Im Hinblick auf die ethischen Implikationen des Essens, also beispielsweise die Art und Weise der Produktion von Nahrungsmitteln (Tierzucht und -haltung, Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden, Gentechnik, künstlichen Aromen und Geschmacksverstärkern ...) und deren politische Rahmenbedingungen bis hin zum individuellen Einkaufs- und Konsumverhalten, ist häufig eine Art „Schwarzer Peter"-Spiel zwischen Wirtschaft, Politik und der Ebene der Konsumentinnen und Konsumenten zu beobachten: Die Wirtschaft schiebt den „Schwarzen Peter" gerne an die Politik („Wir produzieren, was und wie die politischen Rahmenbedingungen es zulassen, müssen dies tun, weil wir sonst nicht mehr konkurrenzfähig sind") oder an „den" Konsumenten („Wir produzieren, was der Kunde will - und der Kunde will vor allem billige Nahrungsmittel"); die Politik schiebt ihn zurück an die Wirtschaft („Man kann nicht alles regulieren - Eigenverantwortung ist gefordert!") oder ihrerseits an „den" Konsumenten (der in der Masse nun mal die Partei wählt, die im Hinblick auf die Lebenshaltungskosten die größten Versprechungen macht, seien sie haltbar oder nicht), während „der" Konsument - der „schlafende Riese"(1) - zum einen häufig tatsächlich „schläft" (sprich: sich weder seiner Verantwortung noch seiner potentiellen Macht bewusst ist - bzw. sein will) und sich zum anderen gerne auf Politik und Wirtschaft rausredet, die ohnehin „machen, was sie wollen".
In diesem Beitrag wird der Fokus auf der Ebene der Konsumentinnen und Konsumenten liegen, wobei der philosophische Ansatz als „verantwortungsethisch" im Sinne des Jonas'schen „Prinzips Verantwortung"(2) verstanden werden kann, eher aber noch als pragmatisch-klugheitsethischer, der sich vor allem am „Prinzip Eigennutz" orientiert.
Dabei stelle ich zunächst einige sehr knappe allgemeine Überlegungen zum Begriff der „Identität" an, erläutere dann den (m. E. höchst unmittelbaren) Zusammenhang zwischen Essen und Identität, woraus ich anschließend eine Reihe von mehrdimensionalen konsumentenethischen Konsequenzen ableite (auch dies freilich nur in der Form von „Schlaglichtern"), um dann mit einigen skeptischen Überlegungen zu schließen, ob tatsächlich damit zu rechnen ist, dass „der" Konsument bereit sein wird, den ernährungsethischen „Schwarzen Peter" für sich zu akzeptieren und sein Verhalten im Sinne einer verantwortlichen Gastrosophie zu ändern.
1. Was heißt eigentlich „Identität"?
Der lateinische Begriff „idem" bedeutet so viel wie „derselbe" oder „der gleiche", und mit „Identität" ist daraus abgeleitet bei einem Menschen die spezifische Eigentümlichkeit seines Wesens gemeint, die ihn von (allen) anderen Menschen unterscheidet, bzw. die Summe aller Merkmale - wie beispielsweise der unverwechselbare, einzigartige Fingerabdruck -, die ihn als Individuum oder Person eindeutig identifizierbar machen. In dieser Hinsicht spricht man dementsprechend von personaler Identität oder von Ich-Identität.
Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Denn wir Menschen sind natürliche Sozialwesen, was nicht zuletzt heißt, dass sich die Ich-Identität nur in sozialer Gemeinschaft entwickeln kann, wobei die natürlichste oder ursprünglichste Gemeinschaft - jedenfalls aus evolutionär-anthropologischer Perspektive - die Familie bzw. die Gruppe der genetisch Verwandten ist. Und auch wenn wir in modernen Gesellschaften in eine Fülle von weiteren sozialen Gemeinschaften eingebunden sein (Freundeskreis, Verein, Schulklasse, Partei ...) und entsprechende Wir-Identitäten oder „kollektive Identitäten" jenseits unseres „Genpools" ausbilden (können), spielt doch das evolutionäre Erbe nach wie vor eine wichtige Rolle, die auch für das Thema „Ethik der Ernährung" von größter Relevanz ist.(3)
2. Was hat das nun mit Essen zu tun?
Die Frage, was nun das Essen mit personaler Identität und kollektiven Identitäten im beschriebenen Sinn zu tun haben, lässt sich denkbar einfach beantworten: sehr viel! Viel mehr jedenfalls, als man vielleicht spontan vermuten mag - zumal in einer Kultur wie der unseren, in der das Essen im Vergleich zu anderen, „wichtigen" Dingen wie Arbeit, Karriere oder materiellen Gütern häufig noch als eher belanglose Nebensache betrachtet wird.
Dabei ist der Gedanke im Grunde trivial, dass unsere Ernährungsgewohnheiten mit ihren Vorlieben ebenso wie ihren Tabus einen wesentlichen Teil unserer kulturellen Identität ausmachen.(4) Das ist beispielsweise die Pointe in der „Anleitung zum vorzeitigen Herzinfarkt" des österreichischen „Seminar-Kabarettisten" Bernhard Ludwig, für den diese „Anleitung" in Österreich denkbar einfach ist: „Ernähren Sie sich einfach weiter wie bisher, ganz normal also: viel Fleisch, viel Fett, viel Alkohol. Die Methode ist todsicher."
Dieser „essthetische" Aspekt der kulturellen Identität hat natürlich auch unausweichlich und sehr konkret etwas mit unserer personalen Identität zu tun. „Der Mensch ist, was er ißt", lehrte bekanntlich bereits 1850 Ludwig Feuerbach, und er meinte das in einem sehr wörtlichen Sinne:
„Wir sehen zugleich hieraus, von welcher wichtigen ethischen sowohl als politischen Bedeutung die Lehre von den Nahrungsmitteln für das Volk ist. Die Speisen werden zu Blut, das Blut zu Herz und Hirn, zu Gedanken und Gesinnungsstoff. Menschliche Kost ist die Grundlage menschlicher Bildung und Gesinnung. Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen. Der Mensch ist, was er ißt."(5)
Wir werden, was wir uns einverleiben und verstoffwechseln, weshalb es auch alles andere als nebensächlich oder beliebig ist, was wir uns einverleiben - eine Einsicht, die freilich schon in der berühmten Empfehlung des griechischen Arztes und Philosophen Hippokrates (460-377) zum Ausdruck kommt:
„Eure Nahrungsmittel sollen Eure Heilmittel sein, und Eure Heilmittel sollen Eure Nahrungsmittel sein."(6)
Diese alten (resp. uralten) Einsichten werden heute von der Ernährungsmedizin und auch von der modernen Gehirnforschung uneingeschränkt bestätigt. Der enge Zusammenhang zwischen Ernährung und Gehirnfunktion ist inzwischen gut belegt(7) und (populärwissenschaftliche) Autoren wie Hans-Ulrich Grimm vertreten sogar die These, dass wir uns mit industrieller Nahrung sukzessive dumm essen.(8) Auch wenn die „harten" wissenschaftlichen Belege für die Richtigkeit derartig starker Thesen noch ausstehen mögen, ist der Grundgedanke wiederum geradezu banal: Wenn wir uns vom Arzt ein Medikament verschreiben lassen, gehen wir davon aus, dass die in diesem Medikament enthaltenen Wirkstoffe in unserem Körper bestimmte Effekte auslösen: den Blutdruck senken z. B. Nicht anders verhält es sich aber mit unseren Nahrungsmitteln: Auch sie enthalten Wirkstoffe, die in unserem Körper Effekte auslösen. Und dass übermäßiger Fleisch- und Alkoholkonsum über längere Dauer bei gleichzeitigem Bewegungsmangel die direkte Ursache für den Bluthochdruck sein kann, gegen den dann das vom Arzt verordnete Medikament eingenommen werden muss, ist nun einmal eine simple Tatsache - ebenso simpel wieder der Zusammenhang zwischen (falscher) Ernährung und Diabetes Mellitus 2, Hyperurikämie (Gicht), Rheuma, Opstipation (chronische Verstopfung), Osteoporose, Hypercholesterinämie, Herz- und Kreislauferkrankungen, zahlreichen Allergien und sehr wahrscheinlich auch zerebralen Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer und Insulten.
