„Ein hinreißendes Buch", erfährt man auf der Rückseite des Umschlags, sei nach Auffassung der „Spiegel"-Rezensentin Julia Koch das neue Buch des Anthrozoologen Hal Herzog „Wir streicheln und wir essen sie. Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren" (Original: „Some we love, some we hate, some we eat. Why it's so hard to think straight about animals"). Und weiter heißt es da, dass man nach der Lektüre dieses Buches über Mensch-Tier-Beziehungen „nicht nur anders über Tiere, sondern auch über sich selbst" denken werde. Beides scheint mir fragwürdig.
Herzog, Professor an der Western Carolina University, ist - so der Klappentext - Mitbegründer der Anthrozoologie und „führender Experte für Mensch-Tier-Beziehungen" (also für Anthrozoologie), was wohl durch die Information unterstrichen werden soll, dass er mit seiner Frau „und ihrer Katze Tilly" in den Great Smoky Mountains lebe und mit Huhn im Arm abgebildet ist. Aber gut, so viel Marketing ist sicher legitim.
Richtig ist auf alle Fälle, dass Herzogs Buch, das er als seinen Versuch definiert, die zahllosen Paradoxa in unserer Einstellung gegenüber Tieren zu klären (S. 22), ein „Parforceritt durch das ethische Minenfeld der Mensch-Tier-Beziehungen" ist. Dieser Ritt beginnt mit der Frage, wieso es so schwer sei, klar über Tiere zu denken (S. 9) und endet mit der Erkenntnis, dass unser Verhalten und unsere Beziehung zu Tieren „komplizierter ist als gedacht" (S. 271). In den gut 260 Seiten dazwischen erfährt man Grundlegendes über die Anthrozoologie als die „neue Wissenschaft der Interaktion zwischen Mensch und Tier" (S. 23), dass Delphintherapie a) höchstwahrscheinlich medizinisch wirkungslos und zudem b) Tierquälerei ist, über die lange Geschichte der Hundezucht und die komplexe, kulturrelative Mensch-Hund-Beziehung, die Frage, ob das Geschlecht relevant ist für die generelle Einstellung gegenüber Tieren sowie in Fragen des Tierschutzes, dass das Persönlichkeitsprofil von Katzenliebhabern sich von dem von Hundeliebhabern unterscheidet (wenn auch geringfügig), über die „verhältnismäßige Grausamkeit von Hahnenkämpfen", das immens spannungsgeladene und ernährungsethisch zentrale Thema „Fleisch essen" und den moralischen Status von Mäusen als Versuchstieren, der in paradoxer Weise davon abhängt, ob die Tiere im Käfig bleiben („gute Mäuse") oder dem Käfig entkommen („böse Mäuse").
Im abschließenden Kapitel „Der fleischfressende Unhold in uns allen" argumentiert Herzog schließlich, dass man in Fragen der Moral weder dem Kopf (bzw. der rationalen Logik) noch dem Herzen trauen solle, da beide in die Irre führen könnten, weshalb wegen des Fehlens eines absoluten, für alle gleichermaßen gültigen Maßstabs schlussendlich jeder individuell für sich entscheiden müsse, wie er das „paradoxe Verhältnis zu anderen Gattungen" lebenspraktisch gestalten wolle. Ein, so Herzog, unausweichlich widersprüchliches Verhältnis, das nach seiner Einschätzung „die unvermeidliche Folge eines ewigen Tauziehens zwischen dem rationalen Teil und dem Unhold in uns ist" (S. 262). Im Grunde ist es also beliebig, wie man dieses Verhältnis für sich bestimmt und gestaltet - „eine Begründung gibt es immer". Und so konstruieren sich eben Kampfhahnzüchter „eine moralische Rechtfertigung auf der Grundlage von Wunschdenken und einer Logik, die Hahnenkämpfe völlig akzeptabel macht" (S. 177), während PETA-Aktivisten sich eben eine andere Moral zurechtkonstruieren - homo mensura.
Herzog selbst gesteht seinem „Unhold" u.a. zu, dass „der hervorragende Geschmack einer langsam geschmorten Schweineschulter den Tod des Schweins irgendwie rechtfertigt" (S. 271) - was aber nicht immer so sein muss, da seine Moralvorstellungen sich ändern können und er womöglich demnächst wieder andere Vereinbarungen mit jenem „Unhold" treffen wird.
Keine Frage, das Buch ist - zumindest für den, der sich mit der Thematik noch nicht näher befasst hat - kenntnisreich und informativ, es beleuchtet eine Vielfalt von Aspekten der Mensch-Tier-Beziehungen und stellt auch durchaus ernsthaft die Frage nach den komplexen moralischen/ethischen Dimensionen dieser Beziehung. Aber genau deshalb erscheinen mir- abgesehen von der überreichlichen narrativen Ornamentik (spielt es für die Tier-Mensch-Beziehung eine Rolle, ob man auf dem Highway 9 jenseits der Clear Branch Baptist Church eine halbverfallene Scheune und ein Feuerwehrhaus passiert?) auch etliche Punkte in Herzogs Buch bedenklich, manche sogar nachgerade unglaublich.
