Eine Gruppe Italiener besucht eine abgelegene Almhütte im tiefsten österreichischen Innergebirge. Die Speisekarte ist - selbstredend - deutschsprachig, die österreichische Begleitung klärt bereitwillig dringende Detailfragen. Sieben ausgehungerte Italiener nehmen sich jeweils eine eigene Brettljause als Vorspeise vor, ersticken beinahe am frisch gerissenen Kren, den sie für geriebenen Käse halten, mampfen genüsslich Speck, Schinken und Käse und vergessen kurzfristig die eben gerade bestellte Hauptspeise. Einer genießt schlürfend und schmatzend seine Erbsensuppe, die er seinen lautstarken Lobgesängen nach für die Krönung der österreichischen Küche hält. Mit bis zum Platzen gefüllten Bäuchen stochern sie kulinarisch völlig überfordert in ihren alpinen Portionen Wiener Schnitzel, Bauernschmaus und Wildragout. Der Suppentiger wird, in Ermangelung einer Monatsration Speckbrot, durch den Hauptgang nicht zufrieden gestellt und besteht auf einem zweiten Teller Erbsensuppe als Nachspeise. Die sieben riesigen Stück üppige Schokoladen-Nuss-Torte, auf die als obligatorisches dolce leidenschaftlich bestanden wurde, werden argwöhnisch beäugt, skeptisch probiert und schnellstens an den Tischrand verbannt, um einem drohenden Magenriss vorzubeugen. Vom Gejammer über den ungenießbaren Rotwein - Birra zum Abendessen?!? Ma, no!!! - begleitet, äußern sie lauthals ihr Bedürfnis nach café espresso. Wiederholte Warnungen vor der zu erwartenden Kaffeequalität tunlichst überhörend, verzweifeln sie wenige Minuten später vor dem schier eimergroßen, dampfenden Häferlkaffee. Habe man für diese Brühe, so fragen sie sich, etwa das Kaffeepulver für eine Tasse und das Wasser für ein Monat verwendet?
Ein Restaurantbesuch, so wird einem während einem Erlebnis dieser Art rasch bewusst, bedingt unzählige Entscheidungen und die Verarbeitung einer Flut an Informationen - nur innerhalb des eigenen Sprach- und Kulturkreises werden diese mühelos bewältigt. Für ausländische und nicht deutschsprachige Urlaubsgäste gestaltet sich die erfolgreiche Absolvierung einer zufriedenstellenden Mahlzeit in einem österreichischen Lokal ungleich schwieriger, wie oben beschriebenes, aus der Realität gegriffenes Beispiel eindringlich illustriert. Was macht die Navigation durch unbekannte Speisekarten und unerforschte Gerichte zu einer Herausforderung für die Gäste? Es sind die Lücken im kulturspezifischen Wissen.
„Kulturspezifisches Wissen" meint die Kenntnis von Handlungsweisen, sozialen Konventionen, Zubereitungsarten, und etlichen anderen unausgesprochenen Regeln einer kulturellen Gruppe. Dieses Wissen bedarf innerhalb der kulturellen Gruppe keinerlei Erklärung, da die Angehörigen mit eben diesen mentalen Konzepten aufwachsen, sie mitgestalten und täglich in der innerkulturellen Kommunikation und im Zusammenleben anwenden. Für die betreffenden Konventionen und geistigen Konzepte gibt es meist keine anerkannten sprachübergreifenden Definitionen oder Erklärungen: Die Aneignung, der Gebrauch und das Verstehen innerhalb der betreffenden Kultur funktionieren implizit und nur ein äußerst geringer Teil der in den Konzepten enthaltenen Information wird explizit geäußert. Welchem gestandenen Bergsteiger in einer Almhütte würde man bitte schon erklären, dass eine Brettljause n i c h t als Vorspeise gedacht ist, sondern sie für die nächsten drei Touren wahrscheinlich auch noch reichen wird? Oder welcher Kellner würde schon seinem offensichtlich deutsch-österreichischem Gast gegenüber anmerken, dass ein Knödel ungefähr faustgroß, hoch-kalorisch und aufgrund der enthaltenen Milch für Laktoseallergiker nicht gerade geeignet ist? Wie die Beispiele illustrieren, wird innerhalb einer kulturellen Gruppe die Kenntnis des entsprechenden kulturspezifischen Wissens vorausgesetzt und daher niemals erklärt.
