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Der Hedonismus – eine fröhliche Anthropologie

Sebastian KNÖPKER.   

Der Hedonist fängt als Kind mit einer kleinen Lust an, am Sandstrand. Da entdeckt er beim Bau der Sandburg das Baugefühl, also die Lust daran, dass es voran geht, dass sich etwas tut und sich die Dinge fügen.

Diese Ur-Lust am Bau lässt sich auf andere Baustoffe übertragen, auf die Musik etwa, wo der Klavierspieler seinem Bautrieb auf ganz andere Weise nachgeht. Der Baustoff Ton fügt sich zur Melodie und wird darin zum Baugefühl.

Dieselbe Lust am Weiter und Voran gibt es auch ganz klassisch beim Weintrinken. Die alkoholischen Lüste, das Aufsteigen von Weite, Kraft und Anstrengungslosigkeit, bilden sich nämlich langsam heran und werden darin zu einer Lust für sich.

Das Kind vom Strand kann also, wenn es langsam erwachsen wird, aus der Lust am Sandburgenbau eine Formel machen und dieselbe Lust in ganz anderen Bereichen entdecken. Wenn der Erwachsene die Baulust nur soweit übersetzt, Spaß am Hausbau zu haben, bleibt er am ursprünglichen Stoff (Sand, Zement) hängen. Er schafft es nicht, die Lust am Bau auf Musik, auf Alkohol oder auf Sex zu übertragen und begnügt sich damit, durch ein Sturzbier ohne gutes Baugefühl schnell durchalkoholisiert zu werden. Was ihm fehlt ist das Absehen vom konkreten Gegenstand, der wie Lothar Kolmer richtig sagt, nicht entscheidend ist. Stattdessen braucht man das „Durchdenken des Ganzen"(1).

Hedonismus heißt damit, aus einer Lust am Rande eine Formel zu gewinnen - in diesem Falle die Baulust - und sie nach und nach in andere Bereiche zu übersetzen. Man kann sie beim Kochen und Essen wiederfinden, beim Philosophieren, beim Schweigen, in der Erotik und bei der Arbeit am Projekt. Nahe Verwandte der Baulust sind das Deponiergefühl (Weinkeller wächst heran) und das Architekturgefühl (Gefühl, Neues zu erschaffen). Die Schlange isst dabei solange andere Schlangen, bis sie zum Drachen wird. Anders ausgedrückt ist die einzelne Baulust nur Moment, aber alle Momente zusammen genommen bilden ein System.

 

Lust am Mehr

Eine andere Lust findet sich im Genuss an der Zunahme der eigenen Kraft. Die Selbststeigerung besteht dabei darin, viel Kraft zu verausgaben und dadurch noch mehr Kraft zurückzubekommen. Bekannt ist das vom Wandern oder vom Langstreckenlauf, wo man seine Energie nicht sinnlos vertut, sondern nach einer Weile als Superplus, als Mehr an Kraft zurückbekommt.

Der Kokainfreund will sich darauf nicht einlassen und verkürzt das Vorgehen darauf, ohne vorherige Investition zu seiner Selbststeigerung zu kommen. Dabei macht er ein Minusgeschäft, weil die Euphorie später alles mit Zins und Zinseszins als Schlaffheit und Mangel zurücknimmt. Hedonistisch empfehlenswert ist es daher, sich Verausgabungen im Kleinen zu suchen, so wie die Zubereitung einer Ochsenschwanzsuppe oder das Brotbacken etwa(1), um darin seine Kraft erst einzubringen und später als Zuwachs zurückzugewinnen. In der Komfortzone der Anstrengungslosigkeit zu bleiben, macht so oft keinen Sinn.(3)

