Das Brot der Indianer
Mit den Entdeckungsfahrten der Frühen Neuzeit erreichte eine neue Genuss- und Nahrungsmittelvielfalt rund um Paradeiser, Paprika und Piment den europäischen Kontinent. KEINES der „neuen" Nahrungsmittel hatte dabei „ <...> so nachhaltig und erfolgreich Einfluß
Ausgehend von diesen Feststellungen skizziert Haslinger eine Geschichte der Erdäpfel, die uns bis ins das 9. vorchristliche Jahrtausend zurückführt - auf den südamerikanischen Kontinent. Denn schon lange vor der Eroberung der „Neuen Welt" wurden hier Erdäpfel gegessen, verehrt, ja - vergöttert! Als mama jatha (Mutter des Wachstums) fand die begehrte Knolle bei den Inkas als Grabbeigabe, Verzierung auf Tongefäßen oder Maßeinheit Verwendung. Solch kultische Verehrung genießen die Erdäpfel in den Anden heute noch.
Immer wieder streut - das sei vorweggenommen - die Autorin bei ihrer Zeitreise zeitgenössische Zubereitungen, Rezepte ein - dienend, so Haslinger, vornehmlich zur Illustration der Entwicklung von Erdäpfelgerichten in Europa und der jeweiligen Landesküchen (S. 8). Von einem selbstständigen Nachkochen soll uns diese Absichtserklärung aber natürlich nicht abhalten.
Nun zurück zum „Brot" der Inkas: So einfach die Erdäpfel ihren Durchbruch in Südamerika schafften, so steinig war der Weg in Europa. Wann und von wo genau die Erdäpfel ihren Weg nach Europa fanden, lässt sich schwer ausmachen. Die Autorin hat dafür aber einige Hypothesen parat und verweist populäre Ansichten - wie die Einführung der Kartoffel in Europa durch Francis Drake - ins Reich der Fantasie. Im späten 16. Jahrhundert waren die Erdäpfel in Europa recht gut bekannt. NICHT als Grundnahrungsmittel, sondern als Kuriosität in den botanischen Gärten, oder manchmal auch als Ziergericht bei fürstlichen Tafeln. Ansonsten galten sie als Essen für ärmere Leute. Nährwert und Bekömmlichkeit wurden lange angezweifelt, die Zubereitung war zudem arbeitsintensiv. Die Kirche meinte, ein Hauptnahrungsmittel der Heiden sei für Christen ungeeignet - zudem seien unterirdisch wachsende Pflanzen Teufelswerk. Wahrlich eine Ablehnung der Kartoffel auf breiter Front! Der Autorin gelingt es aber, plausibel den Weg zur allgemeinen Anerkennung nachzuzeichnen. Damit verbundene Vorgänge wie das Bevölkerungswachstum, die Beschleunigung des Österreichisch-Preußischen Erbfolgekrieges und die industrielle Revolution finden breite Erwähnung.
„Erdäpfelpioniere" waren in Europa die Iren, die im 17. Jahrhundert Erdäpfel im großen Stil auf Feldern anpflanzten. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren sie zum Hauptnahrungsmittel geworden. Warum gerade Irland diese Vorreiterrolle übernahm, wird von Haslinger nicht erklärt. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts schätzte man die Kartoffel in ganz Europa als „Sattmacher". So richtig unerlässlich als lebenserhaltendes Nahrungsmittel wird sie aber erst im Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Im zweiten Teil ihres Buches führt uns die Autorin auf einen Streifzug durch die europäischen Länderküchen. Skizzenhaft werden die Eigenarten der Ernährungs- und Kochgewohnheiten der Länder vorgestellt, kulminierend in der Beschreibung der Bedeutung der Erdäpfel in den jeweiligen Küchen und der Anführung einer gewaltigen Fülle an Rezepten. Die Reise führt kreuz und quer durch Europa - angefangen bei den Balkanländern über Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Polen, Rumänien, Wien, Schweiz, die Iberische Halbinsel, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Malta, Skandinavien, die Baltischen Staaten bis zur abschließend genannten Jüdischen Küche.
Nach diesem Trip finden wir uns im Centre of Potato (CIP) wieder. Diese 1971 gegründete europäische Einrichtung hat zum Ziel, die Möglichkeiten, die in Erdäpfeln und anderen Wurzelgewächsen stecken, zu erforschen und weiterzuentwickeln. Das soll den Entwicklungsländern zugute kommen und allen Regionen, in denen Hunger herrscht. Damit beantwortet Haslinger schon zum Teil ihre im letzten Kapitel gestellte Frage, ob Erdäpfel Zukunft haben. Zunehmende Bedeutung der Kartoffel liegt vor allem im Bereich convenience food. Als Beispiel gibt die Autorin etwa an, dass vermehrt berufstätige Frauen eher zu Fertig- oder eben den Halbfertiggerichten greifen, als langwieriges Kochen in Kauf zu nehmen.
Das Jahr 2008 wurde von der UNO zum Jahr der Kartoffel erklärt, um den Stellenwert dieses Nahrungsmittels bei der Bekämpfung von Hunger hervorzuheben - Haslinger zufolge eine große Option für die Zukunft der Menschheit. Es lebt die Hoffnung auf eine Welt, wo auch wirklich KEIN Hunger Leidender und KEINE Erdäpfel „fallen gelassen" werden wie die sprichwörtlichen heißen Kartoffeln.