Der Ethnologe, Historiker und (!) Schnapshändler Thomas Kochan hat mit dem „Blauen Würger" auf 336 Seiten eine umfassende Analyse des Schnapstrinkens in der ehemaligen DDR verfasst. In vier Kapiteln zeichnet er sowohl den Weg der offiziellen DDR-Alkoholideologie, als auch die nicht immer mit dieser Ideologie deckungsgleiche Trinkkultur im Alltag der stalinistischen Republik nach. Bei der Lektüre des Buches wird die Differenz von Anti-Alkoholkampagnen und tatsächlichem Trinkverhalten, das auch dank der genau geführten behördlichen DDR-Statistiken gut nachvollziehbar ist, immer wieder allzu deutlich. Schließlich war die DDR am Ende ihrer Existenz sogar Weltmeister beim durchschnittlichen Spirituosenkonsum pro Kopf.
So beschreibt Kochan anhand zahlreicher offizieller Dokumente der politischen Führung, Artikeln aus Fachzeitschriften und Propagandabroschüren, die Mystifizierung des Alkohols im Sinne pädagogischen Abstinenzlertums. Seine weit verzweigten Nachforschungen stellen unter anderem dar, wie Transformationen von gastronomischen Etablissements eingeleitet und ideologisch begleitet wurden, etwa wenn klassische Stadtteilkneipen zu Milchbars umfunktioniert werden sollten. Dass diese, von der staatlichen Verwaltung initiierten Projekte, mal mehr, häufig aber weniger erfolgreich verliefen und eigentlich nie beendet wurden, ist kennzeichnend für vieles, was unter Ulbricht und Honecker eingeleitet wurde. Oder wenn die DDR-Bevölkerung mindestens zum alkoholischen Maßhalten, besser noch zum Verzicht aufgefordert wurde, gleichzeitig aber die Schnapsindustrie einer der wenigen Zweige der DDR-Wirtschaft war, der kontinuierlich erfolgreich funktionierte und in den staatlichen Supermärkten nie Mangel an harten Alkoholika herrschte. Oft muss man schmunzeln, gelegentlich sogar lachen, hin und wieder Stirnrunzeln, ob der vielfach absurden Geschichten, die Kochan fundiert recherchiert hat. Doch der Autor setzt die DDR-Trinkkultur auch in einen größeren historischen Rahmen, beispielsweise wenn er zeigt, dass die „sozialistische Branntweinphobie" (S. 90) schon im Kaiserreich wurzelt.
Ergänzt durch eine Reihe von mit Zeitzeugen geführten Interviews beinhaltet das Buch eine ebenso unterhaltsame wie eindrucksvolle Sozialstudie des DDR-Milieus. Dies gibt ferner Aufschlüsse über die Gegenwartsgesellschaft, da immer wieder Vergleiche zwischen dem Alltag in der DDR und dem bundesrepublikanischen Alltag gezogen werden. Dann zeigt sich auch die Wirkmächtigkeit kultureller Strukturen für das Leben des individuellen Menschen, sei es, dass es sich in Kollektivgesellschaften unverkrampfter trinkt als unter Konkurrenten im Kapitalismus (S. 164) oder dass das, was „in der DDR in Ordnung war, Spaß machte und dazu gehörte, <...> heute deplatziert sein" kann (S. 165).
Dass vorzüglich geschriebene Buch lässt nur selten und zwar dann Skepsis aufkommen, wenn der Anti-Marxismus einen Tick zu einfach daherkommt: „das war marxistische Theorie und damit Murks" (S. 113). In einem Nebensatz wird die These aufgestellt, dass es „entgegen jeder ökonomischen Vernunft" sei, „sich die existentielle Grundsicherung aller Bürger auf die Fahnen" zu schreiben (S. 177). Ein solches ad hoc formuliertes politökonomisches Dogma passt hier eigentlich nicht rein.
Überhaupt nicht schädlich, ja sogar sehr erfrischend hingegen ist es, dass man dem Autor immer mal wieder seine, als fachlicher Kenner und Liebhaber von Spirituosen, persönliche Involviertheit in die behandelte Thematik anmerkt. Beispielsweise bereitet es ihm sichtlich Magengrimmen, wenn er den Fauxpas der ehemaligen Chefredakteurin der „taz" lesen muss, die „den faden Allerweltswhisky Johnnie Walker zum gehobenen >Gentleman-Getränk< erklärt" (S. 84). Unterhaltsam auch, wie er eine Verteidigungsrede des aromatisierten Klaren formuliert, indem er vorrechnet, dass die Rauschwirkung gegenüber Wein und Bier überschätzt wird und Schnäpse zu Unrecht einen eher schlechten Ruf genießen (S. 137f.).
Für alle die Weiterlesen oder auch einzelnen Aspekte genauer nachspüren wollen, bietet das Buch als Bonus ein ausführliches Literaturverzeichnis. Sowohl privat Motivierte, als auch die Alkoholforschung können hier Anknüpfungspunkte finden.