Die Vorstellungen von Speisen im deutschsprachigen Raum sind zwar grundsätzlich vergleichbar, aber für nicht-deutschsprachige Gäste ergibt sich eine weitere Schwierigkeitsebene. Aufgrund der Sprachbarriere ergeben sich beinahe zwingend Verständnisschwierigkeiten zwischen hungrigen Gästen, gestresstem Personal und mehrdeutigen Speisekarten. Diese Hürde bestmöglich zu bewältigen ist keine leichte Aufgabe des Restaurantmanagements. Welche Informationen benötigt man als hungriger, ausländischer und der lokalen Sprache nicht mächtiger Gast in einem österreichischen Restaurant oder Gasthaus? Woher bezieht er die ihm fehlenden Informationen, um bewusst und sicher bestellen zu können, worauf er Lust hat? Wie kann ihm verständlich gemacht werden, was genau das Lokal anbietet? Wie können unangenehme Überraschungen und babylonische Missverständnisse vermieden werden?
In der sprachenübergreifenden Kommunikation über Nahrungsmittel und Zubereitungsarten ergeben sich hauptsächlich im letzteren Fall Schwierigkeiten, da Rohstoffe beziehungsweise Grundzutaten wie Tomaten oder Öl nur äußerst selten kulturspezifisch sind. Äpfel oder Butter dürften grundsätzlich global bekannt sein, wohingegen aber eine chinesische Wasserkastanie den meisten Nicht-Asiaten doch fremd sein dürfte. So sind die Zutaten eines österreichischen Küchenklassikers, des Kaiserschmarrn, leicht aufzuschlüsseln und zu übersetzen: Mehl, Milch, Eier, Zucker, und Butter. Das Konzept eines Schmarrn hingegen, sei nun ein süßer Grieß- oder ein herzhafter Erdäpfelschmarrn gemeint, müsste etwa auf folgende wenig appetitanregende Weise erklärt werden: unterschiedlich große Klümpchen derselben Masse (süßer Teig oder Kartoffeln) mit Butter in der Pfanne gebraten. Ins Englische übersetzt, ergebe das „little pieces of a homogeneous substance (sweet dough or potatoes) fried in butter". Das geht runter wie Öl, nicht?
Trotz der nur begrenzt ansprechenden Natur der Beschreibung einer an sich himmlischen Erfindung hätte der hypothetische Wirt dennoch einiges richtig gemacht: Kulturspezifische Konzepte müssen erklärt werden, da eine auch noch so gut gemeinte und wohlklingende Übersetzung oft schmerzlich informationsfrei ist. Ein Asiate auf seiner ersten Europareise hat an einer Übersetzung von Gerichten wie Goulash Soup, Boiled Rump of Beef oder Blue Trout wahrscheinlich länger zu kauen. Zugegeben, Namen wie Obatzda sind auch für den Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung nicht leicht verständlich. Damit ist übrigens ein resteverwertender Brotaufstrich auf der Basis von überreifem Schimmelkäse gemeint. Wer hat noch nicht, wer will nochmal?
