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BAUER Susanne, BISCHOF Christian, HAUFE Stephan Gabriel, BECK Stefan, SCHOLZE-IRRLITZ Leonore (Hg.): Essen in Europa. Kulturelle „Rückstände“ in Nahrung und Körper (VerKörperungen/MatteRealities 5). Transcript, Bielefeld 2010

Harald GSCHWANDTNER.   

Überaus facettenreich und thematisch breit aufgestellt präsentiert sich der Sammelband „Essen in Europa. Kulturelle ‚Rückstände' in Nahrung und Körper", der im Bielefelder transcript-Verlag erschienen und im Zusammenhang des Projekts „Der Homo Europaeus in Nahrungsforschung und Medizin" (2006-2009) entstanden ist. Die Beiträge in diesem Band versuchen, die so komplexen wie dynamischen Prozesse der europäischen Ernährungspolitik mit verschiedenen Ansätzen und thematischen Fokussierungen zu fassen. Demnach stellt sich beispielsweise die europäische Agrarpolitik als „eines jener Politikfelder dar, an dem sich Prozesse, Mechanismen und Instrumente der Europäisierung gut beobachten lassen und das zugleich exemplarisch für einen neuen Typus der governance steht, mit dem in Europa alte politische Felder mit neuen Kalkülen und neuartigen Instrumenten der Regierung und Regulierung bearbeitet werden." (S. 9) Die Beiträge in diesem Sammelband setzten sich zum einen intensiv mit Verfahren der Standardisierung und Objektivierung von Nahrungsmitteln auseinander und behandeln dabei auch Phänomene, die mit dem Hobsbawm'schen Schlagwort der invention of tradition durchaus gefasst werden können - gerade der Aufsatz von Atle Wehn Hegnes zeigt dies exemplarisch anhand von norwegischen Kartoffelsorten. Zum anderen kommen moderne, hochkomplexe Verfahren des ‚Bioengineering' in den Blick, die mit den Mitteln der Epigenetik und Nutrigenomik Chancen, aber auch Risiken für die Ernährungspolitik der Zukunft bieten. Insofern kann sicherlich davon gesprochen werden, dass der Band unter dem - freilich sehr weit gefassten - Titel „Essen in Europa" eine interessante Bandbreite gegenwärtiger Ernähungsforschung zusammenfasst, die wohl jedem, der in diesem Gebiet wissenschaftlich tätig ist, auf die eine oder andere Weise wertvolle Anregungen bieten kann.

 

Ein illustratives Fallbeispiel für den Widerstreit von traditioneller Struktur auf der einen und moderner Internationalität und strategischem Marketing auf der anderen Seite präsentiert Marie-France Garcia-Parpet in ihrem Beitrag zur französischen Weinklassifikation. Die Autorin versteht dabei - gestützt auf Pierre Bourdieu - den Wein als eminent sozial gebundenes und verankertes Genussmittel, denn er „ist Teil jener alltäglichen Handlungen, die den Menschen sozial verorten" (S. 22). Die symbolische Aufladung des Produktes „Wein" spielt dabei für den Gegensatz von traditionellem Weinbau (hier ist das Modell des terroir in Frankreich von entscheidender Bedeutung!) und moderner Technologie eine zentrale Rolle. Heute hat sich, nach Garcia-Parpet, die Struktur der französischen Weinproduktion deutlich gewandelt. Die strenge Gliederung zwischen hochgeschätzten wie hochpreisigen Weinen, die sich im Wesentlichen auf bestimmte traditionelle Konsekrationstitel berufen konnten, und einer qualitativ minderwertigen Massenproduktion sei so nicht mehr aufrecht zu erhalten. Das heiße aber nicht, dass der Weinhandel deshalb demokratischer geworden sei (S. 39), vielmehr werden heute „Faktoren wie Unternehmensgröße, Kapitalmasse, zahlreiche Werbeauftritte, die vorher mit niedrigklassigen Weinen in Verbindung gebracht wurden, <...> heute wertschöpfend für alle Weinqualitäten eingesetzt." (S. 38) Dabei versteht es die Autorin gekonnt, am französischen Weinhandel exemplarisch die veränderten Voraussetzung traditionell gewachsener nationaler Strukturen im Kontext einer globalisierten Weltwirtschaft deutlich zu machen.

