Kann es eine Philosophie der Verdauung geben? Bereits ein philosophischer Umgang mit der Ernährung stellt abendländische Grundannahmen in Frage, dass als adäquate Themen nur der menschliche Geist und das Denken gelten können. Auch in benachbarten Geisteswissenschaften ist eine Skepsis gegenüber Ernährungsthemen weiterhin zu konstatieren. Wie ist es dann erst um das Thema Verdauung bestellt, das eher medizinische Ratgeber als die Feuilletons beschäftigt? (Schon ein Blick in die Kulturgeschichte der Toilette lehrt, wie das Finale der Verdauung in den letzten Jahrhunderten zunehmend privatisiert und tabuisiert worden ist.) Und ist es nicht ein Widerspruch in sich, Verdauung als Thema philosophischer Reflexion vorzuschlagen, wenn sich der Vorgang offensichtlich willentlicher Steuerung entzieht und „im Normalfall" nur wenig mit den Sinnen zu erfassen ist? Der an der Universität des Burgund in Frankreich lehrende Philosoph Christian W. Denker stellt gegen diese Vorurteile fest: „Für das philosophische Schweigen zur Verdauung gilt (...): Der erste Eindruck täuscht. Für abendländische Vorstellungen vom erfüllten Leben sind die Freuden und Leiden der Verdauung grundlegend." (15) Daran knüpft er seine Grundannahme: „Verdauung erfolgt im Bauch und im Kopf, metaphorisch und konkret. Wer sich ‚vernünftig' ernährt, muss Speise und Wissen gedanklich assimilieren. Wer gut leben möchte, muss Hirn und Verdauungsschlauch mit passender Nahrung versorgen, sonst wird ihm weder das eine noch das andere viel nützen." (18)
Auf der Suche nach dem ‚Geist des Bauches' unternimmt Denker einen Durchmarsch durch die (Denk-)Geschichte von den alten Ägyptern bis zur Gegenwartsphilosophie, die auf 535 Seiten in vier Großkapitel gegliedert ist. Kapitel 1, „Wurzeln. Von altägyptischen Texten zu Epikur", umfasst das ägyptische und alttestamentarische Denken ebenso wie das mythische und philosophische Griechenland. Kapitel 2, „Exzesse. Von Cicero zu Montaigne", behandelt schwerpunktmäßig Strömungen, die sich mit tatsächlichen und vermeintlichen Exzessen auseinandersetzten und eine ‚bauchfeindliche', gastrophobe Tendenz im Okzident verankert hätten - darunter vor allem die römische Stoa und die spätantiken Kirchenväter, die teilweise vor den Versuchungen der Welt in die Wüste flohen. Kapitel 3, „Freuden. Von Helmont zu Nietzsche", behandelt die neuzeitlichen Philosophen und ihre vorwiegend positive Behandlung der Verdauung, sei es in der naturwissenschaftlichen, gastrosophischen oder lebensphilosophischen Ausrichtung. Dabei kommen weder das Lachen (Kant) noch Zwangsphantasien (de Sade) zu kurz. Im vierten und letzten Kapitel, „Unterscheidungen. Von Freud zu Schusterman", kommt zunächst die Psychologie Freuds und seiner Nachfolger zu Wort („anale Phase"), anschließend eine Auswahl aus der Philosophie des 20. Jahrhunderts, etwa Sprachphilosophie (Wittgenstein), Existenzialismus (Sartres Ekel), Dekonstruktion und Postmoderne (Levinas, Foucault, Derrida).
Der Rahmen, den die Großkapitel stiften, ist locker, sodass die Arbeit eher aus einzelnen Lektüren zu bestimmten Denkern besteht denn aus einer strengen Analyse übergeordneter Denkfiguren, obwohl immer wieder Bezüge zu anderen Kapiteln hergestellt werden. Die Lektüren für sich genommen sind oft faszinierend, nur selten erscheinen die Bezüge zur Verdauung etwas weit hergeholt. Insgesamt löst Denker sein Versprechen erfolgreich ein zu zeigen, dass es eben kein philosophisches Schweigen zum Thema Verdauung gibt. Besonders in der „Vormoderne" bis zur Aufklärungszeit ist die Vielzahl der Erwähnungen über sämtliche Denkschulen hinweg frappierend. Aber gibt es darüber hinaus allgemeine Ergebnisse?
Den „Anteil der Verdauung am Geist", der in der Arbeit immer wieder postuliert wird, sieht Denker in der (gemessen am Umfang der Arbeit) recht kurzen Zusammenfassung auf drei Ebenen:
1. „In schwacher Lesart liefert Verdauung die grundlegenden Bilder für geistiges Selbstverständnis." (468) Metaphern wie ‚Wissensdurst' machen sinnfällig, dass geistige Vorgänge wie Verdauungsprozesse vorgestellt werden: von der Aufnahme geistiger Nahrung über die Verdauung hin zur Speicherung wertvoller und Ausscheidung wertloser Stoffe.
2. „In starker Lesart bedingt Verdauung geistige Aktivität und insbesondere das bewusste Denken." (ebd.) Diese Einsicht liefert nicht nur viele aktuelle Anknüpfungspunkte, sondern beschäftigte auch Philosophen wie Kant, Nietzsche und Wittgenstein. Letztendlich geht es um die Aufhebung der Trennung zwischen Körper und Geist.
3. „In radikaler Lesart ist geistige Aktivität eine Funktion der Verdauung, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse." (ebd.) Diese Lesart, die sich prominent bei Nietzsche findet, stellt die Geschichte des abendländischen Denkens nicht vom Kopf auf die Füße, sondern legt sie auf den Bauch!
Denker leitet aus seinen Ergebnissen den Anspruch ab, die ‚eigentliche' Gastrosophie zu verkörpern (da gr. gastér bekanntermaßen den Magen bezeichnet) und bezieht dabei Stellung gegen die Aussagen eines Michel Onfray und Harald Lemke: „Eine solche Gastrosophie beschränkt sich nicht auf Überlegungen zur oralen Erfahrung gastronomischer Kochkunst, sondern behandelt auch die dem Bauch wesentlichen Themen wie Lust und Liebe." (467) Nun gehört es zum akademischen Geschäft, Aussagen, an denen man sich reiben möchte, polemisch zuzuspitzen. Allerdings besteht hier die Gefahr der Verniedlichung des Themas Ernährung, das gerade durch seine Stellung zwischen Kultur und Natur so vielfältige Bezüge zu Medizin, Philosophie, Kunst, Wirtschaft und Politik aufweist. Ob das Thema Verdauung eine vergleichbare Vielfalt aufweist? Andersherum könnte man ja auch Verdauung als ‚Vertiefung' und ‚Fortsetzung' von Überlegungen zur Ernährung verstehen. Welcher Diskurs hier welchen ‚einverleibt', wird nur eine zukünftige Diskussion klären, die hoffentlich genießbar sein wird.