(1)Wer in Deutschland Zigarettenschachteln kauft, findet auf diesen seit einigen Jahren alarmierende Botschaften, die jeden Raucher daran erinnern, dass Rauchen schlimme Folgen haben kann. So werden selbst diejenigen penetrant damit konfrontiert, dass der Genuss von Tabak womöglich zu Impotenz führt, die sich lediglich „die Zigarette danach" gönnen. Genussvolles Rauchen wird damit zu einer echten Herausforderung. Gut, die Luft in geschlossenen Räumen ist besser geworden, aber das stilvolle Rauchen eines Jean Paul Belmondo ist dafür gleich mit gekillt worden. Kollateralschäden an der Genusskultur werden von medizinisch legitimierten Initiativen stets mit einem Achselzucken hingenommen.
Gerade wird in Deutschland darüber diskutiert, ob Lebensmittel nicht mit einer Ampel versehen werden sollten. Also Speisen mit mehr Kalorien oder mehr Zucker als die professionellen Diätapostel für anständig halten, sollen dann einen roten Gefahrenanstrich im Stil von „Alarmstufe Rot" bekommen. In einigen Jahren, wenn die Technologie soweit ist, werden die smarten Pralinenschachteln, die man seiner Herzensdame schenkt, beim Öffnen ermahnende Vorträge darüber halten, dass jede Praline eventuell potentiell möglicherweise einen gewissen Einfluss auf die Entstehung von Diabetes oder - womit man heutzutage ja fast jeder Frau Angst einjagen kann - auf die Entstehung eines gewissen Fettpolsters haben kann. „Aber wir wollen Ihnen nichts vorschreiben." Verbieten wird man den Schokoladenkonsum wahrscheinlich zwar (noch) nicht, es wird bestimmt eine von diesen vergifteten Wahloptionen übrigbleiben: „Bitte, greifen Sie zu! Wir behalten uns aber vor, Ihre Krankenkasse direkt zu informieren!". Man will ja schließlich sehen, wer sich nicht unter Kontrolle hat und wer zum lukullischen Pöbel gehört, auf den man mitleidig und verächtlich hinunterblicken darf.
Dank Foodwatch werden dann immerhin auch die Kinder behüteter aufwachsen, als dies in früheren Generationen der Fall gewesen ist - und an Karneval sehen wir anstatt Kamelle Mohrrüben und Kohlköpfe von den politisch korrekt gestalteten Umzugswagen in die Menge fliegen. Nur gut, dass die lebhaften Kleinen es einmal besser haben als wir, die in unserer Kindheit in einer Welt voll mit Wassereis, Milchschnitten, Grillwürsten und derben Witzen groß werden mussten.
Als Erwachsener kann ich zu all dem nur sagen: Wenn ich Sahnetorte esse, dann möchte ich keinen Warnhinweis erhalten, wie viele Kalorien da drin sind. Sondern ich möchte von einer freundlichen, aber resoluten Dame dazu genötigt werden, noch ein zweites Stück zu verzehren.
Aber nein. Kaum leben wir - was die Nahrungsmittel anbelangt - in einem historisch einmaligen Zeitfenster des Überflusses, kaum gewinnt sogar in Deutschland die Esskultur an Oberwasser, kaum werden weltweit Köche zu Popstars und anerkannten Kulturschaffenden, kaum entdecken kulinarisch verwöhnte sowie dabei über Jahrzehnte subtil verhäuslichte Ehemänner ihre gastrosexuelle Ader und fangen an, leidenschaftlich zu kochen, da tritt ein bemerkenswert moralischer Beißreflex zu Tage: die Zensur!
Was aus dem Bereich der Erotik längst bekannt ist, taucht auf einmal auch im Bereich des Essens auf: Fleisch, Kohlenhydrate, Zucker, Fette, exotische Früchte - alles gefährlich, moralisch bedenklich, gesellschaftlich zweifelhaft. Ein anständiges Mahl besteht aus stillem Wasser und reinen Gedanken. Na gut, vielleicht auch noch einer „Bowl" mit ein paar Samen oder einem „Burger" ohne Fleisch und ohne Käse, also ohne all das, was einen Burger eigentlich ausmacht. Das kulinarische Zölibat wird zum Leitgedanken. Man erkennt die wahren Diätapostel an den asketisch ausgemergelten Körpern im Body-Mass-Idealbereich: ohne Fett, ohne Cellulite, ohne Falten - und ohne Lachen im Gesicht. Anbetung ewiger Jugend bedeutet dabei nichts anderes als der Kampf um die auf Dauer gestellte Infantilisierung von Körper und Geist. Nicht die spektakulär genusssüchtigen Abenteuer eines Giacomo Casanova bewundert der neue acht- und sorgsame Mensch, sondern er sehnt sich nach 24 Stunden Dauerbetreuung im zuckerreduzierten Bällebad. Aus Angst vor „gesundheitsrelevanten" Sirenen, die das auch im Erwachsenen noch stets schlummernde, schwache und naive innere Kind mit ihren betörenden Gesängen verführen könnten, soll die Welt deshalb am liebsten in einen Kindergarten samt erzieherischem Personal umgebaut werden.
