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HASLINGER Ingrid: Tafelspitz & Fledermaus. Die Wiener Rindfleischküche. Mandelbaumverlag, Wien 2005

GEBHART Werner.   

Die heile Welt des Tafelspitz
Ingrid Haslinger präsentiert auf 176 Seiten eine „Kulturgeschichte der Wiener Rindfleischküche mit angeschlossenen Rezepten", allerdings geht es ausschließlich um das gekochte Rindfleisch, die ebenfalls typisch wienerische Rostbratenküche wird leider ignoriert. Der Leser erfährt Wissenswertes und Amüsantes von österreichischen und ungarischen Ochsen, von Speisefolgen und Rindfleischpreisen. Die Autorin behandelt die spezielle Wiener Zerlegung des Rindes und die Auswahl der geeigneten Fleischteile vom hochwertigen Tafelspitz bis zur „Fledermaus" am unteren Ende der Qualitätsskala, die nach dem Kochen meist noch gebacken oder gratiniert wurde. Wir erfahren von Rindfleischtellern und Rindfleischwagen, in denen das gekochte Rindfleisch stilgerecht serviert wurde, von Adelstafeln, Bürgertischen und den Wiener „Rindfleischtempeln" vom legendären „Meißl & Schadn" bis zum „Plachutta", der heute die hohe Kultur des gekochten Rindfleisches bewahrt und zelebriert. Abschließend wirft Ingrid Haslinger die Frage auf, ob in Wien statt Kalliope und Thalia nicht eher Tafelspitz und Schulterscherzl die Poeten beflügeln, und geht literarischen Spuren nach. Ihre kulturgeschichtlichen Ausführungen sind mit interessanten Abbildungen unterlegt - frühe Fotos von Küchen mit Personal, eine handgeschriebene Rechnung vom „Sacher", eine Speisekarte von Meißl & Schadn aus dem Jahr 1923 (Tafelspitz 20.000, Beinfleisch 22.000 Kronen ...) und viele mehr.

Obwohl die Rezepte gegenüber den kulturgeschichtlichen Darlegungen von der Autorin als sekundär eingestuft werden, bietet das Büchlein eine erstaunliche Fülle davon. Die Rezepte sind teils Originalrezepte aus historischen Kochbüchern, teils von berühmten heutigen Küchenchefs überlassen. Die Kochanleitungen sind - bei nur 176 Seiten nicht anders möglich - ziemlich kurz gehalten und setzen Grundkenntnisse voraus. Haslinger führt im Einzelnen an:
• Vier Rezepte für Suppen
• 118 Rezepte für Suppeneinlagen
• 29 Rezepte für gekochtes Rindfleisch
• 43 Rezepte für warme Soßen
• 13 Rezepte für kalte Soßen
• 20 Rezepte für Gemüse und
• 17 Rezepte für „Sättigungsbeilagen"
Und mit diesen DDR-Unwort kommen wir zu den kritischen Bemerkungen, die dem Buch nicht erspart werden können. Haslinger bemüht jede verfügbare Quelle, um das Klischee vom Wiener Phäaken auszubreiten, dem sein Beinfleisch und sein Tafelspitz über alles gehen. Für ein reines Kochbuch wäre diese Darstellung völlig in Ordnung, da sich das Buch jedoch als „Kulturgeschichte mit beigeschlossenen Rezepten" sieht, erscheint diese unkritische Betrachtungsweise zumindest als unvollständig. Die geschilderte Idylle betraf ja nur Adel, Groß- und zum Teil Kleinbürgertum, die überwiegende Mehrheit der Wiener hatten an der gefeierten Rindfleischkultur keinen Teil, sah Meißl & Schadn nur von außen und konnte sich bestenfalls an Feiertagen ein Stück billiges Rindfleisch leisten. Weiters übersieht die Autorin beharrlich, dass die Kochbücher und Speisefolgen zwar täglich (außer an Fasttagen) gekochtes Rindfleisch vorschlagen, aber durchaus nicht immer als Hauptgericht. Nach der obligaten Suppe wurde als zweites Vorgericht ein Teller gekochtes Rindfleisch mit Soße aufgetragen, dann erst Braten, Fisch etc. etc. Es scheint, dass durch diese einseitige Quellenauslegung die Wichtigkeit der Speise überproportional dargestellt wird.

Für ein Werk mit wissenschaftlichem Anspruch ist es bedauerlich, dass zwar ein umfangreiches, fünf Seiten umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis, aber kein Anmerkungsapparat vorhanden ist, die Argumentation der Autorin somit nicht nachvollzogen werden kann. Wenn im „Grundrezept" (S. 82) zu 1,2 kg Fleisch ein weiteres Kilo Rindsknochen und Hühnerteile sowie 1/4kg Leber und Milz und eine Knoblauchzehe verlangt werden, wäre bei einer derartigen Abweichung von z. B. Rokitanskys klassischem Rezept doch zumindest interessant, aus welcher Quelle Haslingers Suppe geschöpft ist.

Alles in allem ist „Tafelspitz und Fledermaus" ein amüsant zu lesendes, lehrreiches, sehr gut recherchiertes kleines Werk, das mit einer überraschenden Fülle an Rezepten auch dem Küchenpraktiker eine Fülle von Anregungen bietet. Hinsichtlich des kulturgeschichtlichen Anspruches könnte man die etwas zu sehr auf die „heile Welt des Tafelspitz" ausgerichtete Darstellung sowie das Fehlen von Quellenverweisen kritisieren. Und leider geht Haslinger gleich zu Beginn in eine literarische Falle, indem sie die Schilderung eines galizischen Schriftstellers über das Sonntagsgericht eines mährischen Beamten mit reichsdeutscher Hausdame als Beispiel für die Wiener Rindfleischkultur ansah. Der Tafelspitz, der als „riesiges Fleischstück" unzerteilt auf den Tisch des Barons Trotha kam, Butter- statt Röstkartoffeln - ein Sakrileg ...

 

Link zum Verlag:

HASLINGER Ingrid: Tafelspitz & Fledermaus. Die Wiener Rindfleischküche. Mandelbaumverlag, Wien 2005