In seinem Vorwort weist Harald Lemke auf einen Ausspruch des englischen Philosophen Alfred Whitehead hin, wonach „die ganze Philosophiegeschichte eine Fußnote zu Platons Denken" sei (S. 7). Der vorliegende Band bestätigt dies in den meisten seiner Artikel, sowohl was die Diskurse über die antike Philosophie betrifft, als auch durch den recht elaborierten Duktus mancher Artikel.
Iris Därmann, Kapitel über „die Tischgesellschaft", legt die Anforderungslatte für die Leser gleich einmal hoch mit der klassischen - griechischen - Definition des Menschen (ohne Übersetzung, merkwürdigerweise aber in lateinischen Buchstaben - wenn schon ...). Weitere lateinische, französische Zitate bleiben größtenteils unübersetzt. Ohne Fremdsprachenkenntnisse, ohne philosophisches Grundwissen endet die Lektüre bald. Das ist schade, denn die Texte geben nicht nur Anregungen, sondern auch Stoff für Diskussionen, doch diese werden sich im kleineren Kreise der verbliebenen Rezipienten abspielen. Denen werden die platonischen Vorstellungen über Essen wohl schon bekannt sein.
Bernhard Waldenfels, Kapitel „Fremdspeise. Zur Phänomenologie von Essen und Trinken", führt Motive ins Feld, warum Speise und Trank in der Philosophie kaum berücksichtigt wurden: weil Essen und Trinken zu den animalischen Lebensnotwendigkeiten, zur Selbsterhaltung gerechnet wurden, siehe Platon. Die Tafelfreuden dienten auch dazu, beim gemeinsamen Mahl zu philosophieren. Jeder Tischgesellschaft aber wohne eine gewisse Fremdheit inne. Die Tischordnung bewege sich zwischen einer extremen Zwanghaftigkeit und Beliebigkeit. Denn keine Tischgesellschaft sei vollständig, es gebe Abwesende und Überzählige, damit eine permanente Beunruhigung.
Gerhard Baudy, Kapitel „Zum Brot essen verdammt - durch Brot erlöst. Die Sakralisierung der Getreidenahrung im Rahmen der „neolithischen Revolution" und ihre ambivalente Bewertung im Mythos der Antike". Baudy behandelt die unterschiedlichen Mythen, etwa vom Pessachfest sowie von Brot- und Korngöttern, Adonis, Osiris, Jesus und die Frage, wie aus Wildbeutern Ackerbauern wurden. Gemeinsames Motiv sei die Leiche eines mythischen Kulturbringers, aus dessen Tod und Sterben die Früchte als Kulturpflanzen erwüchsen. Im Hintergrund sieht Baudy die Frage nach der Ernährung der Toten durch die Lebenden, die Definitionen des Totenkults. Den Toten sei Getreidesamen in die Gräber gegeben worden, als dieser aufging, wurde das interpretiert, als ob diese die Lebendigen mit Nahrung versorgten. Aussaat und Ernte entsprechen damit einem Gabentausch zwischen Lebenden und Toten.
Iris Därmann, Kapitel „Platons politische Philosophie des Fleischesseropfers", interpretiert den Dialog „Gorgias" und Platons Abrechnung mit der zeitgenössischen Kochkunst.
Kurt Röttgers, Kapitel „Die fehlende Kritik der kulinarischen Vernunft", geht darauf ein, dass in Kants Werken mehrere Desiderate festgestellt wurden, eines der historischen Vernunft, eines der sozialen, eines der selektiven, eines der bildlichen und eines der kulinarischen Vernunft. Er fragt im Folgenden, warum diese Teile fehlten. Die angemahnte Sozialphilosophie war in Kants Augen eine unmögliche Unternehmung und unterblieb somit. Für die Kritik der kulinarischen Vernunft gab es Vorarbeiten, etwa hinsichtlich einer Ästhetik (kochen: wie was wer), einer Analytik (was und das noch differenziert), einer Dialektik. Es sind Ansätze, die dann im später noch besprochenen Werk von Röttgers ausgeführt sind.
Tobias Nikolaus Klass, Kapitel „Veredelnde Inoculation: Nietzsche und das Essen", greift Nietzsches Forderung auf, den „schauerlichen Leichtsinn" bei „Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diätet" aufzugeben.
Marianne Schuller, Kapitel „Zu Gericht sitzen. Vom Essen und Trinken in Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug", zeigt in tiefschürfender Analyse die doppelte Bedeutung des Wortes „Gericht" von „Richten" und von „Anrichten"; leuchtet den Rechtshintergrund, den Übergang von der schriftlichen zur mündlichen Prozessführung, aus, und das Modell des Inquisitionsprozesses, und mit Bezug auf Freud die Moralität.
Gerhard Neumann, Kapitel „ Louis Malle/Jean-Claude Carrière: Milou en Mai. Nahrungskette und narrative Struktur", analysiert den Film aus dem Jahr 1989, der im Jahr 1968 und vor dem Hintergrund der damaligen Studentenunruhen und der Flucht des Präsidenten Charles de Gaulle spielt. Er zeigt den Zusammenhang von „Nahrungskette und narrativer Struktur". Diese umfasst 15 Stationen von der Nahrungszubereitung über den Verzehr bis zur Verdauung. Dahinter steht die alimentäre Geschichte der europäischen Kultur, die sich immer wiederholt. Die Mahlzeit und ihre Rituale zeigen Natur und Kultur, Ordnung und Anarchie.
Tadaschi Ogawa, Kapitel „Essen und Atmosphäre. Zur Atmosphäre der klassischen Kioto-Gastronomie als Beispiel für Slow Food". Unter Einbeziehung der Philosophie Edmund Husserls legt er eine Phänomenologie der Esskultur am Beispiel der Kioto-Küche dar. Die langsam genossene Mahlzeit, also Slow Food, wird unter Rückgriff auf Aristoteles „als der Vollzug einer selbstzwecklichen Tätigkeit" dargelegt. Langsames Essen konzentriert sich auf die Nahrung, aber auch auf die ganze Atmosphäre. Das ist dann ein umfassendes Kulturphänomen, „das sowohl die natürliche Umgebung als auch das kulturelle Leben der Menschen abbildet und beeinflusst".
Harald Lemke, Kapitel „Welt-Essen und globale Tischgesellschaft. Rezepte für eine gastrosophische Idee von Politik", stellt die Frage, was ein gutes Leben ist und wie wir leben wollen. Es geht darum, unser auch in moralischer Hinsicht schlechtes Essen zu verändern, im Hinblick auf eine globale gute Ernährung. Angesichts der Globalisierung, der gegenwärtigen Probleme bei der Ernährung braucht es eine interdisziplinäre Vorgehensweise, um alle relevanten Facetten zu berücksichtigen. Weil alle Diskurse wertbesetzt seien, brauche das gastrosophische Denken eine zu bildende normative Theorie.