Malum est hominibus maximum immoderatio. (Menandros, Monosticha 277)
Prose beginnt mit zwei Akzenten, die herausfordern: Der Verlegung von (übermäßigem) Essen in die Verbotszone der „Todsünden" und der Attribuierung dieses peccatum maximum als „köstlich". Zu früh, zu erlesen, zu viel, zu gierig, zu teuer - mit den Stichworten Gregors der Große wird eine kultur- und mentalitätsgeschichtliche Verortung des Phänomens der Völlerei versucht, um Bedeutungsgehalte zwischen Ablehnung, Verteufelung und lustbetonter Akzeptanz in einem historischen Überblick darzulegen. Den differenten Assoziationen von Sünde und Freude, den Wandel von Stigma zu Machtzeichen und schließlich wieder zu Zeugnis persönlicher Verfehlung wird nachgegangen, in den zuerst religiösen, dann gesellschaftlichen Bestimmungskategorien und Richtinstanzen von geistigem bzw. materiellem Gesundheitsbewusstsein.
Die Frage, worin denn das Sündhafte an der Völlerei bestünde, gerät zur Farce, wenn sie Gott ausklammert. Zwar fragt Prose zurecht nach dem Warum, da ja nach dem Grundsatz Volenti non fit iniuria(1) niemand anders als der bedenkenlos Schlemmende selbst von den unsäglichen Folgen der Völlerei betroffen ist, doch besteht die Sünde im bei weitem tiefgründigeren Phänomen der exzessiven Weltlastigkeit und damit spirituellen Beziehungsruptur, als lediglich in praktischen Argumenten der allgemeinen Obsorge und Rücksichtnahme um die anderen, denen man durch Fresssucht Nahrung entzöge. Anhand einiger Vertreter des frühen wie mittelalterlichen Christentums wird die Einordnung und Charakteristik der Völlerei als Sünde versucht. Nicht das, was wir essen, sondern die Art, wie wir es essen sei mit Augustinus und Thomas von Aquin - der letztere mag naturgemäß hierbei eine großzügigere Linie verfolgt haben - entscheidend, gibt doch übrigens die Bibel selbst Zeugnis einer großzügigen Fest- und Mahlkultur. Wer wissentlich das Maß des Verträglichen überschreitet macht sich nach Thomas der Völlerei schuldig, da dies - und nur dies kann Grund von Sünde sein - das Schauen Gottes verdunkelt und durch die Hingabe an das Lasterhafte nicht mehr in seiner Liebe steht. Dieses „Lasterhafte" der Völlerei muss im Übrigen konsekutiv gesehen werden: Völlerei als die „Ursünde", eben „Todsünde", aus der sich andere wie Wollust etc. ableiten, wie Prose etwa anhand von Evagrius Ponticus und Gregor der Große vorbringt. Für Cassianus muss überhaupt ein grundsätzlicher Kampf gegen den „Geist der Gastrimargie" geführt werden, ansonsten ist mit der Schärfung des Geistes gar nicht erst anzufangen. Damit ist im Übrigen auch das Gegenteil, die Genugtuung bereitende Abstinenz, als sündhaft anzusehen, da sie gleichfalls vom itinerarium mentis in deum(2) abhält. Somit gelangt Prose zum Schluss, dass Völlerei sich weniger am Esswahn, vielmehr an der obsessiven Beschäftigung damit und den Folgen davon festmachen lässt, wodurch sie heute mehr denn je als Phänomen verbreitet scheint. „Sünde" bleibt sie dennoch, jedoch im zutiefst eigenen Sinne: das Pönale ist ein immanentes, in der Ausgrenzung durch die anderen bestehendes. Der Preis dieser Sünde ist die tiefste Hölle, mit der sich die Kunst in unterschiedlichen Auslegungen beschäftigt hat. Der Gang durch die Szenen Bartolos, Boschs und Ensors gibt kurze Einblicke davon. Denkt man nun das Infernum weg, so bleibt der Tod als konsekutives Bedrohungsszenario: in der Fettleibigkeit ist ein handfestes Menetekel dem Menschen von heute aufgegeben. Prose geht im Anschluss tiefer auf psychologische Aspekte ein, die Essstörungen bedingen, indem sie aus der Fachliteratur Beispiele anführt. Ein immanent aktueller Bezug bringt die Diskussion um Folgen und Kosten dieser Störungen, die Verantwortlichkeit von Firmen, die gezielt auf die Genusssucht einwirken, sowie die Möglichkeiten von Gesellschaft und Gesundheitswesen, den aktuellen Trends entgegenzuwirken. Die Sichtweise dieser Trends steht in krassem Gegensatz zu den "großen Momenten der Völlerei" (S. 83), die literarische Blitzlichter der vermeintlichen Freude zur Sprache bringen. Nicht mehr Tod und Hölle betrüben, vielmehr wird Schlaraffia vorgespielt. Man findet sich in Bengodi, wie schon das Umschlagbild vorführt, dem Land in Boccaccios Decamerone, und natürlich bei Rabelais. Die Sünde scheint hier unbekannt. Es wird zum Schluss allerdings deutlich, dass sich der Kreis von Schuld wie Unschuld, Verbrechen und Strafe, Sünde und Buße (S. 73) wiederum schließt. Nur in diesen Kategorien kann das Ereignis der Völlerei gedacht werden, nur in den Bildern von individuellem wie kollektivem Körper zeigt sie sich präsent. Was ist nun die Völlerei? Ein Bruch mit der gesellschaftlichen Norm, ein Verbrechen an sich selbst, oder doch ein Verharren im Religiösen? Prose gibt einige Antworten, wobei sie Vergangenheits- und Gegenwartsdiskurs, Wirk- und Ursachengeschichte, Zwänge, Gebote, Verdikte und Konformitätsdruck miteinander verwebt, den Konflikt zwischen körperlichen Bedürfnissen und geistiger Normierung anzeigt, um im Umgang mit diesem Phänomen zu sensibilisieren.