Logo Epikur - Journal für Gastrosophie
Zentrum für Gastrosophie Impressum

Lust auf Technik? Lust auf mehr?

Martin BEYER.   

Wer seines Glückes Schmied sein möchte, muss auch an seinem Selbst arbeiten? Es verwirklichen, optimieren, verbessern, erweitern? Zum Transhumanismus und anderen Selbstüberwindungsprogrammen im Kontext philosophischer Lebenskunst.

 

Schlemmen, Schlingen, Fasten - die Diätetik genießt einen hohen Stellenwert unter den Lebenspraktiken, die wir als „Lebenskunst" bezeichnen. Doch der umgangssprachliche Assoziationsraum zur Lebenskunst erscheint bisweilen paradox und ungeordnet: Mitunter wird da die Frage „Was ist Lebenskunst?", ähnlich wie ihre verwandte Frage „Was ist Glück?", gerne durch die Nennung eines vermeintlichen Archetypen, des Lebenskünstlers, zu umgehen versucht, wobei sowohl dessen opportune Geschicklichkeit als auch sein Lustgewinn im leichtsinnigen Selbst- und Weltentwurf hervorgehoben werden. Diese Antwort ist allerdings, ganz gleich, ob man ihr theoretisches Milieu nun in den postmodernen Theorien um den „flexiblen Menschen" (1)oder z.B. in den literarischen Narren- und Glücksritterfiguren zu Beginn der Neuzeit ausmachen möchte, zu konkret gefasst, um das ganze Möglichkeitsfeld der Lebenskunst zu umspannen. Auch der Versuch der Beantwortung dieser Frage durch Beschreibung realer Handlungssituationen oder expliziter Lebenskunstmodelle, wie sie sich zum Beispiel aus den Dogmen der antiken philosophischen Schulen oder den eher situationell und aphoristisch verfassten Handlungsanweisungen der Renaissance und Moralistik ergeben, legen nur den Blick auf einzelne Schablonen frei. Die Frage „Was ist Lebenskunst?" fragt jedoch (zunächst) nicht nach der richtigen Lebenskunst, sondern stellt sich vor allem die Aufgabe, deskriptiv das weite Feld zu beschreiben, als dessen Ausformung sich die um normative Deutungshoheit ringenden Lebenskünste jeweils verstehen.


Die antike Verwendung der Phrasen techné tou biou oder techne peri ton bion bzw. ars vitae und ars vivendi deuten bereits das heteronyme Potenzial der Lebenskunst an, dass bis heute die Diskurse und die Vielfalt der angebotenen Konzepte prägt: Ist in der „Kunst des Lebens" jenes „Leben" als ein metaphysisches Subjekt zu verstehen, eine Instanz (Gott, Logos, Wille, Natur, ...), die eigene Motive für oder gegen das Individuum verfolgt, ihm gewisse Regeln vorschreibt oder selbst diesen unterworfen ist? Ist Lebenskunst eine von dieser Instanz „Leben" ausgeführte Kunst über das Individuum oder meint der Begriff den Versuch des Individuums, jene Instanz nach speziellen, ihm dienlichen Maßstäben zu kontrollieren? Oder ließe sich gar jenes „Leben" als zu Unrecht zum Subjekt erhobenes substantiviertes Prädikat, qua als „Kunst, zu leben" verstehen? Ist ein objektives, reales, biologisches, faktisches Leben Ausgangs- und/oder Zielpunkt seiner künstlerischen Bearbeitung oder eher dessen subjektive Wahrnehmung, sodass vielmehr von einer Er-Lebenskunst zu sprechen geboten wäre?