Überaus spannend ist im Hinblick auf den fraglichen Zusammenhang von Essen und Identität auch das relativ neue Forschungsgebiet der Neurogastroenterologie(9), die den Darm als hochkomplexes neuronales Netzwerk beschreibt (weshalb auch immer wieder die Rede vom „Darmhirn" oder dem „zweiten Gehirn" ist), das im Verhältnis zu anderen Organen weitgehend unabhängig vom Zentralorgan im Kopf arbeitet und in dem in hoher Dosierung die gleichen Neurotransmitter (wie z. B. Serotonin, Dopamin oder Noradrenalin) wie im Gehirn anzutreffen sind, weshalb die Vermutung, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Darmtätigkeit - und folglich der Ernährung - und der Qualität des „Lebensgefühls" besteht, alles andere als abwegig erscheint.
Die enorme Brisanz des Zusammenhangs zwischen Essen und Identität sollte spätestens dann klar werden, wenn man sich im Ausgang von zentralen Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung vergegenwärtigt, dass vor allem die ersten Lebensjahre eines Menschen für die Ausbildung der personalen ebenso wie der kulturellen Identität von ausschlaggebender Bedeutung sind. Das kindliche Gehirn bildet existenzielle Muster - zu denen zweifelsohne auch die Muster des Geschmacks zählen - in Form von Synapsenverschaltungen bereits aus, bevor dieses Gehirn den ersten bewussten Gedanken denken kann. Zudem werden diese frühkindlich und unbewusst ausgebildeten Muster - deren wesentliche Funktion es ist, die „Passung" in das jeweilige systemische (lebensweltliche, kulturelle) Umfeld zu gewährleisten - mit einer Eiweißummantelung („Myelinisierung") umgeben und dadurch im Gehirn gleichsam festgeschrieben.(10) Diesbezüglich stellt etwa der Hirnforscher Wolf Singer fest:
„In den ersten Lebensjahren ist das kindliche Gehirn noch nicht fähig, Erinnerungen zu speichern. Niemand kann sich an seine Zeit als Kleinkind erinnern. In dieser Zeit aber
Und für den Hirnforscher Manfred Spitzer ist daher aus neurowissenschaftlicher Sicht eine alte Volksweisheit „längst eingeholt und auf vielfache Weise bestätigt": „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr."(12)
Das heißt aber umgekehrt: Wir müssen uns aus neurowissenschaftlicher Perspektive darüber im Klaren sein (resp. werden), dass wir unsere Kinder bereits im Elternhaus und im Kindergarten darauf konditionieren, ob sie später „gute" Esser werden (können) oder nicht - womit freilich wiederum eine uralte Einsicht bestätigt ist, nämlich die des Aristoteles:
„Und darum ist nicht wenig daran gelegen, ob man gleich von Jugend auf sich so oder so gewöhnt; vielmehr kommt hierauf sehr viel, oder besser gesagt, alles an."(13)
Auf der Grundlage von Erkenntnissen der empirischen Gehirnforschung kann man also durchaus mit Feuerbach feststellen, dass die „Nahrung ... der Anfang der Weisheit
Wenn aber ein enger faktischer Zusammenhang zwischen Essen und Identität besteht, dann besteht evidentermaßen auch ein enger Zusammenhang zwischen Essen und individueller Ethik bzw. personaler Verantwortung. Dementsprechend erheben die nachfolgenden „konsumentenethischen Konsequenzen" zwar keinerlei Anspruch, logisch gültige Schlüsse zu sein, sehr wohl aber den Anspruch, im verantwortungsethischen oder pragmatisch-klugheits-ethischem Sinne nachvollziehbar und plausibel zu sein.
