Vorliegendes Buch bringt Niklas Luhmanns 1971 erschienen markanten Aufsatz Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten, welcher in einem zweiten Teil von FAZ-Redakteur Christian Geyer tiefschürfend interpretiert wird. Verleger Wolfram Burckhardt wollte damit keine exegetische Studie vorgelegt wissen, sondern ein „freies assoziatives Weiterdenken der in dem Aufsatz angeregten Thesen" (6) bieten, was in einmalig aufschlussreicher Art und Weise gelungen ist.
Luhmanns Aufsatz versteht sich nicht als Plädoyer mit Mußestunde-Koloristik, stößt auch nicht ins zumeist religiös geführte Horn der Entschleunigungsappelle, sondern umgräbt das Kontingenzproblem des modernen Menschen: die ewige Option der multiplen Möglichkeiten angesichts des zutiefst menschlichen Strukturbedarfs. Luhmann verwirft dabei die nur befristet vorhandene Zeit nicht, sondern sieht sie selbst als Medium der Kontingenzbewältigung, deren Grenzen damit zu Existentialen menschlichen Daseins und Schaffens mutieren. Nur Zeitdruck und Terminierung lässt ein Sein zu, hält eine Angelegenheit oder Sache innerhalb des von Fristen determinierten Radius der Wahrnehmung. Damit treten thematische und sachliche Aspekte hinter den dominierenden zeitlichen; die Zeiteinteilung fällt ein Werturteil, lässt einen Primat der Fristen zu, der die übrigen Werte überrollt. Luhmann spricht dabei von den „institutionalisierten Ausreden" (25), welche formalen Prioritäten einen systemstrukturellen Zusammenhang gewinnen lassen und schrittweise allein für ausreichend gelten lassen. Aus Zeitproblemen hat sich eine Umkehrung der Wertordnung ergeben, die Luhmann mit Beispielen des universitären Lebens und der öffentlichen Verwaltung in seinem Aufsatz belegt.
Geyer stellt darüber hinaus unter dem Titel „Das entgrenzte Leben - zwischen Deadline und Borderline" die Frage nach den Herausforderungen des unendlich Möglichen, welche den Typus des „entgrenzten Menschen" (63) geschaffen hätten. Wie kann der Beliebige dabei in all der Unbestimmtheit zu einem Bestimmten werden? Geyer arbeitet anhand von Luhmanns Denken die Rhythmik des Befristeten als Wesensgrund des Menschlichen heraus. Der kairos, der richtige Zeitpunkt als eigentlich zufällige Taktung, bestimmt ob etwas ist oder vielmehr nicht. Nachdem ein Fälligwerden nicht eo ipso eine Stabilität jenseits der Kontingenz zu errichten imstande ist, zeigt die Luhmannsche Vorstellung einer creatio continua, dass eine Überwindung der Möglichkeit im Getanen (Hillenkamp) als ein Phänomen in der Kontingenz gegen die Kontingenz anzusehen, als ein Beispiel, dass es weitergeht und nicht perplex die Waffen gestreckt werden. Luhmann gehe von relativen Kontingenzen als Wahlmöglichkeiten mit Folgen und Voraussetzungen aus, die nicht das Mögliche überhaupt, sondern das auch anders Mögliche in den Blick nehmen. Um Kontingenzen zu reduzieren, dienen neben Fristen Gewohnheiten und Traditionen, womit auch Routinen als Modus der Selbsterhaltung fungieren, die Alternativen als kalkulierbare Zukunftsszenarien systematisieren und der Beliebigkeit entziehen. Den entgrenzten Menschen füllt diese seriell-multiple Existenz jedoch nicht aus; er bleibt leer und unbestimmt angesichts seiner Weigerung, sich anstatt objektivierend zu vergegenständlichen (Quantified-Self), wirklich zur kontingenzbewältigenden Selbsterkennung aufzumachen. Geyer beschreibt dieses psychische Parkett, auf dem das spätmoderne Grundgefühl tanzt, als „Phänomen der Derealisation", wo „emotionale Resonanzstörungen" des Menschen mit sich selbst die je persönlichen Erfahrungen, das Gefühl des Eigenen in Taubheitsmeeren externer Projektile ertränken. Selbsttäuschung sieht Geyer auch in der Wohnkultur, wo Trends des „Conceptual Living" ein oberflächliches Entgrenzungsflair als innovativen Lebenshabitus versuchen. Die im Streben nach Status - laut Geyer - zugekaufte App-Bricolage verwandelt das ursprünglich gewachsene Eigene zum simuliert Aufgesetzten. Mit Arnd Pollmann skizziert er mittels des Borderline-Syndroms diese kennzeichnendste Persönlichkeitsstörung der heutigen Zeit: Die Maske ist das Passbild des spätmodernen Menschen. Damit siedelt Geyer die Auswirkungen des Phänomens der Entgrenzung als problembereitender Aspekt der Kontingenzbewältigung zwischen Philosophie und Psychopathologie. Die Frage nach der Normalität und dem Maßstab des Normativen kann hier nicht fehlen: Wieviel Nachdenken, wieviel Reflexion ist angebracht; wo liegen dabei zwischen Manövrierung im Kontingenten und plumpen dezisionistischen Entlastungsfahrten die Grenzen von gesund und krank? Welche argumentative Schusskraft hat dabei das Funktionalitätsdogma? Sowohl philosophisches wie auch psychotisches Nachspüren, so hält Geyer fest, erleuchten das Dasein in seinen unerkannten Facetten; Beide suchen nach einem ruhenden, notwendigen Dahinter. Geyer bricht eine Lanze für die selbständige und prüfende Reflexion, möchte die Theorie von ihrem Pathologiemuffel gereinigt wissen und meint - entgegen des biologistischen Illusionspostulates der aktuellen Hirnforschung - dass es sehr wohl etwas zu denken gebe. Und dennoch könne der entgrenzte Mensch angesichts der ihn umgebenden Komplexität nicht wissen, was er will. Bei all der „inneren Entscheidungsnot" (Tenbruck) bleiben eben nur musterhafte Näherungswerte. Das psychische Provisorium ist universell, der Abbruch heute hochmodern. Glücksfristen lösen einander ab während die biographische Zeit weiterläuft. Entgrenzung ist für Geyer erst dann nicht pathologisch, wenn es gelingt, die Möglichkeitsbreite des Ungelebten als Steg auf den kleinen Grat umzulegen, der für das dem Entgrenzungsprozess ausgesetzte Individuum gangbar ist. Das Bewusstsein um das Vorhandensein anderer Grate meint für Geyer bei entsprechendem Umgang nicht notwendigerweise psychische Desintegration. Dies könne durch eine „Futur-II-Perspektive", durch eine „Evolution aus der Zukunft" (141) und nicht nur aus dem bereits Gewesenen möglich sein. Eine „Ontologie des Unerledigten" (145) hält sich die Dimensionen von Vergangenem und Kommendem offen; der Konjunktiv bleibe aber der Selbsterzählung erhalten (Lommel). Keine Kosmologie kann mehr Ordnung bieten und dennoch müssen Setzungen das komplexitätsreduzierende Aushalten potentieller Gegenwarten möglich gemacht haben. Für Geyer bleibt auch dies eine stets offene Übung.