Die Lust an der Zunahme aus einem Gefühl heraus ist in Reinkultur auch beim sich aufbauenden Orgasmus zu erleben. Schade nur, dass sie so schnell vorbei ist (oft beim Mann) oder sich gar nicht so leicht aus der Reserve locken lässt (oft bei der Frau). In der Kombination der beiden Formeln von der Baulust und der Selbststeigerung lässt sich dabei allerdings das Aufbaugefühl in den Griff bekommen. Dabei hilft der so genannte Liebesmuskel (Musculus pubococcygeus). Er selbst ist keine Lust und wird erst zu einer, wenn Muskeln sich untereinander auf nicht sehr zärtliche Weise berühren. Das kennt man vom Lachen, das dadurch entsteht, dass Muskeln mit- und gegeneinander arbeiten. Die rhythmisch gehemmte Ausatmung führt dann dazu, dass die beteiligten Muskeln vom Ding zum Gefühl werden, zur Lachmaterie. Diese Durchblendung vom Ding zum Gefühl gilt auch beim Weinen oder beim Kitzeln. Sie gilt schließlich auch in der Muskulatur des Unterleibs, wo der PC-Muskel eine zentrale Rolle spielt.

Genauer ist es der Widerstand, die Verausgabung von Kraft, die zu Lust führt. Beim Yoga lässt sich das gut im Detail studieren, wo aus Anstrengung Anstrengungslosigkeit wird, aus Muskeln, Sehnen und Bindegewebe das Gefühl von Weite, Enge oder Tiefe. Hatha-Yoga ist eine Schule dafür, eine besondere Art der Berührung der Muskeln untereinander zu erfahren, die dann als praktisches Wissen auf ganz andere Felder übertragen werden kann. Gemeint ist damit das Singen, das den ganzen Körper als gefühlten Leib einsetzt oder eben auch die Erotik und die Sexualität. Auch dort werden oberflächliche Berührungen (Haut auf Haut) unter die Haut gebracht, die dann u. a. im Unterleib wie beim Lachen die Muskeln als gehemmten Rhythmus ansprechen.

Wer nun seinen Orgasmus ausgehend von der ersten kleinen Erregung aufbauen will, der braucht ein gutes Baugefühl, in dem der Übergang vom Körper zum Gefühl und darin von einem Gefühl zum nächsten orchestriert wird. Das Baugefühl ist nicht bloß eine Lust, sondern zeigt auch als vorreflexives Wissen an, wo man in Sachen Höhepunkt steht. Die Erotisierung des Leibes arbeitet dabei mit einer ganzen Serie von Durchblendungen, bei der zunächst Gefühle von Leichtigkeit, Empfänglichkeit oder Furcht aufkommen. Sie gehen dann über in andere Empfindungen, wie zum Beispiel in die Weichheit. Das Leibgefühl des Weichwerdens kennt jeder vom Anblick schlafender Katzenbabies, die sich aneinander kuscheln. Diese kleine Lust auch im Sex als Teil einer Lustserie selbstverständlich zu leben, ist aber schon eine Herausforderung, die nicht jeder besteht. Das gilt auch für das Leibgefühl der Härte, bei der Frau die gespürte Härte der Brustwarzen und beim Mann die der Erektion. Dabei geht es nicht um die Härte des Körpers, sondern um die der gespürten Konsistenz.

Der PC-Muskel steht nur stellvertretend für den ganzen Leibkörper und ist das Stichwort dafür, im subtilen Überschleichen der Gefühlsfärbungen untereinander, also von Leichtigkeit, Anstrengungslosigkeit, Weite, Tiefe, Enge, Macht, Kraft, Weichheit, Härte etc. den sich ankündigenden Orgasmus nicht schnellstmöglich zu durchfahren, sondern durch die große Vernunft des Leibes zu bestimmen. Kombiniert wird dabei ein Alphabet der Gefühle mit der Selbststeigerung und dem Baugefühl.

 

Konsument vs. Produzent

Die einzelne Lust und ihre Kombinationen machen also Politik, indem sie als Formel in ganz anderen Lebensbereichen immer wieder neu erfunden wird. Es geht dann nicht nur um Lustgewinn, sondern auch um den Wechsel vom Konsumenten zum Produzenten. Der Mensch ist Konsument darin, an der Welt teilhaben zu müssen, um sich selbst etwas zu werden. Ich brauche also Kekse, um sie zu essen und mich darin zu spüren. Ich brauche einen Kinofilm, um darin lebendig zu werden und ich spiele mit dem Hund, um mich darin zu fühlen. Da ist also immer etwas im Horizont der Welt, was mir Fülle und Lust gibt, so dass ich konsumieren muss. Ein ungünstiger Status, der zugunsten des Produzenten überwunden werden sollte.

