Der Tiroler Schriftsteller, Volkskundler und Alpenaktivist Hans Haid hat dem Schaf ein ganzes Buch gewidmet - eine Kulturgeschichte. Bei der ersten Orientierung in dem Werk, das ohne Einleitung und Schluss auskommt, wird klar, wie Kulturgeschichte gemeint ist: Es geht nicht um das neue Forschungsparadigma der Geschichtswissenschaften seit den 1990ern, sondern um eine möglichst umfassende Darstellung des Themas in Religionsgeschichte, Mythen, Sagen und den Schönen Künsten bis hin zum Volkskundlichen (Schäferbräuche) und Praktischen (Schafrassen, Schafprodukte). Vor der eigentlichen Lektüre fragt man sich also, ob der Autor ein buntes Sammelsurium zum Thema Schaf bietet, das ohne inneren Zusammenhang auskommt?
Das Gegenteil ist der Fall. Die Schrift Haids ist ein klares Beispiel dafür, dass ein Ansatz, der innerhalb der engeren Fachwelt seit Jahrzehnten kritisiert und ausgemustert wurde, in populärwissenschaftlichen Darstellungen weiter Urstände feiert. Es geht um die sogenannte Grimm'sche Mythologie, die die entstehende Volkskunde im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit der Grundannahme geprägt hat, dass im bestehenden Brauchtum Wurzeln zu erkennen seien, die bis in die vorchristliche Zeit zurückreichen. Diese heidnische Vorzeit sei bevorzugt über Märchen und Sagen zu rekonstruieren und dabei seien immer auch die Ähnlichkeiten zu den anderen bekannten Religionen der Welt zu beachten. Das gelehrte Ergebnis dieser Schule war das „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens" (1927-1942, HDA), das noch in jedem lokalen Brauch eine mythologische Bedeutung fand. In der Nachkriegszeit kehrte sich das Fach von den Kontinuitätsannahmen der Grimm'schen Mythologie ab. Durch die Arbeiten von Forschern wie Wolfgang Brückner, Dieter Harmening und Christoph Daxelmüller aus den letzten Jahrzehnten ist gut belegt, dass vermeintlich uralt-heidnische Bräuche vielmehr aus der Aneignung der christlichen Liturgie entstanden sind. Auch bei der Auswertung von Sagen und Märchen wurde verstärkt auf deren Aufzeichnung im 19. Jahrhundert und dabei vorgenommene Verformungen und Veränderungen hingewiesen.
Hans Haid allerdings ist ein unbeirrter Verfechter des mythologischen Ansatzes, der vor allem darauf beruht, von Formähnlichkeiten auf Wesensähnlichkeiten zu schließen. Sein mythologischer Anfangsverdacht entsteht aus der an sich richtigen Beobachtung, dass das Schaf in der Bibel konträre Rollen einnehmen kann - mal das fromme Lamm, mal das Lamm der Apokalypse, das gegen den Antichrist antritt und am Ende siegt. Vom Lamm kommt Haid zum Widder, und mit Unterstützung des HDA auf die Spur eines Widderkultes. Nachrichten über ein in die Kirche integriertes Widderopfer in Osttirol sind daher natürlich uralte Kulthandlungen, die eigentlich der Muttergottheit gewidmet seien. Unter dieser Prämisse ist alles mythologisch verwertbar. So heißt es anschließend bei der Beschreibung eines Festes, bei dem Widderkämpfe veranstaltet wurden: „Möglicherweise ist auch das Rangeln junger Burschen beim Gauderfest auf den Widderkult zurückzuführen: Sie werfen wie hochverehrte ‚Talwidder' einander auf den Boden; und auch da gibt es Sieger und Verlierer." (S. 49) Die obligatorischen „heiligen Quellen" im Ötztal dürfen in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Und auch so mancher Schäferbrauch wird auf ein Fruchtbarkeitsritual zurückgeführt.
Spuren der „uralten Kulte" findet Haid auch in der Heiligenverehrung - das Christentum ist gut Grimm'sch nur ein dünner Firnis. Er referiert die Beispiele von Menschen, die Marienerscheinungen hatten und heute von der katholischen Kirche verehrt werden (die heilige Bernadette Soubirous in Lourdes und die seligen Geschwister Francisco und Jacinta Marto in Fatima). Da die Muttergottes ihnen in einer Bergszenerie von Schafweiden, Felsen und Höhlen erschien, vermutet der Autor, „dass es sich um sehr alte vorchristliche Kultstätten handeln könnte" (S. 79). Die Möglichkeit, dass Marienerscheinungen von kulturellen, letztlich biblischen Codes geprägt sind, wird nicht in Betracht gezogen. So könnte man überlegen, inwieweit etwa der Bericht der Evangelien von der leeren Grabhöhle Jesu hier die Erlebnisse modelliert haben könnte (Luk 24). Auch in den Teilen des Buches, in denen es um Schafrassen, ihre Krankheiten und die vom Menschen genutzten Produkte geht, kommt Haid immer wieder auf mythologische Bezüge und Deutungen zurück, die hier nicht alle aufgeführt werden können.
Hans Haids Denken ist geprägt von der Sorge um die Natur, vom Tierschutz und von der Bewahrung des kulturellen Erbes. Hier schließt sich der Kreis, denn sowohl die romantische Schule der Mythologie als auch viele der angeblich uralten Bräuche entstanden erst als Reaktion auf Moderne und Industrialisierung, wie man etwa von der englischen Invention-of-tradition-Schule lernen kann. Es ist angesichts dessen fast paradox, dass die Erzählung von dem hohen Alter heutiger Bräuche so begierig von der Tourismusindustrie aufgegriffen wird, die ja selbst eine moderne Entwicklung darstellt.