Während die Infragestellung dieses Lebensbegriffs vor allem die Existenzphilosophie der letzten zwei Jahrhunderte beschäftigte, scheinen deren Vorgänger sowie aktuelle Vertreter philosophischer Lebenskunst vornehmlich um eine Klärung dessen bemüht, an welche Kunstform in Bezugnahme auf jenes Leben zu denken sei: Handelt es sich bei der Lebenskunst um eine nach individuellen Maßstäben ästhetischer Wohlgeformtheit mittels bestimmter Techniken ausgeführte Handlung, wie etwa in der Malerei oder der Poesie, so wie es in der Philosophie prominent durch Michel Foucault und jüngst besonders durch Wilhelm Schmid nahegelegt wurde? Oder ist diese besondere Kunst eher aristotelisch als Handwerkskunst zu verstehen, die Geschick, Übung und zumeist auch eine zu bearbeitende Grundsubstanz erfordert, wie zum Beispiel im Begriff der „Lebenskönnerschaft" formuliert? Auch im Sinne einer Kriegs- und Kampfkunst bzw. politischen Taktik mit dem eigenen Leben als Interakteur oder Rivalen hat sich Lebenskunstliteratur bereits angeboten, jüngst sogar als Form des Managements.(2) In diesem metaphorisch verfassten Orientierungsfeld verschwimmen jedoch die einzelnen Handlungsaspekte von Motiv, prozessualer Wahrnehmung und Ergebnis einer künstlerischen Handlung.

Ein Grund hierfür lässt sich in dem Phänomen verorten, das (sich) die Anbieter der Programme gemeinhin von ihrer Lebenskunst versprechen: Die Beurteilung eines geführten Lebens als gut, glücklich, schön, wahr, richtig oder gelingend. Je nachdem, welchem Kunstverständnis die philosophischen Eudaimonologien folgen, wird diese Form von „Optimum" vorwiegend als erschaffenes Produkt (poiesis), performativ erfahren (praxis) oder konsumtiv verwertet (zum Beispiel hedone, die Lust oder tyche, das Zufallsglück) definiert. Klassische philosophische Lebenskunstkonzepte meiden jedoch die Einnahme einer Extremposition in dieser Trichotomie, im Gegenteil: Bei allen verwirrenden Dissensen, das heißt den unterschiedlichen Strukturen der Konzepte, den mannigfachen Auffassungen von „Leben", „Glück" und „Person", den gegenläufigen präferierten Bewusstseinszuständen der Konzepte (Seelenruhe vs. Euphorie, Unerschütterlichkeit vs. Flexibilität, ...), kurz: unabhängig davon, was als eu (gut) für den daimon (Seele, Geist) angesehen wird, eint die bisherigen philosophischen Lebenskünste, dass sie dem Subjekt einen entscheidenden und aktiven Beitrag zu seinem eigenen Wohlsein beimessen. Philosophische Lebenskunst heißt demnach vor allem, eine autarke Haltung im Einklang mit der Vernunft zu entwickeln, aus der heraus bei Bedarf ein bewusst geführtes Begleiten des eigenen Lebens möglich ist.

Zahlreiche mentale wie physische Übungen (altgriech.: askesis) dienen den Lebenskünsten zur Erreichung und Aufrechterhaltung einer solchen Haltung: Die auffallend häufig thematisierte bewusste Ernährung, ob bei Epikur, Henry David Thoureau oder im Vegetarismus der Pyrrhoniker, dient in der philosophischen Lebenskunst nicht gesundheitlichen oder ästhetischen Zwecken, sondern unterstützt die Bildung einer autarken, autonomen und in Bezug auf Wohlbefinden selbstgenügsamen Persönlichkeit. Die praemeditatio malorum oder praemeditatio mortes, die möglichst ausführlichen und affektfreien Visualisierungen zukünftiger schlechter Ereignisse bzw. die Vorstellung des eigenen Todes, helfen ebenso Marc Aurel wie Michel de Montaigne, eine gelassene Wachsamkeit gegenüber ihrer Umwelt zu entwickeln.(3)In der Übung des Seelenflugs bzw. des kosmischen Blicks simulieren sowohl Seneca als auch Giordano Bruno das Emporsteigen der eigenen Seele fort vom irdischen Treiben hinauf in die Polis des Kosmos, um sich von irdischen Bedürfnissen, Sorgen oder Zerstreuungen zu distanzieren. Vor allem in den antiken Schulen werden diese Übungen gewissenhaft einstudiert und ausgeführt, um sie im rechten Moment unmittelbar zur Hand zu haben, wie etwa die als Handbüchlein mitgeführten Dogmensammlungen Epikurs und Epiktets bezeugen: „Dies also und die damit verwandten Dinge bedenke Tag und Nacht bei dir selbst und zusammen mit den dir Ähnlichen, und niemals wirst du dann im Wachen oder Schlafen beunruhigt werden, sondern wirst leben wie ein Gott unter Menschen."(4)