Produzent als Mensch bin ich darin, dass sich meine Lebendigkeit in jedem Augenblick aufs Neue in mir ereignet. Sie kommt als eine Art des Zwangsgeschenkes in mir an, was sich spätestens dann zeigt, wenn ich einen Tag lang auf dem Sofa sitze und nichts mache. Das Leben wehrt sich dann gegen das Nichtstun und will unbedingt gelebt werden. Die Kraft und die Energie kommen also nicht aus der Welt, nicht vom Keks oder vom Hund, und schon gar nicht von Gott, sondern in mir aus mir heraus.

Hedonistisch betrachtet öffnet das Wege und Horizonte, weil die Lust und ihre Formel in mir, in meiner Lebendigkeit stecken und nicht in der Welt. An der „gehobenen Tatsache", an der Lust am Sosein zeigt sich das sehr gut: in ihr freut sich der Mensch, bloß weil er sich spürt. Diese hedonistische Tautologie kann man genauso mit Kälte (Winterbad), mit Hitze (Sauna), nach gutem Sex, nach langer Anstrengung (Marathon), mit Liebe, im Schweigen, mit einem fettreichen Essen (Cassoulet), mit Fasten etc. verwirklichen. Normalerweise ist die Tatsache, am Leben zu sein, wenig aufregend, aber dieser Sachverhalt wird entschieden unsachlich, wenn man die richtige Strategie an der Lust am Sosein umsetzt.

Die Liste der Daseinslüste ist dabei so reichhaltig, dass meine Abhängigkeit von ganz bestimmten Konstellationen in der Welt stark gemildert wird. Ich brauche immer noch die Teilhabe an der Welt, bin aber mir selbst der Produzent, weil ich sowohl die Lebendigkeit als auch die Formeln in mir trage, sie umzusetzen. Die berühmten Umstände sind damit besiegt.

Hat der Hedonist nun viele dieser Formeln, so gewinnt er eine starke Unabhängigkeit und ein Vertrauen in das Leben. Denn mit dem Baugefühl oder mit der Selbststeigerung kommt es ebenfalls zu einer Wendung vom Konsumenten zum Produzenten. Das Lebensvertrauen ist dabei als Selbstverhältnis nicht ein Bezug auf das Ich, sondern auf die Passivität in sich, also konkret auf das Lebendigwerden in jedem Moment. Es ist auch ein Vertrauen in das mit aktivem Wollen, Wünschen und Drängeln in der Regel nicht umsetzbare hedonistische Lebenswissen. Dieses Vertrauen ist dabei als Durchstimmung und Durchwohnung des Selbstgefühls selbst eine Lust, ein ursprünglicher Genuss als Selbstliebe vor jeder konkreten Eigenschaft.

 

Möglichkeit statt Wirklichkeit

Zu den Lüsten, die der Genüssling braucht, um sich nach und nach das Lebensvertrauen zu schaffen, gehört auch die Vertauschung von Wirklichkeit und Möglichkeit. Was nur möglich ist, soll dabei als Lust schon wirklich werden. Bei der erotischen Berührung ist das so, weil sie sich immer schon voraus ist. Das kennt man von der Spinne, die dem nackten Rücken herunterläuft. Da ist es nicht wo wichtig, wo die Spinne gerade ist, sondern wo sie hinlaufen kann. Das Zentrum der Unlust besteht also in dem Bewusstsein der vielen unfreundlichen Möglichkeiten. Für die erotische Berührung heißt das: die Lust ist da, wo sie noch nicht ist, wo also die direkte und abstandslose Berührung in die Ferne und in die Zukunft geht. Was noch nicht ist, das ist dann schon Lust und wo die Berührung hin gehen könnte, da ist sie schon.