Das primäre Kommunikationsmittel zwischen einem Lokal und einem Gast, mit dem der Erfolg einer Gastsituation steht und fällt, ist üblicherweise die Speisekarte. Aus eben diesem Grund sollte ein Restaurant oder Wirtshaus entsprechend in die Verständlichkeit, den Informationsgehalt, die Attraktivität und die ansprechende sowie mehrsprachige Ausführung investieren, um dem Gast ebenso wie dem eigenen Personal eine möglichst entspannte Atmosphäre zu schaffen. Eckpfeiler der Zubereitungsart - gekocht, sautiert, frittiert oder gebraten - und die Zutaten eines nicht global bekannten Gerichts sollten verständlich sein: Handelt es sich um eine Vor-, Haupt-, oder Nachspeise? Enthält das Gericht Schweinefleisch, Laktose oder Nüsse? Wird es üblicherweise als Frühstück, Abend- oder Mittagsmahl gegessen? Einige dieser zentralen Informationen können schwer über vielfältige Sprachgrenzen hinweg verbal angegeben werden, selbst wenn ein Gastbetrieb Englische, Italienische, Französische und Arabische Speisekarten auflegen sollte, da Fachbegriffe wie Laktose oder verschiedene Nüsse nicht ins allgemein vorauszusetzende Englischvokabular eines Koreaners oder Chilenen fallen dürften. Auch die kulturelle Bedeutung von einem Martinigansl oder dem Osterlamm sind wohl nur in langen und schwerverdaulichen Absätzen zu kommunizieren.
Unabdingbar sind ebenfalls Zusatzinformationen über die Einordnung eines Gerichtes in die Speisenfolge, insofern diese nicht durch die Speisekartengestaltung vermittelt wird. Vielen Italienern ist, wie der eingangs erwähnten Erfahrung zu entnehmen, beispielsweise nicht klar, dass eine Brettljause nicht zu den Antipasti zählt, sondern dazu gedacht ist einen hart arbeitenden Holzfäller satt zu machen. Die Aufzählung von Wurst, Käse, Brot und kalten eingelegte Häppchen in der Speisekarte lassen aber nicht auf den Umfang der Jause schließen. Sie wird auch nicht als piatto unico deklariert - als ein reichlicher Gang, der nicht nach Vorspeise oder Nachspeise verlangt - weil man in Österreich weiß, dass man vor einer Brettljause keine Suppe isst und es einem danach mit absoluter Sicherheit nicht nach einem Dessert verlangen wird.
Ebenso ist es notwendig, süße Genüsse wie Buchteln, Kaiserschmarren, und Marillenknödel dezidiert als Hauptspeisen zu deklarieren, um Irrtümern vorzubeugen. Das auch in Österreich verbreitete süddeutsch-böhmische Konzept des süßen Hauptgerichtes ist außerhalb dieser Kulturzone kaum bekannt und kann - ohne Erklärungen - zu einer wenig zufriedenstellenden Auswahl aus der Speisekarte führen. Mit wohldosierten kulturspezifischen Wissenshäppchen versorgt, wird dem Gast seine Wahl anschließend garantiert nicht unangenehm aufstoßen.
Fairerweise muss allerdings erwähnt werden, dass Gerichte an sich - ganz abgesehen von ihren Namen - selbstverständlich ebenso ein kulturspezifisches Phänomen sind und sich wahrscheinlich auch einige ausländische Gäste nicht unbedingt zu Beuschel hingezogen fühlen, selbst wenn - oder wahrscheinlich g e r a d e wenn - die Zutatenliste unmissverständlich übersetzt ist. Für ein umfassendes Erleben der einzigartigen österreichischen Kultur wäre es aber doch begrüßenswert, wenn Besucher sich während ihres Aufenthaltes nicht nur von dem international bekannten und allerorts schlecht imitierten Wiener Schnitzel ernähren, sondern vielleicht auch so köstliche Gerichte wie Kasnock'n, Tafelspitz, oder Blunz'n Gröstl probieren würden. Diesen zarten Gedanken sollte man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Die kulturspezifisch-grantigen Kellner in den holzgetäfelten Wiener Kaffeetempeln sind immerhin ebenso „an acquired taste" wie die nicht minder gewöhnungsbedürftigen Lungenstrudel und Milzschnitten.
Mahlzeit!