Die christlichen Lehren des Mittelalters tradieren und tabellarisieren einige der askesis zu den Disziplinen der täglich ausgeübten exercitiae spiritualiae. So wird die Übung guter, also gottgerechter Ernährung im Mönchtum akribisch spezifiziert, nicht nur periodisch durch Fastenzeiten, Ernährung an bestimmten Wochentagen und zu bestimmten Tageszeiten. Auch in der Wahl der erlaubten Lebensmittel bestimmen strikte Kataloge und deren Exegese besonders während der Fastenzeit die christliche Lebensführung. Derzeit finden die Techniken der philosophischen Lebenskünste - wenn auch selten um deren Historie bewusst - vorwiegend in psychotherapeutischen Verfahren, in der Medizin und im Arbeitswesen Anwendung. Sowohl in einer historischen als auch in einer transkulturellen Weitwinkelperspektive über die diversen Systeme der Lebensführung hinweg offenbart sich trotz sehr unterschiedlicher Verwendungszwecke ihre kontinuierliche Anwendung. Sie ermöglichen die Selbstformung gemäß einem spezifischen menschlichen Ergon (Aufgabe, Funktion, Eignung, Leistung, Sinn), das das System vertritt bzw. versprechen die Realisation eines damit verbundenen idealen Bewusstseinszustandes. Das Bonum/Optimum/Glück/gute Leben ist der Zustand, der sich einstellt, wenn sich die Anwender diesem Ideal annähern. So wird etwa die Übung des Verzichts auf tierische Nahrung trotz formal gleichem Ablauf unterschiedlich erlebt, beurteilt und mit anderen Zielen, Motiven oder Wünschen verknüpft, wenn sie durch das Gütesystem der Medizin, einer tierethischen Norm, einer umweltethischen Norm oder einer religiösen Lehre empfohlen wird.

In der postmodernen Kritik erhebt sich der Einwand, dass die institutionellen und kollektiven Lebenskunstkonzepte zu spezifische homo epitheta zu verwirklichen versuchen, um Subjekten in ihrer Gestaltungsfreiheit an möglichen Lebensformen gerecht zu werden. Einzig die historische Erfahrung, dass Menschen sich generell durch Übungen, durch „Technologien des Selbst" nach einem Bilde verändern können und wollen, könne als menschliches Spezifikum geltend gemacht werden.(5) Der posthumanistischen Wette Michel Foucaults, „daß der Mensch verschwindet, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand"(6), folgt daher ein Konzept des radikalen individuellen Selbstentwurfes, ein Angebot, als Schöpfer des eigenen Lebens „sich ein schönes Leben zu machen"(7). Es gelte demnach nicht, gemäß einem vorgegebenen Menschenbild zu leben, sondern durch seine Lebensform ein individuell und situativ geltendes Menschenbild zu erschaffen.(8)

In den gegenwärtig wirkmächtigen Konzepten der Selbstverwirklichung und der Selbstoptimierung wird dieser Vorschlag teilweise verfolgt. Die eher psychisch oder sozial orientierte „Selbstverwirklichung" (und synonym: die „Selbstfindung") akzeptiert das eigene Selbst als Plastik, hält jedoch weiterhin an einem metaphysischen Kern fest, dem „authentischen Selbst", verbunden mit klassischen Leitlinien wie einem Sinn, einer Bestimmung oder einer Aufgabe. Selbstoptimierung hingegen zeichnet sich durch den fortwährenden quantitativen Abgleich eines zumindest aktuell als statisch angenommenen Selbst mit einem Rahmen des Mach-, Denk- oder Wünschbaren aus.