Berührung und Berührtwerden bilden dabei eine komplexe Materie, denn wer in der Zweisamkeit berührt, der wird zugleich seinerseits berührt. In diesen Berührungen kommt es jeweils noch einmal zum Berührtwerden, weil die erotische Lust immer in einer Passivität besteht, genauer in einer Verwirklichung von bloßen Möglichkeiten als Lust.

Diese Möglichkeitenwirtschaft lässt sich beinahe beliebig ausdehnen und findet sich so etwa im Tai Chi Chuan wieder, wo die Bewegungen sich eben voraus sind. Das gilt für alle Kampfsportarten, aber natürlich auch für das Schachspiel, wo die Denkmöglichkeiten die Wirklichkeit deutlich übersteigen. Möglichkeit vor Wirklichkeit gilt auch oft beim Reisen, in dem Korrespondenzen und Atmosphären als glücklicher Überschuss an Optionen wirksam werden. Lernt man den unbekannten Ort dann nach und nach kennen, verschwinden die Möglichkeiten und der Zauber leider oft.

 

Lust am Leiden

So wie die Möglichkeiten sind auch die Schmerzen und das Leid in den Hedonismus hineinzuholen. Spielerisch kann man das mit Musik machen, mit der Traurigkeit der Matthäuspassion, an der man wollüstig gerne leidet, oder mit der Wutmusik von Ludwig von Beethoven. Dort hat man Freude an der Wut, so wie man sie beim Death-Metal in einer Mischung aus Melancholie und Hass hat. Ob die Musik nun die Lust am Weinen (einige Kantaten von J.S. Bach), am Verlorensein (Blues) oder am Bellen des frustrierten Hundes (Post-Punk) fördert, so gibt es in jedem Fall eine Einheit von Genuss und Schmerz.

Natürlich gilt das auch für das Essen, wo eine wichtige Zutat der Schmerz, das Beißen oder das Brennen von Chili, Meerrettich, Szechuan-Pfeffer, Senf oder Salmiak ist. Die neurologische Verwirrung der trigeminalen Nerven schmerzt ohne Frage, bringt zugleich darin aber eine Lust an der Lebendigkeit auf, die für viele selbstverständlich geworden ist. Ist die Suppe zu fade, greift man zum Pfeffer. Sind die Chips zu öde, kauft man sich andere mit mehr Chili.

Höchste Ansprüche an den Hedonisten stellt die Beschäftigung mit dem eigenen Leid, also mit Hilflosigkeit, Depression, Hassgefühlen etc. Auch sie lassen sich als Lust an der Lebendigkeit empfinden, lässt man sich auf die ein. Die Verzweiflung besitzt so immer einen Tiefpunkt, der einen Höhepunkt hervorbringen kann. Die Mystiker um Johannes vom Kreuz und Johannes Tauler oder der Gestapo-Häftling Dietrich Bonhoeffer haben dieses Tiefseetauchen des Schreckens sehr überzeugend geschildert. Wer ein Hedonist sein will, muss sich daran halten, sich beweisen oder scheitern.

 

Präsenz vs. Sinn

Zum Hedonismus gehört also Lust wie Unlust, aber auch Präsenz, Freiheit, Sinn und Identität. Insbesondere das Sinnerleben wird dem Hedonisten recht grundsätzlich abgesprochen. Sinn ist allgemein ein Zweck der in sich gegründet ist und damit zum Selbstzweck wird. Kein Mensch kann nur mit der Verfolgung von Zwecken leben - er braucht immer auch solche Zwecke, die in sich bestimmt sind. Diese Selbstzwecke fundieren das sonst zweckhafte Leben, das oft nur in der Verfolgung fromm kommerzieller Interessen besteht.

Die hedonistische Strategie besteht zunächst darin, Präsenz durch Sinn zu ersetzen. Die eigene Lebendigkeit ist wie gezeigt ihr eigenes und einziges Kriterium. Das Selbstgefühl ist also eine absolute Gewissheit, die durch nichts in der Welt gesteigert oder gemindert werden kann. Die Präsenz als Lebendigkeit ist damit in sich fundiert, was die meisten Sinnerlebnisse nur vorgeben, denn die Erwerbsarbeit, damit etwa die eigenen Kinder es einmal besser haben ist keineswegs ein Selbstzweck. Sie wird oft oberflächlich so erlebt, weil Menschen sich nicht viel Mühe machen wollen, sich in sich als Präsenz (Lebendigkeit) zu gründen.