 

Ebenfalls einen länderspezifischen Fokus hat Atle Wehn Hegnes, der sich mit dem europaweiten Herkunftsschutz von Lebensmitteln anhand des Beispiels norwegischer Kartoffelsorten befasst. Er versteht es zu zeigen, wie in den entsprechenden Zulassungsverfahren verschiedene Prozesse der „Übersetzung und Transformation" (S. 45) ablaufen. Dabei führt er insbesondere ins Treffen, dass das System der Herkunftsbezeichnungen von Lebensmitteln für Norwegen etwas Außergewöhnliches darstellt, da „die norwegische Nahrungsmittelkultur" diesbezüglich „keine ausgeprägte Tradition" aufweise (S. 49). Insofern werde eben „Übersetzungsarbeit" notwendig, um beispielsweise „während des Bewerbungsverfahrens Produktnamen zu erfinden , über die das jeweilige Produkt mit seinem Herstellungsort verbunden werden kann." (S. 50) Gleichzeitig komme es im Zuge dessen aber auch zu einer Transformationen des Produkts auf materieller Ebene, da für die Zulassung gewisse „internationale< > Regelwerke< > der Agrar- und Ernährungspolitik" (S. 60) befolgt werden müssten.

 

Grundsätzliche wie grundlegende Ausführungen zu den so virulenten Konzepten von Regionalität und Natürlichkeit finden sich im Aufsatz von Stephan Gabriel Haufe, „Die Standardisierung von Natürlichkeit und Herkunft". Ausgehend vom Konzept eines quality turns seit dem Ende der 90er Jahre (vgl. S. 65) versucht Haufe anhand zweier Fallbeispiele (gentechnikfreie Milch einer österreichischen Molkereigenossenschaft und steirisches Kürbiskernöl mit geschützter geographischer Angabe) die „vielschichtige hybride Mischkonzepte" (S. 66), die hinten den Tradition und Natürlichkeit versprechenden Qualitätsbezeichnungen stehen, aufzuzeigen. Die Doppelung zwischen der Forderung nach einwandfreier stofflicher Beschaffenheit (biologische Erzeugung, Gentechnikfreiheit, Vermeidung von Giftstoffen wie Pestizide) auf der einen und der „symbolische Aufladung in Qualitätsdefinitionen" (S. 68) auf der anderen Seite wird dabei immer mitgedacht. Der Autor weist im Besonderen auf die Hand in Hand gehenden Strategien der EchtheitsERzeugung und der EchtheitsBEzeugung hin (vgl. S. 72 u. passim); die Schaffung von Identität steht dabei auch in Verbindung mit der Kommunikation von Gentechnik als „schwer einschätzbare< > Risikotechnologie (S. 78). Der Beitrag lotet die umfangreichen Dimensionen des Themas in beeindruckender Weise aus und zeigt auf, wie eng verknüpft die Strategien der Generierung von Natürlichkeit und Herkunft mit zentralen Elementen der Massenproduktion und des Lebensmitteleinzelhandels sind: „Standardisierung, Label und Branding, Gefahren- und Risikobewertung." (S. 86)

 

Dezidiert historiographisch ist der Beitrag von Ulrike Thoms zur Geschichte und Entwicklung des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung ausgerichtet. Die Untersuchung richtet sich dabei wesentlich an den Amtszeiten der einzelnen Direktoren des Instituts aus, da Thoms davon ausgeht, dass diese „Selbstvergewisserungs- und Lotsenfunktion" (S. 90) hatten; wie eng dabei die Geschichte von Institutionen an jene staatlich-politischer Strukturen gebunden ist, zeigt nicht zuletzt die unmittelbare Nachkriegszeit, als 1947 die Zweigstelle in Potsdam-Rehbrücke auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration vom Institutsteil in Westberlin getrennt wurde (S. 91). In der Folge stellt Thoms vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und wissenschaftspolitischer Entwicklungen in der DDR dar, wie das DIfE immer wieder neu ausgerichtet und restrukturiert wurde - beispielsweise in Auseinandersetzung mit dem Neuen Ökonomischen System (NÖS) (vgl. S. 99f.). Gleichzeitig verweist der kluge Beitrag auch auf die intrikaten Wechselbeziehungen von Ernährung und Sozialismus, so zum Beispiel im Kontext einer umfassenden „Ernährungserziehung" (S. 103).