So ist grundsätzlich zu fragen, was im Hinblick auf die Paradoxa unserer Einstellung gegenüber Tieren mit einem Buch „geklärt" ist, das in der These mündet, unsere Einstellungen gegenüber Tieren seien nun mal paradox, sie seien es sogar unweigerlich, weil „unser Denken eine wilde Mischung aus Instinkt, Gelerntem, Sprache, Kultur und Intuition ist und weil wir uns gerne auf menschliche Abkürzungen verlassen" (S. 47).Unsere Einstellung zu Tieren ist paradox, weil unser Denken paradox ist -welche Erkenntnis! Zudem stellt sich im Hinblick auf die abschließende „sophistische" These von der radikalen Subjektivität des moralischen Abgleichs zwischen Ratio und „Unhold" natürlich die Frage, ob sie nicht ihrerseits rein subjektiv ist, die ganz persönliche Meinung des Herrn Professor Herzog - aber warum sollte sich dann beispielsweise ein radikaler Tierschützer dafür interessieren, welche Relevanz hat sie für ihn, außer dass sie ärgerlich sein mag?
Bedenklich ist nicht zuletzt Herzogs Umgang mit dem Thema „Vegetarismus". So berichtet er ganz am Anfang des Kapitels „Lecker, gefährlich, eklig und tot - das Verhältnis des Menschen zum Fleisch" (S. 191 ff.) von einer (!) „tief in den Bergen" von North Carolina lebenden attraktiven Frau Anfang 40 mit italienischen Vorfahren, die man, wenn man sich mit ihr unterhält, „immer anlächeln" will (was tut das zur Sache?). Diese energiestrahlende Frau war aber „nicht immer so fit", sondern hatte nach 12jähriger vegetarischer Ernährung „unter Blutarmut und chronischem Erschöpfungssyndrom" sowie zweistündigen Magenschmerzen nach jeder Mahlzeit zu leiden (S. 191). Aber dann änderte sie ihren Ernährungsstil - eine Portion rohe Rinderleber zum Frühstück - und siehe da, sie strahlt und Herzog möchte sie immerzu anlächeln. Na wenn das kein „Beweis" ist ...
Etwas später erfährt man von einer (!) Harris-Umfrage, der zufolge sich insbesondere weibliche Teenager vegetarisch ernähren, „die Gruppe also, die besonders empfindlich für Essstörungen ist" (S. 215). Zudem belege eine finnische Studie, „dass Vegetarierinnen nicht nur verstärkt zu Essstörungen neigen, sondern auch zu Depressionen, außerdem verfügen sie über ein schwaches Selbstwertgefühl und haben eine negativere Weltsicht als Nichtvegetarierinnen" (S. 216). So etwas ist, auch wenn es sich bei Herzogs Buch nicht um eine wissenschaftliche Studie im strengen Sinne handelt, und auch wenn er ein knappes Unterkapitel den „Gefahren des Fleischverzehrs" (S. 197 ff.) widmet, wissenschaftlich zumindest stark verkürzt, unsauber und suggestiv. Wissenschaftlich nicht weniger unsauber ist Herzogs Behauptung, die Vorstellung, dass man zum Vegetarier werde, wenn man die Tiere selber schlachten müsse, sei dadurch „widerlegt" (S. 206), dass Studenten des Warren Wilson Colleges Rinder von der eigenen College-Farm selbst geschlachtet hätten, ohne Vegetarier zu werden. Das ist sogar eher plump. Aber zweifellos sind solche „Beweise" bestens geeignet, Herzogs innerem „Unhold" zu signalisieren, es sei völlig okay, weiterhin guten Gewissens Fleisch zu fressen.
An manchen Stellen von Herzogs Buch reibt man sich regelrecht die Augen, weil man nicht glauben kann, was man da gelesen hat. So heißt es z. B. auf S. 207: „Den Vorgang, bei dem aus einer neutralen Neigung etwas Unmoralisches wird, nennt man Moralisierung. Die öffentliche Haltung zur Sklaverei wurde moralisiert <...>". An dieser These hätte sich womöglich sogar Nietzsche verschluckt: Die Sklaverei war/ist eigentlich ein moralisch völlig neutrale Angelegenheit/Neigung, die halt irgendwann „moralisiert" wurde - es bleibt zu hoffen, dass sich die „Mode" nicht demnächst wieder ändern wird.
Mein persönlicher Favorit der Unglaublichkeiten in Herzogs Buch findet sich jedoch am Ende seiner Auseinandersetzung mit der „verhältnismäßigen Grausamkeit von Hahnenkämpfen" im Abschnitt „Hahnenkämpfe und Moral" (S. 189 f.). „Verhältnismäßig" grausam sind die Hahnenkämpfe, weil die Züchter ihre Hähne zwar bei den Kämpfen in den (möglichen) Tod schicken, diese aber zuvor im Vergleich mit Masthähnchen in der Industrie ein geradezu paradiesisches Leben hatten, von ihren Haltern geradezu „geliebt" wurden. Und da heißt es dann: „Viele Kampfhahnzüchter, die ich im Laufe meiner Recherchen kennenlernte, waren sympathische Menschen, doch wie die Sklaverei ist der Hahnenkampf ein grausamer Anachronismus, der sich nicht rechtfertigen lässt. Es ist an der Zeit, dass die Anhänger der Hahnenkämpfe die Arenen schließen und die Metallsporne gegen <...> Sportfischerboote eintauschen" (S. 189). Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Leute, hört endlich auf, Tiere zu quälen - geht Tiere quälen!
Ist dieses Buch „hinreißend"? Ich finde nicht. Verändert es die Denkweise über Tiere und auch über sich selbst? Ich finde nicht, aber das muss wohl jede Leserin / jeder Leser für sich selbst entscheiden.
Mein Fazit: Der „führende Experte für Mensch-Tier-Beziehungen" will ein Buch verkaufen - that's it.