Wenn es in heutigen Debatten um das Thema Höflichkeit geht, verfängt man sich schnell im Normativen: Wird (in der Tradition von 1968) Höflichkeit als leere Form, als Ausdruck eines verlogenen Systems abgelehnt, muss man im Gegenzug das Authentische affirmieren, das gar keiner Regeln im Umgang bedarf. Und wer (wie in der florierenden Ratgeber- und Benimmbuchliteratur) ein Loblied auf die Höflichkeit anstimmt, erkauft sich das nicht selten durch den Rekurs auf angeblich universale, überzeitliche Regeln des Anstands. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes setzen bei diesem Gegenwartsinteresse an, wollen dem Thema aber dadurch historische Tiefenschärfe verleihen, dass sie ein normatives Verständnis ablehnen und Höflichkeit analytisch als sinnvolles Handeln verstanden wissen wollen. Das gelingt durch einen (postmodernen) Kunstgriff, denn sie definieren „Höflichkeit als Konstitution eines sozialen Miteinanders, das nicht auf unterstellter Gemeinsamkeit, Gleichartigkeit und Vertrautheit beruht, sondern im Gegenteil auf offenbarer, unbeseitigbarer Differenz, Ungleichartigkeit, Fremdheit" (163). Anders ausgedrückt ist Höflichkeit eine Kommunikationsform, die Alterität gerade nicht aufheben, sondern durch Regeln einhegen will und somit zu einem gelungenen Handeln für beide Seiten beitragen möchte. Damit hängt eine Neubewertung von Unhöflichkeit zusammen, die nicht als bloße Unkenntnis von Höflichkeitsregeln begriffen wird, sondern einen gezielten Regelverstoß darstelle, der sich aber noch im gleichen Bezugssystem bewege. Das Gegenteil von Höflichkeit sei insofern nicht Unhöflichkeit, sondern Gewalt.
Um die Triftigkeit dieses Ansatzes zu demonstrieren, haben die Herausgeber 20 Beiträge vor allem zur Frühneuzeit versammelt. Nach einem einleitenden Teil wird Höflichkeit in fünf Bereichen untersucht: im höfischen Kontext, in Stadt und Republik, auf Reisen und als diplomatische Aufgabe, unter Gelehrten sowie auf dem Weg zur Zivilgesellschaft. An dieser Stelle sollen lediglich einige Beobachtungen zum Verhältnis von Höflichkeit und Unhöflichkeit angestellt werden, die einen besonderen Reiz des Sammelbandes ausmachen.
Eine Reise galt besonders im Adel als Möglichkeit zum Erwerb und zur Einübung von Höflichkeit, die eine Schlüsselqualifikation für die Kontaktpflege, fürs Netzwerken sowie Verhandeln darstellte. Allerdings kann Dorothea Nolde in ihrem Beitrag am Beispiel eines jungen französischen Adligen zeigen, dass nicht an allen europäischen Höfen das gleiche unter Höflichkeit verstanden wurde, sondern kulturelle Unterschiede bestanden, die zu Missverständnissen führen konnten. Dabei stellten die Tafelsitten immer einen Test der Umgangsformen dar, wobei sich der Bereich des Trinkens als besonders schwierig erwies: So erforderte die Höflichkeit einerseits das Mittrinken, andererseits bestand dabei immer die Gefahr des Kontrollverlusts und der (ungewollten) Unhöflichkeit. Zeitgenössische Ratgeber schlugen als Strategie vor, zwar mitzutrinken, aber frühzeitig zu gehen und sich lieber anderntags zu entschuldigen als beim Mahl zu entgleisen. Allerdings ließen sich die Ratschläge nicht immer umsetzen: Als der Kurfürst von Sachsen dem jungen Franzosen keinen Dispens vom Trinken gab, konnte sich dieser dem Gelage nicht entziehen und war dann des Nachts so stark berauscht, dass er seine Blase am Rock der Kurfürstin entleerte und seinen Besuch vorzeitig abbrach.
