LOOS Adolf: Hummer unter der Bettdecke. Delikates über den guten Geschmack. Hrsg. und kommentiert von Markus Kristan. Metroverlag, Wien 2011
Barbara MORINO.
Geschmacksache
Die Küche ist eine Art angewandte Kunst und die Kunst des Essens ist eine Lebenskunst, vor dem Hintergrund des jeweiligen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Zeitgeist. A. Loos ist ein typischer Vertreter seiner Zeit. Zwischen seiner eigenen Lebensweise und seinen architektonischen und kulturellen Postulaten gibt es erhebliche Widersprüche. Er lehnt Schnörkel bei anderen ab und assoziiert den kulturellen Fortschritt mit dem Weglassen von Ornamenten bei Gegenständen des täglichen Gebrauchs, seine eigene Architektur aber ist oft reich verziert. Auch sein kulturphilosophisches Gedankengebäude ist nur theoretisch und für andere gültig. Er erhebt die Entsorgung von Kirschkernen bei Tisch zur Maxime, ernährt sich selber aber jahrelang mit Obers und Schinkendiät und kennt vor sexuellem Missbrauch Minderjähriger keine Zurückhaltung. Gleichzeitig ist er besonders in Etikettefragen äußerst penibel, ständig mit Vergleichen zur Stelle und erhebt Geschmack in jeder Hinsicht zur Tugend und den guten Geschmack zu einer ethischen Kategorie. Seine Ansichten stellen idealisierte Geschmacksethik in Gegensatz zum subjektiven Geschmacksbegriff.
Loos Forderungen nach Verwendung von edlen Naturprodukten in allen Lebensbereichen: in der Architektur, in der Mode, in der Ernährung und nach einfachen Kochvorgängen, sind nach wie vor aktuell, immer noch gültig und bei weitem noch immer nicht realisiert, nicht zuletzt deshalb, weil die Verwirklichung einer weltklugen Lebenskunst auch bezahlt werden will.
Das Buch gibt kulturgeschichtlich wie psychologisch äußerst eindrucksvolle Einblicke. Es lässt die große Kluft zwischen Ästhetik und Ethik in einer Person sichtbar werden. Einmal mehr wird auch die Ambivalenz des österreichischen/wiener Charakters deutlich: die Liebe zum Eigenen, und dessen gleichzeitiger Ablehnung als „Mehlspeisgfrießer". Das erklärt vielleicht auch zum Teil, wie ein Hummer, noch dazu in Tomatensoße, unter eine schmutzige Bettdecke gerät.