Jedes „Optimum" der Selbstoptimierung ergibt sich aus dem Vergleich, sei dies mit der Gesellschaft, mit den eigenen Ansprüchen oder mit Richtwerten und Rankings, die den Ergebnissen empiristischer Gesundheits- und Sozialwissenschaften entnommen werden. Dadurch verbietet sich dem Selbstoptimierer jedoch innerhalb der Systemstruktur die Annahme qualitativer Zustände wie etwa des Glücklichseins; die Organisation des Konzeptes lässt lediglich die Einordnung der eigenen Verfassung in einer quantitativen Skala als glücklicher, weniger glücklich oder am glücklichsten zu. Es erweist sich jedoch weniger diese funktionale Optimierung an sich als die Abgrenzung der Lebensbereiche, die das Selbst konstituieren bzw. zu dessen Wohl beitragen, als Schwelle des Scheiterns in der Selbstoptimierung. So scheint zum Beispiel unter dem gegenwärtig wirkmächtigen Vitalitäts- und Leistungsdispositiv die „beste" Form gesunder Ernährung nicht nur unmittelbar auch mit der „besten" Form sportlicher Bewegung notwendig verquickt. Mehr noch: Die Steigerungslogik der Athletik hat auch die Diätetik erfasst, zum Beispiel in dem an Beliebtheit zunehmenden Körperkult des Bodybuilding: Die Arbeit an dem idealen Körper als Symbol und Surrogat eines perfekten Selbst scheint auch für Freizeitsportler kaum ohne die penible Kontrolle eines individuell fein abgestimmten Nährstoffhaushaltes, nicht nur der Makro-, sondern gar der Mikronährstoffe auszukommen, worauf der Markt mit einem schier unüberschaubaren Produktangebot an Nahrungsergänzungsmitteln reagiert. Und auch fernab der Körperkultur erweist sich die ernährungsnormative Konkurrenz von Tierwohl, Umweltvertäglichkeit, Gesundheit, Geschmack, günstigem Preis, fairer Produktion u. v. m. als überfordernd und teilweise kontradiktorisch, wenn Menschen versuchen, die ideale Ernährungsweise zu ermitteln. Der Selbstoptimierung mangelt es nicht an Methode, aber an einem klar abzugrenzenden und einzunehmenden Bezugspunkt.

Das Konzept der Selbstverwirklichung hingegen kann mit dem authentischen Selbst ein Leitbild ausmachen, garantiert durch seine Methodik jedoch nicht dessen zeitliche Konstanz. Denn in der fortwährenden Ausrichtung auf ein zukünftiges, „wirklicheres" Selbst verunwirklicht sich stets auch das gegenwärtige. Diese verdiktische Ausrichtung gegen das momentane Selbst gestaltet nicht nur das Erkennen eines authentischen Selbst zu einem zweifelhaften Akt. Sie positioniert auch ausgerechnet das authentische Selbst, mit dessen Erreichen Wohlbefinden, Zufriedenheit, Tatkraft etc. verbunden werden, immerzu in den Bereich des Unerreichbaren, in das „noch nicht".(9)

Als Abhilfe der Zukunft, die jedoch bereits heute mehrere Pionierformen bereithält, bieten sich Verfahren der Prothetik, Genetik, Pharmazeutik, Kryonik oder Neuroinformatik an, dieses Missverhältnis aufzulösen, indem die Könnensseite von Menschen durch Technologie potenziert wird. Menschen, denen die Einhaltung einer kalorienarmen Diät zu schwer erscheint, bietet sich mit der AspireAssist©-Technologie eine am Magen befestigte Apparatur an, mit der über ein Ventil bis zu 30 % des Speisebreis einer Mahlzeit über ein Ventil an der Körperaußenseite abgelassen werden kann, bevor dieser verdaut werden würde. Ursprünglich als Hilfe zu einer Ernährungsumstellung gedacht, nutzen zahlreiche Anwender die Technologie auch über eine Gewichtsreduktion hinaus, um weiter eine kalorienreiche Nahrung reuelos genießen zu können. Der technologische Eingriff in das physische Selbst als Korrektur einer unerwünschten Lebensführung scheint für die Wohlstandsnationen längst eine komfortable, finanzierbare und sozial akzeptierte Alternative zur Überwindung eigener Grenzen geworden zu sein.

