Das Buch reiht sich in eine anspruchsvolle Beck-Reihe von Küchen-Kulturgeschichten ein, jene der deutschen Küche von Peter wurde hierorts bereits besprochen. Insofern liegt die Latte hoch, und der Sinologe und Ethnologe Höllmann überspringt sie eindeutig - wenngleich die Stärken seines Buches anders verteilt sind als die von Peters Buch.
Auf knapp 260 Seiten wird ein kulturhistorisches Panorama chinesischer Ess- und Trinkkultur entfaltet. Dabei reicht das Spektrum von Produktgeschichten, z.B. Alkohol, Gewürzen, Eis, über kulturelle Praktiken, z.B. die Märkte, Geschirrherstellung, das Metzgerhandwerk, bis zu gesellschaftlichen Querschnitten, z.B. über die Ernährung von Reich und Arm, die Regionalküchen und - ja: verspeiste Klassenfeinde, einem Exkurs zu den Berichten und Legenden über Anthropophagie vulgo Kannibalismus in China. Der Autor schmückt die meisten Doppelseiten mit erlesenen (übersetzten) Zitaten aus der weit über 2000 Jahre existierenden schriftlichen Überlieferung Chinas. Das gewährt Einblicke und vermittelt eine Stimmung, die durch die phasenweise eher gelehrig-sachlich daherkommende Formulierung des Haupttextes allein nicht erreicht worden wäre.
Ein Beispiel, das auf die nicht immer strenge Einhaltung der Speisegesetze mit Augenzwinkern anspielt und aus dem Jahr 1101 stammt: „Es gibt buddhistische Mönche, die Alkohol als „Suppe der Weisheit" bezeichnen, Fisch als „auf dem Wasser treibende Blüten" und Hühner als „durch den Zaun wachsendes Gemüse". Welch vergebliches Bemühen! Es dient lediglich dem Selbstbetrug, und die Leute machen sich nur darüber lustig."
Eine große Stärke ist die Aktualität von Höllmanns Recherchen: so geht er etwa auf die kulinarische Situation von den Millionen Menschen zählenden ethnisch-religiösen Minderheiten im Riesenland China ein, er schildert den raschen Wandel der Konsumgewohnheiten in den rasant wachsenden Städten mit westlichem Lebensstil oder er berücksichtigt bereits die Erfolge der entstehenden Tierschutzbewegung, die es im Januar 2010 schaffte, eine erste Gesetzesvorlage zum Verbot von Hunde- und Katzenfleisch entstehen zu lassen. (Rechtsgeltung hat sie anscheinend bis zum heutigen Tag nicht erlangt.)
Gerade kulturhistorisch trifft man immer wieder auf blitzende Details, die sich auch deshalb gut lesen, weil sie Stereotype widerlegen. So war in Chinas Oberschicht Mundhygiene ausgehend von den Gewohnheiten buddhistischer Mönche schon ein Thema - und Zahnbürste sowie Zahnseide erfunden -, Jahrhunderte bevor im zivilisierten Europa die Läuse unter den Perücken auch nur zu jucken begannen. Oder der Weinbau: Er erlebte in Teilen Chinas eine jahrhundertelange Blüte, war aber im 19. Jahrhundert, als die europäische Kolonisierung Chinas massiv begann, weitgehend in Vergessenheit geraten. Etymologische Beziehungen geben Anlass zu der Annahme, dass die Weinbaukultur von Persien ihren Weg nach China gefunden hatte. Das Brauen von Bier hingegen hatte eine lebendige und lange Tradition, die von der neuen Fabrikation im deutschen Stil (Tsingtao 1903) nur abgelöst wurde. Dies alles fand statt, obwohl eine große Mehrheit der Menschen in China eine genetisch bedingte Alkoholunverträglichkeit mitbringt: die Enzyme, die den Abbau von Alkohol im Blut vorantreiben, sind in viel geringerer Menge verfügbar als bei einem/r durchschnittlichen erwachsenen Europäer/-in, ähnlich wie übrigens die Enzyme, die Kuhmilch verdauen helfen.
Interessant auch die Anmerkungen zu chinesischer Küche weltweit. Wussten Sie, dass die berühmten „chinesischen Glückskekse" in den USA erfunden wurden und bis heute weitgehend auch dort produziert werden? Oder dass die weltweit in Chinarestaurants zu findende Zubereitungsart „Chop suey" auch eine Erfindung ist, die auf amerikanischem Boden gemacht wurde? Es finden sich bei Höllmann wenige Anekdoten, umso mehr schmunzelt man, wenn man von dem prominenten chinesischen Gegenwartskünstler Ai WeiWei (documenta Kassel 2007) liest, der stets mit zwei chinesischen Köchen reist und sich u.a. gerne ein Gericht machen lässt, das für ihn „chinesische Hausmannskost" verkörpert: Rührei mit gedünsteten Tomaten. Höllmann kommentiert, dieses Gericht sei erst Ende des 19. Jahrhunderts nach China gelangt. Es geht also nicht nur uns so, dass wir einen gerade mal 120 Jahre alten Schweinsbraten-Brauch schon für altbayerisch-keltisches Kulturerbe halten ...
Insgesamt ist dieses Buch eine wertvolle ergänzende Lektüre, wenn man der Faszination chinesischer Kochstile nachgehen will. Es sind zwar Originalrezepte zum Nachkochen dazwischengestreut. Wer aber erst mit dem chinesischen Kochen beginnt, sollte z.B. parallel mit „Die echte chinesische Küche" von Liu Zihua und Uli Franz einsteigen. Auch für Menschen, die eine Reise nach China planen und an der Kultur des riesigen und vielfältigen Landes interessiert sind, ist das Buch von Höllmann eine empfehlenswerte Lektüre. Und schließlich macht sich der „schlafende Lotos" schön in der Hand, mit einem optisch und taktil reizvollen Pappmaché-Einband à la Chinoise.