Endlich mal was wirklich Exotisches, nach all der Mittelmeerküche, Asia taste und Fusion-Mode: die deutsche Küche! Frage 1: Ja gibt es denn sowas überhaupt - im Land von Pommes mit Majo und Currywurst? Sie ist schnell mit Ja beantwortet, man blättere nur durch den schweren GU-Quartband, 280 Seiten, genauso opulent bebildert und mit ähnlichen Recherchen über Land und Leute ausgestattet wie der seit den 1990erjahren weit verbreitete Band der „Echten italienischen Küche" von GU, der mittlerweile auch ergänzt wird durch die „Echte französische Küche" und eine „Neue echte italienische Küche". Frage 2: Ist sie das nun, die leibhaftige „Plumpsküche" der deutschen Hausfrauen, von der Wolfram Siebeck durch das Essen in seiner Jugend ein lebenslanges kulinarisches Trauma davontrug und dieses publizistisch der Nation seit den 1970erjahren auf die Pappteller legt? Da ist die Antwort etwas schwieriger, denn glücklicherweise sind die Rezepte so weit authentisch, dass man den Zutaten eben gerade doch ihre Geschichten ansieht, Geschichten eben auch von Zutatenmangel, Resteverwertung oder dem Streben nach Nahrhaftigkeit. So ist sie unvermeidbar in etlichen Suppen und manchen Saucen, die - horribile dictu - Mehlschwitze, so sind auch Gerichte angeführt wie Aufgeschmalzene Brotsuppe oder Stampfkartoffeln.
Die überwiegende Mehrheit der Rezepte verraten jedoch kulinarischen Ehrgeiz jenseits der Alltagsküche, es sind viele Festtagsgerichte darunter (Kindstaufschüssel „Rennsteig" mit Kartoffelhörnchen, Bergische Kaffeetafel ...), regional verankerte Produkte (Teltower Rübchen, Rügener saure Rippchen ...) und solche, deren Namen für süddeutsch-österreichische Ohren wirklich exotisch klingen: Storzenieren, Wruken, Heppeles Broade, Dippehas ...
In dieser EPIKUR-Ausgabe wird auch Peter PETERs „Kulturgeschichte der deutschen Küche" rezensiert, ein glücklicher Zufall, beide Bücher ergänzen sich gut. Peter schreibt, die zentrale Lage der deutschen Länder habe fremdländische kulinarische Einflüsse begünstigt - das findet sich in so manchem Namen eines Gerichtes noch wieder: Franzosensuppe (eine Gemüsesuppe aus dem Saarland), Bigosch (ein polnisches Nationalgericht, das die ausländischen Bergarbeiter des 19. Jahrhunderts erfolgreich in die NRW-Küche integrieren konnten) oder Cuxhavener Fischsuppe (mit dem einst exotischen Curry zubereitet). Auch die Klassiker, die man kennt, sind alle im Buch vereint: Königsberger Klopse (die ebenso wie manch ein Pommerscher Mandelkringel die Autorinnen in die Verlegenheit bringt, dass die namengebenden Regionen nicht mehr zu Deutschland gehören - was sie diplomatisch mit der Zuordnung zu weiter westlich gelegenen Teilen Deutschlands lösen), Rote Grütze (schmeckt bei Weitem besser, als der Name klingt), Buletten, Eisbein mit Erbspüree oder die hessische Grie Soß, und auch der seit Bundeskanzler Helmut Kohl unsterbliche Pfälzer Gefüllte Saumagen hat seinen Auftritt.
Dass Deutschland bei aller regionalen Feinschmeckerei auch das Land der Gourmandise ist, kommt in den Regionsbeschreibungen gelegentlich zum Vorschein. So ist im Abschnitt über Bremen und Niedersachsen von der jährlichen Verleihung eines „Kohlordens" die Rede; es bekommt ihn jener, der die größte Menge des beliebten „Grünkohl mit Pinkel" (einer Wurst) auf einmal verzehrt.
Die Autorinnen scheuen nicht vor Rezepten zurück, die aus Zeiten stammen, wo die Kühe nicht lila auf der Wiese standen und die Milch nicht aus dem Packerl kam; so wird anlässlich des pommerschen Rezeptes für „Gänseweißsauer", eine Sulzenzubereitung, auch das Rezept für „Gänseschwarzsauer" erwähnt: man bereitet es mit dem nach der Schlachtung noch warmen Blut zu.
Positiv fällt die Beachtung von Bezeichnungsunterschieden zwischen den deutschen Dialektregionen auf, so ist etwa unter „Bayern" eine Kirchweihgans mit „Blaukraut" vermerkt, während sich unter „Berlin und Brandenburg" ein Falscher Hase mit „Rotkohl" findet. Nicht so ganz am altdeutschen Original hängt hingegen die Rezeptur für „Forelle blau", da wird einerseits richtigerweise gemahnt, beim frischen Fisch vorsichtig zu sein und die Schleimschicht nicht zu verletzen, andererseits forsch angedeutet, wenn man keine frische Forelle zur Hand habe, nehme man einfach eine tiefgefrorene. Ob die noch „blau" wird?
Drei kulturhistorische Beobachtungen drängen sich beim großen Überblick über die versammelten Rezepte der deutschen Küche noch auf. Zum Ersten ist es der hohe Anteil an Gerichten, die Fleisch enthalten, dank dem nach Zutaten gegliederten Rezeptverzeichnis leicht zu recherchieren: von den ungefähr 190 Rezepten sind 40 Desserts, von den verbliebenen 150 Rezepten haben etwa 120 Fleisch oder Fisch dabei. Damit in Zusammenhang dürfte die zweite Beobachtung stehen, dass nämlich in außerordentlich vielen Gerichten, ob nun vegetarisch oder nicht, Fette tierischer Herkunft verwendet werden: Schweineschmalz, Gänseschmalz, Butter, Butterschmalz, süße oder saure Sahne (Schlagobers bzw. Sauerrahm) - Letzere auch statt Öl in Salatrezepten. Das scheint ein Hinweis auf die Verfügbarkeit zu sein: Öle waren selten, tierische Fette hingegen auch in der verbreiteten (klein-)bäuerlichen Wirtschaftsweise mit der Haltung von Schweinen, Geflügel und Kuh oder Ziege/Schaf von Haus aus vorhanden. Und die dritte Beobachtung deckt sich mit einer Feststellung, die auch Peter Peter in seiner „Kulturgeschichte der deutschen Küche" trifft: Traditionellerweise war die Verwendung von ungekochtem Gemüse in deutschen Landen so gut wie nicht üblich. Von den ganzen 10 Salatrezepten, die das Buch enthält, sind nur 4 mit ungekochtem Gemüse, Ausnahme: die Verwendung von geringen Mengen frischer Zwiebeln.
Alles in allem: ein Kochbuch, das in die Zeit der Besinnung auf Regionalität gut hineinpasst und im Detail manches schon wieder fast exotische Rezept bereithält.