3. Konsumentenethische Konsequenzen
Pragmatische Klugheitsethik heißt, dass man beim „Prinzip Eigennutz" ansetzt und davon ausgeht, dass der Eigennutz der realistischste motivationale Ansatzpunkt ist, wenn man wirklich etwas bewegen und nicht nur theoretische Konstrukte und Wunschdenken produzieren will. Alle im Folgenden genannten Aspekte einer pragmatischen Ethik der Ernährung sollten sich daher irgendwie an den individuellen Eigennutz rückbinden lassen.
3.1. Verantwortung gegenüber sich selbst
Vorausgesetzt, die eigene Gesundheit stellt für einen Menschen ernsthaft einen Wert dar, sollte er aus Gründen der Gesundheitsverantwortung gegenüber sich selbst auch ein Interesse an möglichst hoher Transparenz der Lebensmittelproduktion, der Herkunft und der Qualitätskontrolle der Lebensmittel haben, die er konsumiert. Ebenso sollte er - sofern ihm über den reinen Gesundheitsaspekt hinaus auch aus hedonistischen Gründen etwas an der Qualität seiner Lebensmittel liegt - aus Gründen der Genussverantwortung gegenüber sich selbst darauf achten, dass diese Lebensmittel qualitativ hochwertig, möglichst frisch und möglichst naturbelassen sind. Und da diese Kriterien am ehesten von regionalen und saisonalen Qualitätsprodukten erfüllt werden können, gehört zur ernährungsethischen Verantwortung gegenüber sich selbst auch das Interesse an der Bewahrung (bzw. Wiederherstellung oder Steigerung) eines möglichst hohen Maßes an regionaler Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität.(16)
3.2. Verantwortung gegenüber unseren Kindern
Wie bereits dargelegt, findet die Prägung auf bestimmte Geschmacksmuster schon in einer sehr frühen Phase der kindlichen (Gehirn-)Entwicklung statt (sie beginnt sogar bereits vor der Geburt). Zudem ist davon auszugehen, dass Geschmacksmuster zu den stabilsten Synapsenverbindungen in unseren Köpfen schlechthin zählen, die im Zweifel für das ganze weitere Leben bestimmend bleiben. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Änderung der Ernährungsgewohnheiten - etwa auf der Grundlage entsprechender Informationen und rationaler Einsicht, aus gesundheitlichen Gründen oder infolge des Umzugs in ein Umfeld mit anderer Ernährungskultur - nach der Kindheit generell unmöglich wäre, aber dass dies alles andere als leicht ist, wird sicher so gut wie jede/r bestätigen, die/der es schon einmal probiert hat, als entsprechend Konditionierte/r beispielsweise auf Fleisch (und sei es nur Fleisch aus Massentierhaltung), auf Softdrinks mit hohem Zuckergehalt oder auf Fertiggerichte mit hoher Dosierung an Geschmacksverstärkern zu verzichten.
Dass dieser Tatbestand mit einer immensen Verantwortung gegenüber unseren Kindern einhergeht - für die Eltern ebenso wie in Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen -, versteht sich von selbst - eigentlich. Doch gerade im Bereich der (frühkindlichen) Ernährungserziehung und -bildung liegt nach wie vor vieles im Argen, was natürlich zum Teil auf die mangelnde Ernährungsbildung und Achtlosigkeit vieler Eltern zurückzuführen ist. Aber dass vor dem Hintergrund des gegenwärtig verfügbaren ernährungswissenschaftlichen und ernährungsmedizinischen Wissens in Krippen, Kindergärten und Schulen noch immer Fleisch aus Massentierhaltung, Softdrinks mit hohem Zuckergehalt und Fertiggerichte mit höchster Glutamat-Dosierung dargereicht und ausgespeist werden, ist im Grunde ein Skandal.
