„Mofongo" von Cecilia Samartin ist ein Romanfeuerwerk der Spitzenliga. Es fällt daher schwer, ihm einen Stempel aufzudrücken, was das Schreiben einer Rezension durchaus vereinfachen würde. Handelt es sich nun um einen so genannten „kulinarischen Roman"? Um einen „Familienroman" - oder vielmehr um einen „Generationenroman", von dem man per definitionem spricht, wenn sich die Figurenkonstellation über drei oder mehr Generationsebenen erstreckt? Ist er dem Genre des realismo mágico, des (spanisch-lateinamerikanischen) magischen Realismus, zuzuordnen? Steht er gar in der Tradition des „Gesellschaftsromans" im Sinne Thomas Manns, dessen Werk auch gekennzeichnet ist von einer Darstellung familiärer und zeitgenössischer Entwicklungsprozesse sowie der Schilderung kulinarischer Genüsse? Oder ist das dann doch zu viel des interpretativen Guten?
Beginnen wir mit dem Naheliegendsten: dem Buchtitel. Bis Seite 202 muss man sich gedulden, damit das Rätsel darum endlich gelöst wird (es sei denn, man kann es wie ich nicht mehr erwarten und googelt ein paar Fotos der ungewöhnlich aussehenden karibischen Speise). Dafür belohnt die Autorin ihre Leserinnen und Leser mit ungeahnter kulinarischer Poesie. Abuela (=Oma) Lola erklärt ihrem Enkel Sebastian, was es mit Mofongo auf sich hat: „Wenn du das Herz und die Seele deiner Wurzeln schmecken willst, Sebastian, dann musst du Mofongo essen. <... Es ist> eine kulinarische Assimilation, eine unwiderstehliche Alchemie von Aromen und Kulturen, die nicht einmal die spanische Krone bezwingen konnte. Es ist kreolisch. Wenn ich Mofongo esse, freut sich das afrikanische, das europäische und das Taíno-Blut in meinen Adern."(1)
Bei Mofongo handelt es sich - vereinfacht ausgedrückt - um einen kohlenhydratreichen Knödel aus grünen Kochbananen (afrikanisch), Speck, Knoblauch und Olivenöl (spanisch); zunächst scharf angebraten und dann im Mörser bzw. im großen Holz-Pilón (Taíno) zerstoßen. Serviert wird dieser mit Shrimps, Hühner- oder Schweinefleisch.
Sich in aller Kürze an die Handlung anzunähern ist hingegen wesentlich schwieriger, weil Samartin mehrere Stränge geschickt ineinander verwebt. Da geht es um den chronisch kranken, zehnjährigen Sebastian, der an einer Herzschwäche leidet und deshalb nicht rennen oder ausgelassen Fußball spielen darf, obwohl er sich genau dies so sehr wünscht. Da geht es auch um Abuela Lola, seine Oma, die als junge Frau mit ihrem geliebten Ehemann von Puerto Rico in die USA gegangen ist und sich nach dessen Tod in die Heimat zurücksehnt. Abuela Lola, bei der Sebastian seine Nachmittage verbringt, muss wegen eines Schlaganfalls ins Krankenhaus und liegt eine kurze Zeit lang im Koma. Nachdem sie wieder aufwacht ist sie wie ausgewechselt: Sie färbt sich ihre Haare tomatenrot, verzichtet von einer Sekunde auf die andere auf das fade Essen auf Rädern, das sie ihrer Familie zuliebe die letzten zehn Jahre zu sich genommen hat, wird mit jedem zubereiteten puertoricanischen Gericht wieder lebensfroher, quirliger und aktiver. Da geht es um Entwicklung, Lebensbejahung, Liebe und Genuss. Da geht es aber auch um Familiendiskrepanzen, eine Beinahe-Scheidung, Rassismus, tiefsinnige Geschichten, Krankheit und Tod.
Und als wäre dieser karibisch-bunte Mix nicht genug, verstrickt Samartin auch noch fantastische Elemente in der dem Realismus nahestehenden Geschichte: Geisterstimmen und Seelenerscheinungen, Vorhersehungen, unerklärbare Phänomene, die ganz selbstverständlich hingenommen werden und keinesfalls aufgesetzt oder unpassend wirken, weil mystisches Denken eben Teil der lateinamerikanischen Kultur ist, der sowohl Sebastians Familie als auch die Autorin (geboren auf Kuba) entstammen.
Ob der realismo mágico wirklich nur „a polite way of saying you write fantasy and <...> more acceptable to certain people"(2) ist, wie Fantasygröße Terry Pratchett einmal in einem Interview mit der Online-Literaturzeitschrift January Magazine gesagt hat, sei dahingestellt. Sicher ist, dass der lateinamerikanische Kunstgriff, der auf das romantische Konstrukt eines Nebeneinanders von Realität und Fantasie des europäischen 18./19. Jahrhunderts aufbaut, ausgezeichnet zur Geschichte von Sebastian und Abuela Lola passt. Es mag nur schwer zu glauben sein, doch es ergibt sich ein durchaus stimmiges Gesamtbild, wenn die beiden Protagonisten Arroz sasonado (gewürzten Reis) auf der Basis des typischen Recaíto (eine puertoricanische Mischung aus Koriander, fein gehackten Paprikaschoten, Zwiebeln und Knoblauch in Olivenöl) zubereiten, während Abuela Lola erzählt, wie sie mit dem besten Arroz sasonado der Insel einst Sebastians Großvater erobert hat - und im selben Atemzug Sebastian von mystischen Phänomenen berichtet, die ihm immer wieder erscheinen.
Abgerundet wird das wunderbare Buch durch eine ausführliche Rezeptsammlung. All die Köstlichkeiten, die Abuela Lola und Sebastian zubereiten, sind auf den letzten 35 Seiten noch einmal samt Kontext und konkreten Kochanweisungen inklusive Mengenangaben angeführt. Wer möchte da nicht den Kochlöffel schwingen, um demnächst eine deftige Empanada (Fleischpastete) zu zaubern? Vielleicht erfahren auch wir den Geist Puerto Ricos, wenn wir uns an Abuela Lolas Rezepte halten.