Präsenz ersetzt Sinn dabei in vielen kleinen Schritten. Die Bezeugung etwa, in einer Berührung oder in einem Blick in dem gesteigert zu werden, was man schon ist, stellt eine solche fundierende Präsenz dar. Wer nach Hause kommt und von seinem Hund freudig begrüßt wird, der wird bezeugt. Er spürt darin, nicht nur zu leben, sondern zu Recht und autorisiert zu leben. Ist statt dem Hund ein Mensch der Bezeugende, so fällt die Kraft der Autorisierung noch stärker aus.

Natürlich hat der Hedonist aber auch nichts gegen Sinnerlebnisse, denn sie sind immer auch ein Genuss. Der Hedonismus des Garten- und Landbaus hält einfache Sinnerfahrungen bereit, so wenn der Gärtner über Jahre hinweg seinen Boden verbessert, so dass er weder zu hart, noch zu krümelig ist, nicht bröckelt, sondern bröselt und unter dem Spatenstich knistern, aber nicht schnalzt.(4) Man setzt dann mit Lust und Sinn den Fuß auf den richtigen Ort, also auf den verbesserten Boden.

Entscheidend sind dabei aber nicht solche Sinnerfahrungen um die Bodenverbesserung oder um die Vermittlung von Wissen an die eigenen Kinder, sondern das Verhältnis zur eigenen Lebendigkeit. Das Lebensvertrauen ist wie gesagt das Zentrum des Hedonisten. Hat man es als Habe und nicht als Besitz, spürt man in jedem Moment die Gründung seines Lebens in sich. Der Hedonist ist also in der Präsenz und nicht in der Lust gegründet. Weil die Lust aber immer gleichursprünglich mit der Präsenz, hat der Hedonismus die Kraft der Autorisierung des Daseins.

 

Der Gebrauch der Lüste

Ob man ein Talent für den Hedonismus hat, zeigt sich an der Konkurrenzfähigkeit der Lüste zu den Sorgen und Leiden. Normalerweise konkurrieren viele Probleme zu einer Zeit darum, den Menschen zu beschäftigen. Wenn man allen gleichzeitig gerecht wollen würde, bekäme man einen Nervenzusammenbruch. Stattdessen gibt es einen Konkurrenzkampf der Sorgen, wo sich für kurze Zeit immer eine Problematik an die Spitze setzt, die dann recht bald wieder verdrängt wird.

In diese Konkurrenz mischen sich beim Hedonisten die Lüste, die ihre Qualität dadurch beweisen, dass sie Zwangsgedanken spielend verdrängen. Die Bindungskraft der Lust ist dann höher als die der Gesamtheit der Sorgen. Klassische Anwendungen finden sich beim Kochen und Essen, wo das Kochen am Abend die Sorgenlandschaft erfolgreich aufhebt und das Schmecken, wie dann auch das Verdauen die Nachfolge antritt. Die Gastrosophie ist in dem Fall existenziell bedeutsam und mehr als eine bloße Lustserie, weil sie die Durchflüsterung mit Problemen gar nicht erst zulässt. Deswegen wird sie auch ganz richtig als „die Lehre von der Weisheit des Essens" bezeichnet.(1)

Der Hedonismus stellt sich aber auch so unter Beweis, dass er auch für Menschen interessant wird, die nicht so sehr auf Lüste aus sind, aber die Selbstorganisation des Hedonismus schätzen. Produzent statt Konsument zu sein, Präsenz statt Sinn zu pflegen, aus Details Welten zu machen und Monopole wie die Liebe und die Sexualität zu überwinden sind so attraktiv, dass auch Leute auf den Geschmack kommen, denen es eigentlich reichen würde, hier und da kleine Viertelstündchen des Glücks aufzutreiben. Sie werden vom „Selbsterziehungprogramm" des Hedonismus angezogen.(1)

Anziehend ist dabei allein schon die Aussicht, die in der Sexualität eingeschlossenen Lüste zu befreien und auch in ganz andern Kontexten leben zu können. Erotik und Sex sind auf die Weise bei vielen unaufgeklärt geblieben, als dass die feste Überzeugung gelebt wird, dass bestimmte Lüste nur im Sex gelebt werden können.

