Die Neuerscheinung ist schon einmal optisch ansprechend, küchentauglich handlich und sorgfältigst redigiert. Was macht dieses Buch über die Küche der einst östlichsten Provinzhauptstadt der k.u.k. Monarchie noch interessant? Zum einen der kulturhistorische Hintergrund, den die drei Autorinnen mitliefern: Die Region Bukowina („Buchenland"), deren Zentrum Czernowitz, das heute ukrainische Tscherniwzi, war, wurde bis zu den weitreichenden ethnischen Verschiebungen der 1940erjahre von einer bunten Vielfalt sprachlicher, kultureller und religiöser Gruppen bewohnt: Ukrainer (in der Monarchie Ruthenen genannt), Polen, deutschsprachige Juden und Nichtjuden, Rumänen, Armenier, Usbeken u.a.m. Heute ist es ein reiches kulinarisches Erbe, das diese vergangene Vielfalt noch wiederspiegelt, und so erfährt man beispielsweise, dass manche Delikatesse gleich von mehreren Gruppen übernommen und in Freundschaft als die ihre reklamiert wurde. Was etwa Polen, die so stolz auf ihre Pirogi (gefüllte Teigtaschen) oder ihren Borschtsch (Rote-Rüben-Suppe) sind, sagen würden, wenn im „Czernowitzer Kochbuch" Pyrohy und Borschtsch als „traditionell ukrainisch" angeführt sind? Es bleibt sogar Raum, um so charmante Details zu dokumentieren wie etwa beim Rezept von Haluschky (Wirsingrouladen, „traditionell ukrainisch"): dass es eine armenische Variante gebe, die statt der Kohlblätter Weinblätter verwende.
Die Rezepte stammen aus privaten Rezeptsammlungen der Autorinnen bzw. ihrer Vorfahrinnen, und da wird sichtbar, dass es wohl oft auch Varianten der Originalrezepte sein müssen, vielleicht von Nachbarinnen bekommen und dann nach eigenem Geschmack verändert. Ein Beispiel dafür sind die als „traditionell jüdisch" bzw. „deutsch/jüdisch" kategorisierten Rezepte für Gefülltes Huhn und Fleischstrudel Majina: Beide Zutatenlisten enthalten Fleisch/Geflügel in Kombination mit Milchprodukten - eine Unmöglichkeit in der koscheren jüdischen Kochtradition. (Die Rezensentin dankt der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg für die detaillierten Informationen hierzu.)
Abbildungen von Märkten, Stadtansichten und Architektur vermitteln einen lebendigen Eindruck von einer Region, die seit zwei Jahrzehnten dabei ist, die graue Tristesse von sieben Jahrzehnten der Kriegs- und Zwischenkriegszeiten und der sowjetischen Ära abzulegen. Außerdem haben sich die drei Autorinnen die Mühe gemacht und jedes Rezept nachgekocht sowie photographiert. So ist das „Czernowitzer Kochbuch" auch ein anregendes Bilderbuch geworden. Viele Details sind ungeheuer stimmig, etwa die Einmachgläser in original ukrainischer Optik. Ja, überhaupt die Einmachrezepte: Sie sind Zeugnis einer kulinarischen Tradition, die viel mit Selbstversorgung und einer Vorratshaltung ohne Kühlhäuser und Importe zu tun hatte, andererseits aber bis heute mit erstklassigen Produkten aus regionaler Erzeugung arbeitet: süße, saftige Tomaten, fruchtige Paprika, früh geerntete Bohnen, weißer und roter Wein, Beerenobst, Pilze u.a.m. Die Rezensentin kann aus eigener Reiseerfahrung bestätigen, dass etwa die mit Dill, Essig, Honig, Salz und Knoblauch eingelegten Tomaten aus der Ukraine weitaus aromatischer einen Salat im Winter veredeln, als dies ein bleiches, wässriges, frisches Importprodukt aus dem Süden täte.
Die stille Post der kulinarischen Überlieferungen wird in den Süßspeisen deutlich, wo viele altösterreichische, will meist heißen: böhmische Rezepte in Czernowitz überlebt haben. Manchmal ist es auch die Bezeichnung, die Verwandtschaft verrät, etwa bei den Pfingstgolatschen („traditionell rumänisch"), die äußerlich den heutigen österreichischen Topfengolatschen gleichsehen, jedoch mit salzigem Brynsa-Käse (dem griechischen Feta ähnlich) und Dill gefüllt werden. Ein Vergleich des Czernowitzer Rezepts Faschierter Braten „Hase" („traditionell deutsch") mit dem Rezept „Falscher Hase" - Berliner Hackbraten aus dem in dieser EPIKUR-Ausgabe ebenfalls rezensierten Buch „Die echte deutsche Küche" zeigt, wie viele Zutaten möglicherweise auf dem Weg vom wohlhabenden Berlin ins lange noch von Mangelwirtschaft geprägte Czernowitz verloren gegangen sind: Gemeinsam sind folgende Zutaten: faschiertes Fleisch, Zwiebeln, Milch, Weißbrot, Öl bzw. Butterschmalz, Eier, Salz, Pfeffer. Im deutschen Rezept kommen dann noch hinzu: Knoblauch, Speck, Butter, Semmelbrösel, Petersilie, Senf, Kümmel und Paprika gemahlen, Oregano, Thymian, Koriander, Muskat, Cayennepfeffer, Tomate, heiße Brühe, Sauerrahm und Mehl.
Eine feine Würze erhält das „Czernowitzer Kochbuch" durch die kurze, mit Bedacht ausgewählte Literaturliste zum Schluss des Bandes. So kann man als Leser/-in die kulinarische Reise durch eine Erinnerungs- und Poesiereise in die einst bedeutsame ostmitteleuropäische Kulturmetropole erweitern.