3.3. Verantwortung gegenüber sozialem Umfeld und kulinarischer Infrastruktur
Aus der ernährungsethischen Verantwortung gegenüber sich selbst und gegenüber den (eigenen) Kindern lässt sich darüber hinaus auch die (Mit-)Verantwortung für das soziale Umfeld und dessen kulinarische Infrastruktur bzw. dafür begründen, dass in diesem Umfeld „gute" Lebensmittel produziert und vermarktet werden können. Das persönliche Interesse an regionaler Ernährungssicherheit und -souveränität geht einher mit der ethischen Verpflichtung zur (aktiven) Unterstützung entsprechender Regionalitäts- und Qualitätsinitiativen. Weshalb man die These vertreten kann, dass die Art der Ernährung ein Indikator für eine ethisch verantwortliche und sozial kompetente „Essistenz"(17) ist.
3.4. Gesamtgesellschaftliche (staatsbürgerliche) Verantwortung
Geht man - wie bereits weiter oben angedeutet - davon aus, dass ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen der Ernährungsweise und „Zivilisationskrankheiten" wie Diabetes Mellitus 2, „leaky gut"-Syndrom, Reizdarm, Arteriosklerose, Allergien, Adipositas usw. besteht, dann wird man auch den hohen Anteil von Mangel- und Fehlernährung an der Kostenexplosion im Gesundheitswesen anerkennen. Mangel- und Fehlernährung (im interdependenten Verbund mit der demographischen Überalterung) tragen somit auch einen wesentlichen Teil dazu bei, dass das Gesundheitssystem in der bestehenden Form womöglich in absehbarer Zeit nicht mehr finanzierbar sein könnte.
Daraus kann man als ernährungsethische Konsequenz ableiten, dass „mein" (zumindest mittelfristig kalkulierendes) Eigeninteresse an einem funktionierenden und leistungsstarken Gesundheitssystem auch „meine" staatsbürgerliche (Mit-)Verantwortung impliziert, die auf Mangel- und Fehlernährung zurückzuführende Kostenexplosion zu reduzieren. Insofern kann man also sagen, dass die Ernährungsweise auch Indikator staatsbürgerlicher Mündigkeit ist.
3.5. Globale (weltbürgerliche) Verantwortung
Filme wie „We feed the world" oder „Food Inc." ebenso wie Dokumente wie der Weltagrarbericht(18) oder Bücher wie Jörg Gertels Studie „Globalisierte Nahrungskrisen"(19), das „Handbuch Welternährung"(20), Wilfried Bommerts „Kein Brot für die Welt"(21) oder auch Jonathan Foers „Tiere essen"(22) dokumentieren ebenso eindringlich wie unerbittlich die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Ernährungs- und Konsumverhalten der Menschen in den industrialisierten (also v. a. den westlichen) Ländern der Erde einerseits und Hunger und Verelendung in anderen Teilen der Welt (v. a. in Afrika und Asien) andererseits, mit der Zerstörung kleinbäuerlicher (Subsistenz-)Strukturen, der Vernichtung des Regenwalds, rasanter Bodendegradation, Desertifizierungsprozessen, massiven Biodiversitätsverlusten, Überfischung der Weltmeere, Vernichtung der Meeresfauna, gefährlicher Trinkwasserverknappung und insgesamt dem Phänomen des Klimawandels. Und gerade im Hinblick auf Zusammenhänge wie die „Konkurrenz zwischen Trog und Teller" bzw. den Umstand, dass das „Vieh der Reichen das Brot der Armen frisst", spricht Jean Ziegler sicher nicht zu Unrecht von einem „Imperium der Schande"(23).
