Eine Symbiose von „Alt" und „Neu"
Nahrung und Genuss richten sich nach dem Zeitgeschmack. So gehen Lebensmittel und Gerichte in einer bestimmten Periode der Menschheitsgeschichte elend zu Grunde, während sie in einer anderen Epoche schon mal zu Klassikern erkoren wurden (und werden). Das gilt z. B. für die Dickmilch, die - bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts noch zum Lebensmittelstandard zählend - heute praktisch gänzlich vom Joghurt verdrängt wurde (S. 7), und für eine gewaltige Fülle weiterer Nahrungsmittel. Genau diesen wollen Köchin Eva Eppard und Autor Martin Lagoda in ihren „Vergessenen Genüssen" Tribut zollen.
Schon anhand des Inhaltsverzeichnisses wird ersichtlich: Im Fokus liegen primär nicht die verlorenen Zutaten, sondern Gerichte, Speisen MIT eben diesen Zutaten. Eingebettet werden die folgenden Rezepte in die Kapitel „Kräuter, Salate & Gewürze", „Gemüse, Obst & Hülsenfrüchte", „Eier und Milchprodukte", „Körner, Mehl & Getreide", „Fisch" sowie „Fleisch, Innereien & Geflügel". Zunächst werden von den Autoren immer einige Rezepte mit mitunter ausgefallenen Betitelungen wie etwa „Süßholzessig-Vinaigrette", „Salat mit Schafgarbe zu Matjesfilets in Vanillemarinade" oder „Steinbuttfilet und Bottarga unter Pumpernickelkruste mit Kohlrabi-Kartoffel-Gratin" angeführt. Die Mengenangaben sind hierbei für vier Personen festgelegt und detailliert gehalten. Das Nachkochen wird durch die verständlichen und einfach gehaltenen Anleitungen erleichtert. Zudem finden sich bei zirka der Hälfte der Gerichte auf der jeweils rechten Seite großformatige, zumeist einfach gehaltene Fotos.
Dass bei den beschriebenen Gerichten die eine oder andere Zutat nicht so einfach beim nächsten Supermarkt zu beschaffen ist und es Zeit und Muße für die meisten Gerichte braucht, versteht sich in gewisser Hinsicht von selbst.
Auf die Rezeptteile folgt alle paar Seiten ein kleiner kulinarischer Ausflug, der mit der Beschreibung und Erklärung eines Lebensmittels - eines „vergessenen Genusses" wie etwa Ringelblume, Rotkohl oder Rhabarber - gefüllt wird. Leider kommt es dabei allzu häufig vor, dass die eine oder andere „Vergessenheit" erst viele Seiten nach dem Gericht, welches dieselbe schon ohne Kommentar aufgelistet hat, auftaucht. So ist bei erstmaligem Schmökern Übersichtlichkeit nur in einem gewissen Ausmaß gewährleistet. Jenen Lesern, die es vor allem auf die verloren gegangenen Genüsse abgesehen haben, sei an dieser Stelle das Register am Ende des Buches nahegelegt. In diesem werden übersichtlich, neben den allseits bekannten Zutaten, jene alten, vergessenen (oder wie man sie auch immer nennen mag) Lebensmittel in kursiver Schrift hervorgehoben aufgelistet und mit den entsprechenden Erwähnungen im Buchinneren verknüpft.
Die beiden Autoren haben es geschafft, alte oder vergessene Zutaten in neue, kreative Gerichte einzuflechten - und das auf plausible Weise. Wenn mit diesen Ingredienzien jedoch solch ein schöpferisch wertvoller Prozess, wie ihn uns die Autoren gezeigt haben, möglich ist, stellt sich die Frage, warum vielerlei Köstlichkeiten nicht im Handel und in unserer Wahrnehmung vorkamen und vorkommen. Die Autoren der „Verlorenen Genüsse" machen dies in erster Linie an den EU-Normierungen fest. Denn die Reglementierer in Brüssel gingen nach „<...> Kriterien wie Größe, Form und Farbe eines Produkts vor, nicht aber nach seinen geschmacklichen Eigenschaften oder seinen Nährwerten. Eine noch so köstliche Apfelsorte etwa wird ausgemustert, wenn sie zu groß ist."(S. 7) Klar - pflegeleichte, schnell und zuverlässig wachsende Sorten - am besten noch resistent gegen Schädlinge und gut transportfähig - sind da bei den Händlern schon beliebter.
Dass in einer immer schnelleren Welt nur mehr wenige die Muße finden, Hagebutten und Holunderbeeren zu sammeln, ist da nur die Draufgabe. Es bleibt zu hoffen, dass die mit sinkender Sortenvielfalt verbundenen qualitativen Abstriche nicht nur die beiden Autoren stören.