Das 826 Seiten umfassende Werk will die „Legende" beenden, dass die Deutschen „traditionell ohne Lebensart seien...". Ganz und gar in der Linie und Haltung von Kulturgeschichten des 19. Jahrhunderts geht es los in „der germanischen Vorzeit, über die römischen Wurzeln... das keltische Erbe bis in die Großstadtkultur der Gegenwart". Der Grundgedanke mutet geradezu wilhelminisch an, dass die Deutschen auch in Lebenskunst neben den anderen Nationen stehen könnten, wenn sie nicht diese zu mindestens manchmal auch überträfen.
Der Anspruch des opus ist sichtlich gewaltig - doch die Ausführung lässt mehr als zu wünschen übrig. Seitz bewegt sich in den Bahnen einer antiquitierten, positivistischen Kulturgeschichte, die man für überwunden hielt. Der Begriff „Kultur" wird nirgends diskutiert. Die seit einigen Jahrzehnten erreichten Erkenntnisgewinne der Kulturgeschichtsforschung blieben unberücksichtigt. Fröhliche Urstände feiern auch „Die Deutschen", wie anno dazumal werden sowohl die Germanen, die Kelten als auch die Franken dazu gerechnet. Wer aber sind nun „die Deutschen"? Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis macht es deutlich: Karl der Große, Ludwig der Deutsche, Otto der Große, Friedrich Barbarossa, Ludwig der Bayer, Katharina Luther, Leopold I., der Alte Fritz und natürlich Otto von Bismark, dazu das Berliner Großbürgertum. Kleine Leute, bürgerliche Schichten, demnach 99 % der Bevölkerung kommen nicht vor. Lange Textpassagen stehen da, übernommen aus den deutschen Übersetzungen mittelalterlicher Schriftsteller, mit ungenügenden bibliographischen Angaben. Serienweise wird auch noch „zitiert nach..." oder mit „vgl." verwiesen. Es liest sich, als ob ein Pasticcio mit Brocken aus Überblicks- und Einführungswerken, samt zusammengesuchten Quellenstückchen zusammengeschnipselt wurde. Was die selbstgepriesene „elegante Stilisierung" angeht, sei exemplarisch auf S. 241 hingewiesen: „natürlich war Heinrich IV. auch in jungen Jahren viel unterwegs und lag nicht auf der faulen Haut." Die Passage halte ich für exemplarisch für Stil und Werk. Seine gewollt witzige, gelockerte Schreibweise hält der Autor wohl für unterhaltsam. Pflichtbewusst habe ich mich durch ein gestriges Buch gequält.