Lojze Wieser, hier in Personalunion Verleger und Coautor, hat ein robustes, schön rot gebundenes Büchlein mit dicht bedruckten 221 Seiten vorgelegt. Es beinhaltet einen Spaziergang - nein: eine Parforcejagd durch kulinarische Geschichten, Traditionen, Stile, Regionen Europas samt Teilen der Türkei und Russlands. Ein schönes Beispiel, wie sich gelehrter Hintergrund und eigene Reiseerfahrung mit Koch- und Essfreude verbinden, ist etwa die Geschichte samt Rezepten von den zwei pizzaartigen Germteigbroten, die auf den kroatischen Inseln Vis und Hvar zubereitet werden: ihre Urahnen sind, praktisch ohne Veränderung, altgriechische Fladenbrote mit speziellen Belägen, etwa Zwiebeln und gesalzener Fisch und Olivenöl, oder Ziegenkäse und Oliven und Kräuter.
Immer wieder findet neben Festtagsgerichten auch die Arme-Leute-Küche Erwähnung und Erklärung: seien es die Speisen, die von Litauen bis in den Balkan aus Buchweizen zubereitet wurden (unter Namen wie „Hadnsterz", Kascha, ...), sei es die massenhafte Verwendung von Kartoffel, Maisgries und Hering, sei es die notorische Fettknappheit, sei es die verbreitete Kultur der natursauren Vergärung von Lebensmitteln, etwa zu Sauerkraut, Rüben, Sauerrahm oder sei es das Aufgreifen aufwendiger Zubereitungen aus billigen Zutaten wie etwa Kutteln - hier von einem toskanischen Rezept inspiriert.
Erzählt wird von den Varianten von Piroggen, dem serbisch-bosnischen Streit um die Urheberschaft der Cevapcici, der mulitkulturellen Mahala-Wohnkultur im Sarajevo bis 1914, dem Einfluss der Maghreb-Küche auf osteuropäische Rezepte etwa bei der Verwendung von Blüten-Eingemachtem, den Vorzügen des vorbereiteten Knoblauchauszugs beim Wurstmachen, einer fruchtbarkeitsbezogenen Magie beim weihnachtlichen Kärntner Hauswürstelessen, erzählt wird von finnischen Fleischbällchen mit Salzkartoffeln und Preiselbeermarmelade (die die Leserin stark an die beim IKEA-Restaurant-Besuch unvermeidlichen Köttbullar erinnern), von der Etymologie des süddeutschen „Kren", von der Verwendung des Stockfisches in verschiedenen Kochtraditionen ... und von so vielem vielem mehr.
Womit die Rezension bei den Stärken und Schwächen des Buches angelangt ist: Die hauptsächliche „Schwäche" besteht darin, dass es zu viel Stoff für zu wenig Buch ist - es wäre genug, um daraus - wenn man träumen darf - mehr zu machen: drei Bände, in denen noch mehr Kulturgeschichtliches samt Literarischem, Essayistischem, Beobachtetem Platz hat, die vielen Rezepte mit Bildern aufgewertet, auch sonst Bilder ... und ein sorgfältigeres Korrektorat: so fehlt etwa im Literaturverzeichnis ein im Buch häufig zitiertes Werk von Salcia Landmann. Dem Parforceritt geschuldet dürften auch manche Druckfehler sein, wobei der durchaus vorhandene humoristische Mehrwert für das Stolpern beim Lesen vollauf entschädigt: einmal wird z.B. als Zutat „Wacholder geschrottet" empfohlen (p. 168), ein andermal heißt es vollmundig: „Die fertigen Bällchen mitsamt am Pfannenhoden haftenden Zwiebelstückchen in einen Topf mit schwerem Boden gehen" (p. 94).
Eine unzweifelhafte Stärke ist die unglaubliche Vielfalt kulinarischer Kultur und deren transkultureller Verknüpfungen, die von Wieser und seinen kundigen Mitautoren (Barbara Maier und dem leider ein Jahr nach dem Buch, 2010, verstorbenen Christoph Wagner) offenbart wird. Man bekommt ungeheuer Lust auf solch ein reiches, offenes kulinarisches Europa.