Was nun in Erotik und Sex an Genüssen monopolisiert ist, die Bezeugung, der Orgasmus, das Baugefühl, die Erfahrung von Tiefe etc. lässt sich auch in anderen Konstellationen leben, beim Essen, beim Laufen, in der Musik etc. Jeder Mensch hat dabei andere Monopole, aber alle zeichnet es aus, dass sie eine Lust nicht aus einem Horizont in den anderen übertragen können. Beispielsweise ist die Lust an der Mehrstimmigkeit beim Essen, in der Suppe, wo die einzelnen Aromen keinen Gesamtgeschmack ergeben, sondern im Zusammenspiel einzeln herausgeschmeckt werden, genauso in der Musik zu erleben, beim Gregorianischen Chor etwa oder auch nur bei einem polyphonen Klingelton. Dieselbe Polyphonie gibt es nun auch im Sex, wo ganz unterschiedliche Berührungen zu einer Zeit nicht einen erotischen Mischmasch ergeben, sondern in der Einheit eine harmonische Vielfalt ergeben.

Mehrstimmigkeit kann so von einem Detail zu vielen kleinen Welten werden. Dasselbe gilt für die Lust am Leiden, die viele Möglichkeiten bietet, von einer Nebensache zu einer Vielzahl alltäglicher Horizonte zu werden. Dabei muss es nicht immer eine gediegene Lust sein, da selbst bei der Autowäsche dieser Übergang vom Detail zur Welt stattfinden kann. Normalerweise läuft sie einfach so mit, aber man kann beim Polieren, Pflegen und Wachsen einen ganzen Horizont für sich entdecken, der über den Lustgewinn den Vorteil hat, sich als Mensch zu entwerfen und darin reicher zu werden. Selbst die Welt der Cockpitsprays und Wachsversiegelungen hat so einen ernst zu nehmenden Mehrwert als fröhliche Anthropologie.

Wie sich also zeigt, kann es einen überzeugenden Hedonismus nur im Detail geben, während der Begriff des Hedonismus aus dem Duden zunächst abstrakt und damit weitgehend unbrauchbar ist. Ohne konkrete Bestimmung des Hedonismus ist keine fröhliche Anthropologie möglich, also keine Menschwerdung vom Luststreben aus. Ohne Anthropologie aber bleibt die Lustsuche eine merkwürdig niedliche Freizeitangelegenheit für Ästheten. Stattdessen wurde hier auf engstem Raum eine Form der Selbstorganisation ausgehend von unscheinbaren Lüsten entwickelt, die einmal zur Formel geworden eine Summe bilden, die den Menschen ausmachen können.

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Quellen, Anmerkungen

  1. Vgl. Beitrag von Ute von Maurnböck-Mosser „Hedonismus. Gemäßigte Begierden?" in dieser Epikur-Ausgabe.  
  2. Vgl. Beitrag von Ute von Maurnböck-Mosser „Hedonismus. Gemäßigte Begierden?" in dieser Epikur-Ausgabe.  
  3. Vgl. Beitrag von Ute von Maurnböck-Mosser „Hedonismus. Luxuriöse Askese?" in dieser Epikur-Ausgabe.  
  4. Vgl. den Jah-Bauern im Beitrag von Ute von Maurnböck-Mosser „Hedonismus. Lebenswege und Lebensformen" in dieser Epikur-Ausgabe.  
  5. Vgl. Beitrag von Ute von Maurnböck-Mosser „Hedonismus. Gemäßigte Begierden?" in dieser Epikur-Ausgabe.  
  6. Vgl. Beitrag von Ute von Maurnböck-Mosser „Hedonismus. Gemäßigte Begierden?" in dieser Epikur-Ausgabe.  
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