Die programmatische Zusammenfassung dieser technologisch gestützten Verfahren der Selbstgestaltung unter der Bezeichnung Transhumanismus, bereits 1957 durch Julian Huxley lanciert, findet derzeit weltweit zunehmend Vertreter und Sympathisanten, insbesondere unter Unternehmern und Intellektuellen im kalifornischen Silicon Valley. Dem postmodernen Posthumanismus ähnlich werden vergangene Humanismen abgelehnt, allerdings aufgrund der Annahme, dass diese durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse obsolet geworden seien. Insbesondere die Erkenntnisse der Evolutionstheorie würden eine Sonderstellung des Menschen und damit auch einen Ismus jeglicher conditio humana ausschließen. Vielmehr lege das evolutionsbiologische Prinzip des survival of the fittest eine Teleologie nahe, das Optimum, Ergon und Telos jedes menschlichen Individuums in der Verbesserung der Überlebensfähigkeit, der Überwindung eines Jetzt-Zustandes zu suchen. Weil sich die Erfindung und Beherrschung von Werkzeugen und Technologien als spezifisch menschlich erwiesen hat und der Mensch in seinem aktuellen biologischen (= physischen wie kognitiven) Zustand sowohl seinen eigenen transzendentalen Ansprüchen als auch den Ansprüchen der von ihm erschaffenen oder kontrollierten Systeme (Moral, Wissen, Natur, Wirtschaft ...) nicht gerecht werden kann, sollten Technologien bei der Überschreitung dieser biologischen Barrieren helfen. Die funktionalen Veränderungen, Erweiterungen oder Spezialisierungen menschlicher Eigenschaften durch die Chirurgie, Prothetik, Eugenik oder Pharmakologie müssten demnach genauso wie der Faustkeil, die Schrift, das Korsett, die institutionalisierte Bildung oder auch die Techniken der vergangenen Lebenskünste als legitime Mittel zu einem insgesamt Besseren gelten.

Neben eher wenig öffentlich beachteten Fachdiskussionen erreichen transhumanistische Themen die Öffentlichkeit in erster Linie über die Leinwand: Hollywood-Filme wie Tron (1982), Transcendence (2014) oder Self/less (2015) thematisieren das so genannte Mind-Uploading, die Übersetzung eines menschlichen Bewusstseins in computerisierbare Daten zugunsten einer Übertragung auf elektronische Speichermedien, eine spekulative Methode, von der sich Transhumanisten wie Ray Kurzweil oder Nick Bostrom die Überwindung der Sterblichkeit erwarten.(10) Im Diskurs um die ethische Legitimation genetischen Enhancements liefert der Film Gattaca (1997) die Vorlage für ein gleichnamiges, noch heute viel diskutiertes Argument zu den sozialen und moralischen Folgen pränataler Selektion für eine Leistungsgesellschaft. Auch die gegenwärtig inflationär die Kinosäle füllenden Superhelden- bzw. Supermenschenfilme (zum Beispiel X-Men (2000), Iron Man (2008), The Avengers (2012), Lucy (2014)) lassen sich als ein generelles Erstarken bzw. Bewerben des transhumanistischen Leitgedankens von der funktionalen Unzulänglichkeit des biologischen Menschen interpretieren.

Die mediale Verknüpfung mit der Science Fiction, aber auch die rhetorische Selbstdarstellung vieler Fürsprecher gerieren den Transhumanismus als visionär, subversiv und originell, sodass auch die fachwissenschaftlichen Diskurse durch zukunftseuphorische oder zukunftspessimistische bzw. technophile und technophobe Haltungen zu verschleiern drohen.(11) Zusätzlich trägt die explizite Nennung des Nietzsche'schen Entwurfs vom Übermenschen als Vorbild des „Trans-human" inklusive dessen Proklamation der "Umwertung aller Werte" zur Intensivierung von Lagerbildungen bei.

