Seit den platonischen Anfängen steht das Denken über das Essen unter der Vorherrschaft der Diätetik. Es geht dabei um Gesundheit, nicht um Genuss. Nach der Devise, dass nur eine bittere Medizin wirksam sein könne, steht alles Wohlschmeckende unter dem Generalverdacht, der Gesundheit zu schaden. Bei Kant rückt der Geschmack an die Stelle, von der aus die Urteilskraft und auch die Kritik erst verständlich werden, aber es ist eher der Geschmack in Fragen der Kunstbeurteilung als der in Fragen der Beurteilung der Produkte aus der Küche. Nach Kant nimmt alle Erfahrung ihren Ausgang in der Sinnlichkeit. Geschmack ist nach Kant das Gefühl für das Schöne. Röttgers räumt ein, Kants Kritik der kulinarischen Vernunft hätte wohl anders ausgesehen. Doch da diese in Kants Werk vermisst wird (die Gründe s. o.), gehe es hier um die Beschreibung der Möglichkeiten und um die Klärung von deren Bedingungen.
Kurt Röttgers tritt in die Tradition des kritischen Denkens ein, über Augustinus zu Thomas von Aquin und weiter über Giordano Bruno, Herder, Kant, Nietzsche, Serres, Deleuze ... Das Werk bietet ein großes Spektrum, angefangen beim unumgänglichen Platon mit dem Dialog „Gorgias", wonach die Kochkunst die Medizin simuliere, indem sie ein Wissen darüber vorgebe, was die besten Speisen für das leibliche Wohlergehen seien, wo sie doch in Wahrheit nur den unverständigen Gaumenfreuden huldige. Die Erfindung der des Begriffs „Gastrosophie" geht auf Charles Fourier zurück; sie meint „eine Verbindung sozialer philosophischer Weisheit und nützlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere der Gesundheitspflege und der Landwirtschaftskunde mit der Materialität verfeinerter Genüsse ...".
Der Hauptteil des Werkes umreißt die Inhalte einer Kritik der kulinarischen Vernunft, gegliedert in Ästhetik, Analytik, eine Dialektik und eine Metakritik, mit der Frage nach Leistungen und Grenzen einer philosophischen Kulinarik. Diese vier Aspekte werden der Reihe nach behandelt. Sie bilden die Grundlage für weiterführende Erörterungen, die sich auf Fast Food und Slow Food erstrecken, mit dem Lob der Kultur von Umwegen und der Betonung der Langsamkeit als Kritisches Konzept. Manchmal mutet die Darstellung wirklich ein wenig als „Bewegung in labyrinthischen Vielheiten" an (85). Es gibt ein Kapitel über Menschenfresserei - Kannibalismus sei ein Mythos -, eines über das Miteinander-Essen, seien es Arbeitsessen, erotische Mahlzeit oder Henkersmahlzeit und auch Abendmahl. Die Mahlgenossenschaft mit den Tischsitten kommt ebenso in den Blick wie die Einbeziehung der Frauen.
Im organischen Ablauf der Mahlzeit kommt auch deren Ende, die Aufhebung der Tafel, die Verteilung der Reste des Essens, was zur Metakritik führt. Ausschweifungen, als notwendige Synthese, seien nötig. Sie markierten die Kultur im Unterschied zur Natur auf der einen Seite, zur Ökonomie auf der anderen. Ausschweifungen seien nicht auf Dauer zu stellen. Wer dauernd ausschweifen wollte, verdürbe sich selbst die Ausschweifung. Vornehmlich natürlich die Festmahle und damit verbindbaren Trinkgelage sind Gelegenheiten zu Ausschweifungen. Umgekehrt: Man kann sich Feste kaum vorstellen ohne (kulinarische) Ausschweifungen. Ein Fest ist ein gestatteter, vielen ein gebotener Exzess, der im Wesen des Festes liege; die festliche Stimmung wird durch die Freigabe des sonst Verbotenen erzeugt.
All diese Anregungen ließen sich aufgreifen. Der Text fordert zu Diskussionen heraus, die am besten in der angemessenen Form eines Symposions stattfinden könnten. Dazu sollte die Denkrichtung des hier mehrfach kritisch behandelten Harald Lemke einbezogen werden. Manches ließe sich bei solchen Diskussionen nachfragen, denn auch hier wird ein vorgebildetes Publikum verlangt. Die fremdsprachigen Texte sind nur gelegentlich übersetzt, die Fachausdrücke als bekannt vorausgesetzt. Manche unverständliche Begriffe aber gehen sichtlich auf Mängel des Textkonvertierungsprogramms zurück.
Es würde ein spannender Abend werden. Aber nach all den Erörterungen und philosophischen Ausschweifungen wären alle für die der Praxis wohl zu müde, einmal ganz abgesehen vom Theorie-Praxis-Problem.