungen strömen auf mehreren Kanälen auf uns ein, lassen sich auf mehreren Kanälen wahrnehmen, sie sind mehrstimmig und ihre Umsetzung notwendig.
YOLO: you only live once... diesen heftigen Slogan des vulgären Hedonismus mit seinem ganzen sinnlosen „must have" Streben, behandelt Thomas Mohrs. Konsumieren, unter allen Umständen, auch wenn das weit über die finanziellen Verhältnisse geht, einfach weil man meint, Statussymbole trügen das Glück in sich. Sie sind aber nur ein leeres Versprechen, für das viel an Kosten und Aufwand zu treiben ist. Unter allen Umständen, mit allen Mitteln zu konsumieren, Ressourcen ohne Ende zu verbrauchen, das ist die Maxime des Handelns für Viele: wer trägt die Konsequenzen ...?! Dagegen sollte die philosophische Bildung stehen, die dringend eingefordert ist. Wir müssen unsere Ansprüche reduzieren; wir leben dann erst ein wirkliches Leben, ermöglichen den anderen damit ein gutes Leben, die bislang ausgebeutet werden.
Am Ende des Bandes gehe ich auf die Renaissance des Epikureismus ein, die ganz wesentlich zu dieser Epoche gehört. Ein ungewöhnliches Werk: eine Verbindung von Kochbuch, Diätanleitung, Philosophischer Lebenshilfe, erschienen 1474, von einem hochgelehrten Humanisten geschrieben, regt zur Frage nach dem „Warum" an. Sollte die epikureische Philosophie den Zeitgenossen bei Lebens- vor allem aber Gesundheitsproblemen helfen? Gab es bereits zu dieser Zeit „barocke" Körper und nicht erst 100 Jahre später? Ergeben sich damit einige Parallelen zu heute?
Alle Autorinnen und Autoren wünschen eine vergnügliche und anregende Lektüre. Wir wollten einen vielgestaltigen und vielfältigen Zugang zu dieser Philosophie geben - um sie für sich durchzudenken und anzuwenden. „Leben Sie gut"!
Mein Dank gilt allen Beteiligten; für die Stimmen in der Sendung, für die Überlassung des Manuskripts, den Kolleginnen und Kollegen, die weitere Texte beigesteuert haben und Marlene Ernst, die die ganze technische Abwicklung in der gewohnt souveränen Weise bewerkstelligte.