Statt sich jedoch mit der Nietzsche-Rezeption zugleich auch in die Konfliktlinien zwischen Modernisten und Postmodernisten zu manövrieren, erscheint auch eine breitere Perspektive zur mentalitätsgeschichtlichen Einordnung aussichtsreich. „Die Menschen können von sich aus alles, sobald sie nur wollen", gilt in seiner Zuschreibung an Leon Battista Alberti bereits als exemplarisches Leitmotiv der zahlreichen und weit wirkenden kulturellen Programme des Renaissance-Humanismus.(12) Neben Alberti scheinen auch viele weitere Schüler des Leitbildes des "uomo universale" von einem euphorischen, optimistischen Glauben an die menschliche Schaffenskraft getragen zu sein. Doch begrenzt sich dieses Schaffen nicht allein auf eine technologische, künstlerische, materielle, politische, soziale Umwelt, auch der Mensch, sowohl als Individuum als auch als Leitbild, ist davon betroffen: In seiner 1496 veröffentlichten „Rede über die Würde des Menschen" offeriert der Philosoph Pico della Mirandola eine Interpretation der biblischen Genesis, die das Spezifikum des Menschen in der Fähigkeit, sich selbst nach einem eigenen Bilde zu gestalten, pointiert. Verbunden mit der Entelechie, sich mit Gott zu vereinen, strebe der Mensch daher stets zu seiner Perfektion.(13)Das Leitbild zahlreicher folgender Denker der Renaissance lautete daher: Apotheose durch Selbstgestaltung zum universalen Menschen, was den Utopien aus Silicon Valley weit näher liegt als eine Nietzsche'sche Philosophie, die ihre "Gedanken aus Schmerz gebären" will.(14)

Wie auch schon in der Renaissance zeigt sich im liberalistischen Argumentieren des Transhumanismus vor allem ein Agitieren gegen religiöse bzw. als religiös verstandene Menschenbilder. Auch wenn dabei das Ablehnen scheinbar irrationaler (und implizit: konservativer oder repressiver) Menschlichkeitsvorstellungen im Vordergrund stehen mag, so wird hierdurch doch auch zugleich und vor allem eine vermeintlich falsche Wahrnehmung von Lebenswelt und Lebenszeit als unveränderbar, determiniert, ewig oder zyklisch abgelehnt. Denn während sich schon die meisten medizinisch basierten Verfahren im Transhumanismus dadurch auszeichnen, sich nicht länger auf das Kurieren von Krankheiten auf einen „Normalzustand" beschränken zu wollen, offenbaren Utopien der Kryonik und Neuroinformatik weiter, dass der Transhumanismus die aktuelle Normalität des Menschseins radikal als defizitär und pathologisch definiert. Dem entgegen strukturiert eine expansive, vorwärts gerichtete Linearität die zentralen Elemente von Welt, Zeit und vor allem Selbst, sowohl in den Leitfiguren des renaissancistischen uomo universale wie dem transhumanistischen trans-human. Diese Linearität scheint durch die Annahme eines perfektionistischen Vollendungszustandes finit. Jedoch unterliegen die progressistischen Systeme den gleichen problematischen Konstellationen, wie sie sich gegenwärtig für die Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung ergeben: Die Technik als genuin überbietende Entlastung menschlicher Mängel bedingt und konstituiert den Menschen kontinuierlich als funktionales Mängelwesen. Diese prometheische Scham schiebt ein friedvolles Erreichen eines Wunschzustandes außerhalb menschlicher wie auch technischer Möglichkeiten. Wie auch andere Systeme der Moderne weist die Struktur des Transhumanismus somit stets ein progressistisches „Hinauf", ein „Noch nicht, aber bald" an, nicht jedoch einen qualitativen Wandel von Bestehendem.