 

In eine viel stärker naturwissenschaftliche Richtung gehen schließlich die letzten drei Artikel des Sammelbandes. Christine Bischof untersucht in ihrem Beitrag „Epidemiologische Räume der Wissensproduktion in Europa" die Analysemethoden der Epidemiologie. Diese beschäftigt sich unter anderem mit der Verteilung von Erkrankungen und Sterblichkeitsraten in der Bevölkerung (z.B. mithilfe von Fragebögen oder anderen statistischen Methoden), um daraus Risikoeinschätzungen und Präventionsprogramme abzuleiten (vgl. S. 113ff.). Die Überlagerung ihrer empirischen Befunde mit avancierten kulturwissenschaftlichen Termini (im Besonderen von Michel Foucault, aber auch von Judith Butler) droht dabei den Blick aber mitunter eher zu verstellen als zu schärfen.

 

Hannah Landecker setzt sich in ihrem Aufsatz zur Epigenetik der Ernährung mit der sich verändernden und intensivierenden „Beziehung der Biomedizin zur Nahrung" (S. 135) auseinander. Es geht dabei im Besonderen um die möglichen Auswirkungen von Stoffen, die wir mit der Nahrung aufnehmen, auf Prozesse der Genexpression. In diesen Bereichen arbeitet die Epigenetik der Ernährung zum Teil auch intensiv mit der Umweltepigenetik zusammen, die unter anderem untersucht, wie „Substanzen außerhalb des Körpers lang anhaltende und vererbbare Veränderungen der Genexpression ohne Mutation versuchen" können (S. 159). Als die beiden wesentlichsten Forschungsfelder der Epigenetik der Ernährung definiert Landecker dabei die folgenden: „Diese ist entweder als molekularbiologische Arbeit auf Moleküle, welche die Genexpression kontrollieren, ausgerichtet oder sie untersucht als epidemiologische Arbeit, welche Ernährungszustände beim Menschen mit im Erwachsenenalter auftretenden Erkrankungen korrelieren, wobei dazwischen ein molekularer Mechanismus hypothetisiert wird." (S. 137) Bei aller theoretischen Abstraktion zeigt sich die Epigenetik der Ernährung hier als ein Forschungsfeld, das wohl in der Zukunft immer größere Bedeutung für die Ernährungsforschung und die Nahrungsmittelindustrie gewinnen wird - man denke nur an das Gebiet der Functional-Food-Produkte (vgl. S. 156).

 

Der abschließende Beitrag, „Nutrigenomik. Technowissenschaftliches Fine-Tuning von Nahrung und Körper" von Susanne Bauer, stellt jene Forschungsplattformen und Infrastrukturen in den Mittelpunkt der Betrachtung, die im Zusammenhang mit den Gebieten der „molekulare Epidemiologie, Bioinformatik und Ernährungssystembiologie" (S. 164) von zentralem Interesse sind. Die Bedeutung dieser Branchen zeigt sich dabei nicht zuletzt daran, dass, wie Bauer ausführt, „beträchtliche Ressourcen" in diese boomenden Bereiche investiert werden (S. 167), in denen die Grenze zwischen ‚Farming' und ‚Pharming', zwischen der „Produktion von Nahrungsmitteln und Medikamenten" verschwimmt (ebd.). In der Folge zeigt Bauer anhand von Beeren (S. 172-174) und Äpfeln (S. 174-177), wie Strategien der Nutrigenomik in der konkreten Praxis Anwendung finden. Dabei stellt sie - durchaus kritisch - fest, wie eng im Bereich dieser Form der Ernährungswissenschaften „Industrie wie öffentlich geförderte Forschung <...> miteinander verzahnt" sind (S. 186). In dem instruktiven Beitrag wirkt lediglich der biographische Exkurs zum Besuch der „Nutrigenomik-Woche" 2008 (S. 168-171) etwas deplatziert.

RezEssenInEuropa (48k)

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BAUER Susanne, et al. (Hg.): Essen in Europa. Kulturelle „Rückstände“ in Nahrung und Körper. Transcript, Bielefeld 2010