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STANDAGE Tom: Der Mensch ist, was er isst. Wie unser Essen die Welt veränderte. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Schmidt. Artemis & Winkler Verlag, Mannheim 2010

Markus WEIGLEIN.   

Nahrungsmittel haben einen Einfluss auf die Geschichte. Mehr als man sich vorstellen kann. Auf knapp 270 Seiten, die sich so kurzweilig wie amüsant präsentieren, versucht Tom Standage aber weder einzelne Nahrungsmittel als Schlüssel zum Verständnis der Geschichte zu begreifen, noch die gesamte Geschichte des Essens oder die gesamte Weltgeschichte zusammenzufassen. Vielmehr konzentriert sich der englische Autor und Journalist auf einige wesentliche Schnittpunkte zwischen Nahrungs- und Weltgeschichte. Welche Nahrungsmittel haben die moderne Gesellschaft am meisten beeinflusst? Und wie haben sie dies vermocht? 

 

Standage betrachtet folgerichtig die Geschichte als Abfolge von Veränderungen, die durch das Essen verursacht, ermöglicht oder beeinflusst wurden. Schließlich hat Essen schon immer mehr bewirkt, als nur für Nahrung zu sorgen. Die „Nonfood"-Funktionen sind mindestens ebenso wichtig, denn die Ernährung „ (...) fungierte als Katalysator des sozialen Wandels, der gesellschaftlichen Organisation, des geopolitischen Wettbewerbs, der industriellen Entwicklung, der militärischen Konflikte und der wirtschaftlichen Expansion." (S.7) Jedem dieser in der Einleitung kurz angeschnittenen Phänomene widmet Standage eines der insgesamt sechs Kapitel - übersichtlich in einem knappen Inhaltsverzeichnis aufgelistet. Dabei spannt der Autor einen weiten Bogen: von der Neolithischen Revolution bis in das 21. Jahrhundert - und das keineswegs nur eurozentrisch ausgerichtet.

 

Die ersten Veränderungen, die das Essen bewirkte, schuf die Grundlage für die Entstehung ganzer Kulturen. So ermöglichte das Umsteigen auf die Landwirtschaft neue, sesshafte Lebensweisen und schickte die Menschheit auf den Weg in die moderne Welt. Die Erzeugung von landwirtschaftlichen Nahrungsüberschüssen und die Entwicklung von Nahrungsmittelspeicher und Bewässerungssystemen begünstigte die politische Zentralisierung.  Standage schreibt unter anderem über die Funktion des Essens als Zahlungs- und eben Machtmittel in der Antike und im Mittelalter. Genauso geht er dem Wunsch der Europäer nach, das arabische Gewürzmonopol zu umgehen, was zur Entdeckung der Neuen Welt, zur Eröffnung der Seehandelsrouten zwischen Europa, Amerika und Asien und zur Errichtung der ersten kolonialen Stützpunkte führte. Die florierende wirtschaftliche Entwicklung gipfelte schließlich in der industriellen Revolution, die sich dabei ebenso sehr auf Zucker und Kartoffeln wie auf die Dampfmaschine stützte. Mit den großen Konflikten des 18. und 19. Jahrhunderts erreichte der Einsatz des Essens als „Waffe" laut dem Autor eine neue Dimension. Napoleons Aufstieg und Fall waren etwa auf das Engste mit der Frage verbunden, inwieweit er seine riesigen Armeen ernähren konnte. Hierauf schildert das Buch, wie das Essen während des Kalten Krieges eine neue Rolle übernahm, nämlich die einer ideologischen Waffe, und letztlich sogar zum Ausgang des Konflikts beitrug. Auch das 20. Jahrhundert spart Standage nicht aus: In dieser Phase führte die Anwendung wissenschaftlicher und industrieller Methoden auf die Landwirtschaft - hierbei ist vor allem der Einsatz des Kunstdüngers zu nennen - zu einer dramatischen Ausweitung der Nahrungsversorgung und somit zu einem entsprechenden Wachstum der Weltbevölkerung.

 

Einen Blick in die Zukunft riskiert der Autor ebenso. Standage füttert uns dabei nicht mit den besten Nachrichten: Durch den Klimawandel könnte etwa bis 2080 Indiens Nahrungsmittelproduktion um 30 bis 40 Prozent zurückgehen. Weltweit mag es zu Kriegen um Nahrung kommen. Andererseits könnte es „(...) eines Tages (...) nach einem Atomkrieg, dem Einschlag eines Asteroiden auf der Erde oder irgendeiner anderen globalen Katastrophe notwendig sein, die menschliche Zivilisation von Grund auf neu aufzubauen, und das müsste bei ihrem tiefsten Fundament beginnen: der Landwirtschaft (...) - um den Prozess neu zu starten, der zuerst vor rund 10.000 Jahren im Neolithikum begann." (S. 274) Die Zutaten dazu hätten wir wohl, wie Standage mit einem zwinkernden Auge in seinen ausführlichen Schilderungen über den größten und sichersten Saatgutspeicher der Welt auf der norwegischen Insel Spitzbergen betont - einem Hochsicherheitstrakt, der von Schweden aus per Videoverbindung überwacht und durch Bewegungssensoren rundum geschützt wird.

 

Das gesamte Buch liest sich - charakteristisch für Abhandlungen aus dem anglikanischen Sprachraum - eher wie ein lockerer Essay und weniger wie so manch typisch-trockene, wissenschaftliche Abhandlung aus unseren geographischen Breiten. Hier beherrscht jemand das Journalistenhandwerk: wortgewandt, lehrreich, mitreißend aber auch aktuell, kritisch und gut recherchiert. Bücher über die Ernährung, wie jene von Tom Standage, sind unverzichtbar für die (Geschichts-)Wissenschaft. Denn für alles, was der Mensch bis heute getan hat, für alle Erfindungen, alle Taten, alle Fort- wie auch Rückschritte war Nahrung schließlich buchstäblich der Treibstoff.

RezDerMenschIst (34k)

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STANDAGE Tom: Der Mensch ist, was er isst. Wie unser Essen die Welt veränderte.  Artemis & Winkler, Mannheim 2010