Gegenwärtig umspannt der Diskurs zum Transhumanismus vorwiegend Diskussionen um technische Machbarkeit oder moralische Legitimation, selten jedoch die Frage, ob der Anspruch, zu mehr Glück zu führen, schlüssig sei. Der Transhumanismus erhebt - selbst in den gemäßigten, liberalen Varianten - den Anspruch darauf, bei nur möglichst diversem Angebot von Technologien den Zugang zu allen individuell möglichen Formen des Glücks zu gewährleisten.(15)Mit ihm eröffnet sich jedoch allein ein technik- und leistungsabhängiges, progressistisches, infinit expansives Glück. Ob dieses Konzept zum Führen eines guten, glücklichen, zufriedenen oder gelingenden Lebens hilfreich sein kann, lässt sich in Anbetracht anderer infinitisierter Wachstumseudaimonologien, wie sie bereits heute erfolglos erprobt werden, begründet in Zweifel ziehen. Doch auch gegenwärtig parallel gelebte Modelle guten Lebens wie das Glück durch persönliche Anstrengung bzw. durch anthropogene Techniken, die zufriedene Unabhängigkeit durch „weniger wollen" oder hedonistischen Müßiggang, ja: selbst andere Selbstüberwindungsprogramme, wie sie sich in buddhistischen Lebenskünsten finden lassen, werden durch den Transhumanismus strukturell nicht eingefasst. Ein konfliktfreies Weiterbestehen dieser Systeme unter einem potenziellen Normismus und Normalismus des transhumanistschen Konzeptes vom guten Leben ist allerdings nicht zu erwarten - nicht jede Selbstüberwindung ist eine Selbstüberbietung.

 

 

Literatur:

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 2 - Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Beck, München 1956.

Aspire Bariatrics Incorporated: The Aspire Assist©.http://www.aspirebariatrics.com/about-the-aspireassist/ (11.02.2017).

Aurenque, Diana: Das Posthumane und Nietzsches Übermensch. Eine Blasphemie gegen Gott. In: Aufklärung und Kritik 40/4 (2015), S. 88-97.

Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. 12. Aufl., Kröner, Stuttgart 1988.

Bostrom, Nick: A History of Transhumanist Thought. In: Journal of Evolution and Technology 14,1 (2005), http://jetpress.org/volume14/bostrom.html (10.02.2017).

Ehrenberg, Alain; Lenzen, Manuela; Klaus, Martin: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, 2., erw. Aufl., Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2015.

Engel, Gerhard: Transhumanismus als Humanismus. Versuch einer Ortsbestimmung. In: Aufklärung und Kritik 40/4 (2015), S. 28-48.

Epikur: Ausgewählte Schriften (Hg. v. Christoph Rapp), Kröner-Verlag, Stuttgart 2010.

Epiktet: Handbüchlein der Moral. Reclam, Stuttgart 2014.

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. 23. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2015.

Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007.

Frances, Allen: Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. DuMont, Köln 2014.

Fukuyama, Francis: Transhumanism. The world's most dangerous idea. In: Foreign Policy 9-10, S. 42f., http://www.au.dk/fukuyama/boger/essay/ (10.02.2017).

Groth, Bernd: Lebenskunst - Lebenskönnerschaft - Lebensklugheit. In: Thomas Gutknecht, Beatrix Himmelmann u. Thomas Polednitschek (Hg.): Philosophische Praxis und Psychotherapie. Gegenseitige und gemeinsame Herausforderungen. Jahrbuch der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP) 3. LIT-Verlag, Berlin u. Münster 2008. S. 145-158.

Hadot, Pierre u. Hadot, Ilsetraut: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. 2. Aufl., Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005.

Kipke, Roland: Ignoriert, dementiert, kritisiert: Menschliche Selbstformung im Schatten der technischen Optimierungsstrategien. In: Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter u. Jürgen Straub (Hg.): Menschen machen. Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme. Transcript, Bielefed 2012. S. 269-304.

Kurzweil, Ray u. Grossman, Terry: Transcend. Nine steps to living well forever. Rodale Press, New York 2010.

Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. Reclam, Stuttgart 2012.