Da aber längstens mittelfristig damit zu rechnen ist, dass diese Zusammenhänge auch negative Auswirkungen auf „den" Westen haben werden (sofern dies nicht ohnehin schon faktisch der Fall ist), geht die eigene Ernährungsweise offensichtlich auch einher mit einer gewissen globalen (weltbürgerlichen) Verantwortung - selbst wenn diese Verantwortung letztendlich wiederum im (wohlverstandenen) Eigennutz gründet.
Gerade im Hinblick auf diese globale Dimension gilt die Aussage Jonathan Foers:
„Sobald wir die Gabeln heben, beziehen wir Position."(24)
Und Foer ist zweifelsohne auch dahingehend zuzustimmen, dass es zwar „utopisch klingen" mag, dass wir aber, „wenn wir uns die Mühe machen und uns umsehen, ... nicht leugnen
„
Mit jedem Einkauf und mit jeder Mahlzeit, so kann man demnach zusammenfassen, dokumentieren wir faktisch, ob es uns passt oder nicht, unsere konsumentenethische Verantwortung - oder wir dokumentieren unsere Gleichgültigkeit, Ignoranz und Verantwortungslosigkeit.
4. Schluss: Wieso schlucken wir das Abgeschmackte?
Geht man davon aus, dass die aufgelisteten konsumentenethischen Konsequenzen für jeden auch nur halbwegs gastrosophisch „aufgeklärten" Menschen einleuchtend, nachvollziehbar und plausibel sind, dann drängt sich eine ebenso nahe liegende wie peinliche Frage auf:
„Wieso schlucken wir, obwohl uns nichts dazu zwingt, freiwillig, was uns Politik und Wirtschaft an Abgeschmacktem auftischen - und das, obwohl wir alle mehr oder weniger um die umweltzerstörenden, gesundheitsschädlichen, tierquälerischen und global ungerechten Auswirkungen unserer Essgewohnheiten wissen?"(27)
Wieso? Das scheint mir in der Tat die Schlüsselfrage zu sein (jedenfalls sofern man sie ernst nimmt und nicht nur rhetorisch meint). Wieso will (!) die erschlagende Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft nach wie vor keine gastrosophische Aufklärung, „beispielsweise der Produktherkunft und der Herstellungsweise"? Wieso ist „die zwanghafte Mimesis ans Falsche ... ihr zielstrebiger Wunsch und ein bewusster Selbstbetrug"(28)? Und wieso ist „der" Konsument offensichtlich nicht bereit, den eingangs beschriebenen „Schwarzen Peter" für sich zu akzeptieren, sich seiner Verantwortung zu stellen und vom „schlafenden Riesen" zum machtvollen Konstrukteur einer besseren, faireren, gerechteren und schließlich auch für ihn selbst lebenswerteren Welt zu erwachen?
Für mich sind diese Fragen (resp. ihre Beantwortung) nach wie vor(29) mit einer massiven Skepsis gegenüber dem Bild vom Menschen als rationalem, in seinem Denken, Urteilen und Verhalten bewusstseinsgesteuertem und autonomem Individuum verbunden. Und allem Unbehagen, aller Antipathie gegenüber „naturalistischen" Ansätzen wie etwa dem der modernen Neurowissenschaft(30) zum Trotz, die den Menschen viel stärker als emotionales Lebewesen betrachten, dessen Denken, Urteilen und Verhalten in hohem Maße vom phylogentischen Erbe sowie von völlig unbewusst ablaufenden Gehirnprozessen abhängig ist, die ihrerseits wiederum auf neuronalen Mustern beruhen, die möglicherweise bereits in einer frühkindlichen Entwicklungsphase ausgebildet wurden, plädiere ich für eine viel stärkere Berücksichtigung derartiger Ansätze in der gastrosophischen Forschung. Harald Lemke ist nämlich auch in diesem Punkt absolut zuzustimmen:
"Dass das Gehirn isst, dass der Geist speist und davon besser oder schlechter lebt, ist eine gastrosophische und gastrobiologische Erkenntnis, die zu entdecken der zeitgenössischen Philosophie und Neurobiologie des Hirns noch bevorsteht."(31)
Diese Entdeckungsreise würde sich nach meiner Einschätzung lohnen - auch wenn sie am Ende durchaus zur alten, bereits zitierten aristotelischen Einsicht führen kann, dass davon, ob man „gleich von Jugend auf sich so oder so gewöhnt", sehr vieles abhängt - wenn nicht sogar alles.