Dabei geht es doch eigentlich um die Frage des richtigen Maßes. Nur wer bestimmt, welches das ist? Und da muss man sich in einer Gesellschaft, in der nicht ein König von oben herab alles bestimmt, sondern alles eben mehr oder weniger wild demokratisch durcheinanderwuselt, sagen: Niemand und wir alle zusammen. Denn das richtige Maß ist auch nicht in der Natur der Dinge definiert. Was für die einen an sündhafte Überfülle erinnert, ist für die anderen nicht mehr als ein kleiner Happen zwischendurch. Der Puritaner lehnt zum Beispiel den Alkohol rundherum ab, der lektüreversierte Katholik wird anmerken, dass Jesus Wein statt Wasser beim Abendmahl reichte und dass er dabei auch sprach „Trinket alle daraus" (Mt. 26,26) und nicht „Nippt bitte nur ein wenig".
Ebenso ist es für die einen eine ausgemachte Sache, dass beim Liebesspiel das Licht gelöscht wird, während andere womöglich gerne die lebendigen Gesichtszüge sehen, die die Liebespartnerin macht, wenn etwas Champagner auf ihrer Haut prickelt. Zwischen dem asketischen und enthaltsamen Augustinus auf der einen Seite und dem niemals genug bekommenden Radikalhedonisten Marquis de Sade, zwischen dem Roh- und Vollwertköstler Werner Kollath - dem schon das Kochen von Lebensmitteln ein Graus war - und dem Haute-Cuisine-Koch Marie-Antoine Carême, liegen nicht nur Welten, sondern Galaxien. Und dennoch sind sie alles Menschen und jeder von ihnen entwickelte eine Kultur und einen kulturellen Umgang mit Gelüsten und Genüssen.(2)
Soziologisch interessant zu beobachten ist nun, dass gegenwärtig eine illiberale Kultur der Ängstlichkeit um sich greift, die medizinische, moralische, erzieherische und sehr statusbewusste Argumente miteinander verwebt. Daraus werden immer mehr politisch-rechtliche Regelungen für alle Menschen hergeleitet, selbst für jene, die sich nicht dauerhaft in die Obhut des Nanny States begeben wollen. Es scheint, als würde in jedem Bonbon, in jeder Berührung, in jedem Wort ein kleines Tschernobyl vor sich hinköcheln, dessen Explosion verhindert werden muss. Spannend auch, dass die Lebensmittelampel und all die medizinisch-moralischen Imperative zu einer Zeit kommen, in der doch prinzipiell so viel Genuss möglich wäre wie noch nie und wir umgeben sind von Food Porn.
Ja, genau Food Porn. Es wird eben nicht nur Erotik mittels Aphrodisiaka und kulinarischen Verführungskünsten initiiert und sublimiert, auch das Essen und die Essenszubereitung werden immer öfter durch eine Perspektive betrachtet, die man eigentlich auf den erotisch-sexuellen Bereich begrenzt geglaubt hatte. Explizite, ausgeleuchtete Arrangements, die Isolierung eines Produkts, eben der Speise, eine Aneinanderkettung von immer noch mehr und noch köstlicheren, noch diffizileren Gerichten, Getränken, Esssituationen und - ganz zentral - die heikle Mixtur aus verführerischen Inspirationen und stellvertretendem Genuss. Wie die sexualisierte Pornografie zeigt auch Food Porn etwas, das anderen, nicht in der konkret dargestellten Situation Anwesenden Lust auf das in Szene Gesetzte machen soll.
Es ist unsere Entscheidung, wie wir damit umgehen, wenn einem (Food-)Pornografie das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Im besten Fall animiert es den Zuschauer, selbst aktiv zu werden und neue Dinge auszuprobieren. Es kann aber auch dazu führen, dass die Betrachter sich einfach darin einrichten, nicht selbst Genüsse zu suchen, nicht selbst Sinnlichkeiten auszuprobieren und Lüste zu erfahren, sondern eben diese realen Erfahrungen delegieren, während sie selbst vor dem Fernseher oder dem Smartphonebildschirm sitzen und mehr oder weniger geschmacklich eher fades Junk Food konsumieren oder gar Diät halten und das alles ohne sich gegenseitig zu berühren. So etwas kann passieren, weil man zu faul oder zu ängstlich ist, sich auf Neues oder auf die Komplexität der Welt an sich einzulassen.
Die Kultur der Gegenwartsgesellschaft bringt beides hervor: experimentierfreudige, gastroerotisch aufgeschlossene Hedonisten einerseits und ebenso ängstliche, teils sozial isolierte Redundanzesser auf der anderen Seite.
Doch bedenken Sie - auch immer, wenn Ihnen liebe Leserinnen und Leser, das nächste Mal ein Dessert offeriert wird - wie interessant es ist, dass es ein eigenes Wort für das heimliche, genießerische Verzehren von etwas besonders gut Schmeckendem gibt: „Naschen". So als wenn es kein profanes Essen, sondern eine eigene Kunst wäre.(3) Und wer weiß, welche Möglichkeiten sich sonst noch ergeben, was und wen Sie vernaschen können.
Literatur:
Kofahl, Daniel: Kulinarischer Zölibat - Die Infantilisierung von Körper und Geist. In: Die WELT vom 1.6.2019. 2.
Kofahl, Daniel: Orgasmen sind wie Pommes - Eine soziologische Erkundung der Gastroerotik. In: Paul, Stevan: Philosophie des Kochens, Mairisch Verlag, Hamburg 2018, 141-152.