Manoj, V. R.: Spiritual Transcendence in Transhumanism. In: Journal of Evolution & Technology 17/1 (2008). S. 1-10.

Montaigne, Michel de: Philosophieren heißt sterben lernen. In: Josef M. Werle (Hg.): Klassiker der philosophischen Lebenskunst. Von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Lesebuch. Goldmann, München 2000.

Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Band 3 (hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari). 2. Aufl., DTV / de Gruyter, Berlin u. München 1988.

Pico della Mirandola, Giovanni: Über die Würde des Menschen. Lateinisch-deutsch (hg. und eingeleitet von August Buck). Meiner-Verlag, Hamburg 1990.

Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998.

Schmid, Wilhelm: Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005.

Seneca: Seneca für Zeitgenossen. Ein Lesebuch zur philosophischen Lebensweisheit (hg. von Josef M. Werle). 2. Aufl., Goldmann, München 2000.

Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Siedler Verlag, Berlin 2000.

Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Suhrkamp, Berlin 2011.

Sieben, Anna, Sabisch-Fechtelpeter, Katja u. Straub, Jürgen: Menschen besser machen. Terminologische und theoretische Aspekte vielgestaltiger Optimierungen des Humanen. In: Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter u. Jürgen Straub (Hg.): Menschen machen. Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme. Transcript, Bielefed 2012. S. 27-74.

Sloterdijk, Peter: Menschenverbesserung. Philosophische Stichworte zum Problem der anthropologischen Differenz. In: Urs Baumann (Hg.): Was bedeutet Leben? Beiträge aus den Geisteswissenschaften. Lembeck, Frankfurt am Main 2008. S. 149-167.

Sloterdijk, Peter: Von der Domestikation des Menschen zur Zivilisierung der Kultur. Zur Beantwortung der Frage, ob die Menschheit zur Selbstzähmung fähig ist. In: B.-Christoph Streckhardt (Hg.): Die Neugier des Glücklichen. Eine Festschrift für den Gründer des Kollegs Friedrich Nietzsche. Bauhaus-Universitätsverlag, Weimar 2012. S. 194-205.

Sorgner, Stefan Lorenz: Stammbäume des Meta-, Post- und Transhumanismus. In: Aufklärung und Kritik 40/4 (2015). S. 4-27.

Sorgner, Stefan Lorenz: Plädoyer für einen schwachen Transhumanismus. In: Aufklärung und Kritik 40/4 (2015). S. 273-290.

Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004.

Thomä, Dieter: Lebenskunst zwischen Könnerschaft und Ästhetik. Kritische Anmerkungen. In: Wolfgang Kersting u. Claus Langbehn (Hg.): Kritik der Lebenskunst. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007. S. 237-260.

Werle, Josef M. (Hg.): Klassiker der philosophischen Lebenskunst. Goldmann, München 2000.

 

 

Beyer (220k)

Quellen, Anmerkungen

  1. Vgl. Senett, Der flexible Mensch.  
  2. Für einen kritischen Überblick vgl.  Groth, Lebenskunst - Lebenskönnerschaft - Lebensklugheit.  
  3. Vgl. Montaigne, Philosophieren heißt sterben lernen, 217 sowie Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 22.  
  4. Epikur, Brief an Menoikeus, 8-9.  
  5. Vgl. Foucault, Ästhetik der Existenz, 287-318.  
  6. Foucault, Die Ordnung der Dinge, 462.  
  7. Schmid, Schönes leben, 174-175.  
  8. Vgl. hierzu den treffenden Begriff „Anthropotechnik" in Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern.  
  9. Vgl. Thomä, Vom Glück in der Moderne, 276.  
  10. Vgl. Bostrom, A history of transhumanist thought, 1ff. sowie Kurzweil, The singularity is near.  
  11. Vgl. Fukuyama, Transhumanism.  
  12. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 102-103.  
  13. Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, 7.  
  14. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 349.  
  15. Vgl. Sorgner, Plädoyer für einen schwachen Transhumanismus, 279-280.  
Martin Beyer