Literatur:
Aristoteles: Nikomachische Ethik (= NE), in: Philosophische Schriften, Band 3, Hamburg (Felix Meiner) 1995.
Bommert, Wilfried: Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung, München (Riemann Verlag) 2009.
Bourre, J. M.: Effects of nutrients (in food) on the structure and function of the nervous system: update on dietary requirements for brain. Part 1: micronutrients, in: The Journal auf Nutrition, Health & Aging, Vol. 10, No. 5, 2006, 377-385.
Busse, Tanja: Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht, München (Karl Blessing Verlag) 42006.
Epikur, Philosophie der Freude, Briefe. Hauptlehrsätze. Spruchsammlung. Fragmente, München (Insel Taschenbuch) 1988.
Feuerbach, Ludwig: Die Naturwissenschaft und die Revolution, in: Kleinere Schriften III, hrsg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin (Akademie Verlag) 1971.
Feuerbach, Ludwig: Das Geheimnis des Opfers oder Der Mensch ist, was er ißt, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Werner Schuffenhauer, Bd. 2, Berlin (Akademie Verlag) 1972, 26-52.
Foer, Jonathan S.: Tiere essen, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2010.
Gertel, Jörg: Globalisierte Nahrungskrisen. Bruchzone Kairo, Bielefeld (transcript Verlag) 2010.
Grimm, Hans-Ulrich: Die Ernährungslüge. Wie uns die Lebensmittelindustrie um den Verstand bringt, München (Knaur Taschenbuch) 2005.
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989.
Kiefer, Ingrid u. Zifko, Udo: brainfood. Fit im Kopf durch richtige Ernährung, Wien (Kneipp Verlag) 42007.
Lemke, Harald: Ästhetik des guten Geschmacks. Vorstudien zu einer Gastrosophie, in: Behrens, Roger; Kresse, Kai; Peplow, Ronnie (Hg.): Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge, Hannover (Wehrhahn-Verlag) 2001, 268-284.
Lemke, Harald: Ethik des »guten Essens«: Gastrosophisches Plädoyer für eine nachhaltige Esskultur, in: Jahn, Ingeborg; Voigt, Ulla (Hg.), Essen mit Leib und Seele, Bremen (Edition Temmen) 2002, 39-51.
Lemke, Harald: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie, Berlin (Akademie Verlag) 2007.
Mohrs, Thomas: Habe Mut, dich deines gastrosophischen Verstandes zu bedienen! Ein (kritischer) Blick auf das Postulat der gastrosophischen Mündigkeit, in: Epikur 1 (2009), Quelle: www.epikur-journal.at
Pötter, Roman: König Kunde ruiniert sein Land. Wie der Verbraucherschutz am Verbraucher scheitert. Und was dagegen zu tun ist, München (oekom Verlag) 22006.
Singer, Wolf: Mensch und Schnecke. Die Hirnforschung und die Angst des Philosophen, Interview in: Süddeutsche Zeitung, 05.08.2006, 16.
Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg (Springer-Verlag Berlin) 2007.
Weingärtner, Lioba u. Trentmann, Claudia: Handbuch Welternährung, hg. v. der Deutschen Welthungerhilfe e. V., Frankfurt/New York (Campus) 2011.
Ziegler, Jean: Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München (Pantheon Verlag) 32005.