Bei transkulturellen Begegnungen erhöhte sich das Potential für Missverständnisse, weil eine gemeinsame Sozialisation fehlte und die (Un-)Höflichkeit der Anderen nicht nur individuell, sondern gleichzeitig als Ausdruck ihrer politischen Ordnung insgesamt gelesen wurde. Dennoch kann Sabine Schülting bei ihrer Analyse von „Orient"-Reisen zeigen, dass ein Henry Blount im Osmanischen Reich sich erfolgreich anzupassen wusste und in türkischer Kleidung unterwegs war - allerdings war er möglicherweise ein Spion. Ein anderer Reisender, Sir Thomas Roe, der am Hof des indischen Großmoguls englische Handelsinteressen stärken sollte, wurde nicht ernstgenommen, weil er die auf Warentausch basierende Ökonomie vor Ort nicht verstand und mit zu kleinem Gefolge und zu armseligen Geschenken angereist war. Nur durch gezielte Unhöflichkeiten konnte er sich als bedeutender Mann gerieren.
Instrumentelle Entgleisungen wie diese werden von Sebastian Kühn als Rituale der Unhöflichkeit bezeichnet, die weniger erforscht seien, aber nichtsdestotrotz genauen Regeln folgten und bestimmten Zwecken dienten: So konnten sie eine Entscheidung in einem Konflikt herbeiführen, der anders nicht zu lösen war, wie er selbst am Beispiel des Streits zweier angesehener Ärzte der Londoner Royal Society illustriert: So gelang es Hans Sloane, seinen Konkurrenten Woodward durch inszeniertes Lachen in einen Ehrkonflikt zu verwickeln und letzlich aus dem Führungsgremium auszuschließen. Unhöflichkeit diente auch der sozialen Distinktion, wie Giora Sternberg anhand des Bauffrement-Villars-Eklats verdeutlicht: Ein Adliger (Marquis de Bauffrement) verfasste, da ihm die Schlussformel in einem Brief des Leiters des Kriegsrates (Marschall Villars) nicht passte, eine ironische, respektlose Antwort, die ihn für einige Tage in die Bastille brachte. Die Formel „très parfaitement à vous", gebraucht für die Anrede von Untergebenen, war Auslöser eines Konflikts, in dem sich letztlich die Spannung zwischen altem Geburtsadel und neuem Amtsadel entlud. Erst mit der Französischen Revolution kommt dieses reziproke System der Höflichkeit und Unhöflichkeit zu einem Ende. Andreas Fahrmeier kann nachweisen, dass die Revolution als bewusste Unhöflichkeit gestaltet wurde, da Höflichkeit als symbolischer Vertreter des alten Systems gesehen wurde, in dem der Stand nicht auf persönlichen Meriten, sondern auf dem Geburtsstand aufbaute. Als Gegensatz zur Höflichkeit wurden Natürlichkeit, Ehrlichkeit, Offenheit starkgemacht - man erkennt die Parallelen mit späteren sozialen Bewegungen. Diese Unhöflichkeit ist folglich systemsprengend, weil sie ein alternatives Regelwerk zugrundelegt. Und der Verlauf der Französischen Revolution hat gezeigt, dass die Grenze von der Unhöflichkeit zur Gewalt fließend war.
Ohne unhöflich sein zu wollen, seien zwei kritische Punkte an diesem ansonsten so anregenden Band angemerkt: In einigen Beiträgen ist eine Abgrenzung der konfliktreichen Frühen Neuzeit von der geschlossenen (höfischen) Gesellschaft des Mittelalters impliziert; Mediävisten werden hier einwenden, dass solche Vereinfachungen nur der Selbststilisierung der Moderne dienen und der Komplexität der mittelalterlichen Realitäten nicht gerecht werden. Außerdem wird die titelgebende Frage nach „Konjunkturen" der Höflichkeit - mit Braudel verstanden als zyklische Prozesse mittlerer Länge - nicht wirklich eingelöst, da sie vor allem in der Synthese der Herausgeber, aber nicht in allen Beiträgen eine Rolle spielt.