- wie Stephanie Fuchs in der Nummer 134 des Rolling Pin verkündete. Schlachtbank? Sprach da wer ein Todesurteil aus?
Lassen wir einmal die angebrachte literarische Kritik an diesem Artikel weg (was wird gewöhnlich zur Schlachtbank geführt...?). Was vollzog sich da? Ein juristisches Urteil? Nein! Ein literarisches? Nein, da hat die Autorin Kategorien verwechselt. Ein ästhetisches? Auch. Ein Geschmacksurteil? Sicherlich!
I
Der Satz: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten" steht heute ehern fest. Nur was meint er? Es gilt die Interpretation, Geschmack sei persönlich, also subjektiv. Diskussionen darüber kämen angesichts dieser Millionen von unterschiedlichen Geschmäckern zu keinem Ende und erübrigten sich deswegen. Das Gleiche meint aber auch der Grund-Satz: „Über Geschmack..."- de gustibus non est disputandum. Der stammt nicht, wie man meint, aus der Antike, sondern aus der scholastischen Philosophie. Die damit gewöhnlich verbundene Meinung, dass man über Geschmack nicht disputieren müsse, weil dieser feststehe, es grundlegende Regeln gebe, stimmt so nicht.
Diese relative Sichtweise hat den Vorteil, Streitigkeiten über Geschmack gar nicht erst entstehen zu lassen. Denn so gesehen haben Geschmacksurteile nur partielle, keine allgemeine Gültigkeit. Geschmack ist pluralistisch, besteht, wie die Wirklichkeit der Welt, aus vielen eigenständigen Einsichten und Meinungen. Das ist im Übrigen auch Teil einer philosophischen Welterklärung.
Als ein Resultat könnten wir somit in diesem Land von über 8 Millionen unterschiedlichen Geschmäckern ausgehen. Diese Annahme kann man bekräftigen, aber auch in Zweifel ziehen, was ein ebenso ehernes Prinzip der Wissenschaft ist. Zu diesem Zweck werden jetzt die Restaurantführer einbezogen, Gault-Millau, À la Carte, Guide Michelin ... Bei acht Millionen von unterschiedlichen Geschmäckern dürfte es in ihnen keinen gemeinsamen Nenner geben. Entsprechend müsste sich in den Guides eine bunte Vielfalt von Urteilen finden. Doch nach kritischer Durchsicht erscheinen die Bewertungen, egal, ob Sterne, Hauben, Löffel... eher recht einheitlich; sie liegen alle nicht weit auseinander (siehe den Rezensionsteil!). Man kann nun einwenden, dass sich alle aneinander orientieren, oftmals die gleichen Personen auch in anderen Guides schreiben Die Bewerter bilden zudem jeweils nur eine kleine Gruppe - doch auch dabei müssten Widersprüchlichkeiten auftreten.
Es sieht also ganz danach aus, dass hinter den Bewertungen ein eher einheitliches Geschmacksurteil liegt. Denn die vielfältige Gastronomie eines ganzen Landes wurde von den diversen Testern recht gleichförmig und nicht fundamental divers beurteilt. Diese Erkenntnis aber widerspricht der Eingangsthese der Subjektivität. Sie findet sich so nicht. Sie wird schon eingeschränkt durch Richtlinien der Redaktionen, die den Bewertungen zugrunde liegen. Doch diese werden nicht veröffentlicht und darum auch nicht allgemein diskutiert. So umwabert dieses Problemfeld ein gewisser Nebel, der das Testen erleichtert. Wären die Urteile und die Kriterien dafür jeweils zu erläutern und zu argumentieren, hätten wir am Ende all die Diskussionen über Geschmack! Und all die Streitigkeiten auch.
Ganz richtig kann also diese „subjektive" These nicht sein. Was nun?
Mit den subjektiven Geschmäckern scheint es - empirisch betrachtet - nicht so weit her zu sein. Auf der anderen Seite existiert auch keine allgemein verbindliche Regel, was „den richtigen/guten" Geschmack ausmacht. Dennoch scheint ein solches Regelsystem hinter den Bewertungen zu stecken; denn es gibt implizit Kategorien, sagen wir anders: Es existieren Leisten, über welche die Leistungen der Gastronomen geschlagen werden.
II
Wissenschaftlich gesehen ist - nach Alan Warde - „eine umfassende ausgearbeitete soziale Theorie des Geschmacks bisher noch ausständig". Ein Teil unserer Schwierigkeiten erklärt sich schon von daher. Grundsätzlich einig ist man sich, dass die „Bewertung und Zuordnung von Geschmack <...> eine philosophische und wahrnehmungstheoretische Frage
Einigkeit besteht mittlerweile darin, dass Geschmack kulturell und sozial codiert ist. Das bedeutet, dass die vorhandenen kulturellen Muster einer Gesellschaft - in die man hineingeboren wird - eine normierende Funktion ausüben, auch der jeweilige soziale Status mitspielt. Nach dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu weisen ferner unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen ganz unterschiedliche Geschmackspräferenzen auf: die Arbeiter bevorzugten schwere, sättigende Kost, die Intellektuellen leichtere, exotische, die Bourgeoisie schätze die grande cuisine. Der jeweilige Geschmack wird in der Erziehung, durch Sozialisation vermittelt und angeeignet. Er dient zum Zusammenhalt und zur Abgrenzung einer sozialen Klasse gegenüber anderen. Nach Bourdieu definierten die oberen sozialen Klassen, was guten Geschmack ausmachte. Damit verteidigten sie ihre Privilegien, legten ihre höhere soziale Position fest und grenzten sich nach unten, besonders gegen die „aufsteigenden" Klassen ab. Geschmack war mit sozialer Schicht und deren Lebens-/Konsumpraktiken eng verknüpft; aus dem heraus fielen auch die Urteile über den eigenen und fremden Lebensstil.
Die Definitions- und Deutungsvollmacht über „den" oder „den richtigen" Geschmack bekommt vor diesem Hintergrund eine enorme gesellschaftliche Bedeutung. Wer über sie verfügt, profitiert davon in vielfacher Weise, bestimmt auch über „in" und „out".
Das Modell von Bourdieu stammt aus den 1970er Jahren, wird aber jetzt infrage gestellt. Der Soziologe Gerhard Schulze bezweifelte in seiner Studie „Die Erlebnisgesellschaft" (1992) die Ausbildung von Geschmacksmustern entlang von Klassengrenzen. Die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus werde zunehmend selbst gewählt. Das bedeutete eine Relativierung der Geschmacksurteile, eine Betonung der subjektiveren Haltung. Geschmacksbildung wird auch als aktiver produktiver Prozess der Menschen gesehen. Der Bezug zur Schicht sei jetzt aufgelöst, doch nun fungiert ein „Kollektiv" als notwendiger Rahmen und formiert die Gruppe. Geschmack ist nicht gegeben, sondern wird mittels der geschmeckten Objekte produziert, muss trainiert werden.
Damit aber sind die Kategorien aufgeweicht, wie sie noch bei Bourdieu klar waren und zur Differenzierung verwendet werden konnten. Jetzt geht es mehr um Praxis und den Erwerb von Geschmack. Denn es gilt auch, Wittgenstein folgend, dass erst Geschmacksurteile Geschmack konstituieren. Ohne Kommunikationen über Geschmack würden wir keinen Geschmack haben.
Bilden also die Guides erst einen - ihren? - Geschmack und formen ihn; wie auch ihre Leser zu einem „Kollektiv"? Doch wer produziert letztlich? Doch nur wieder eine bestimmte Schicht? Noch die Oberschicht - oder doch die aufsteigende Mittelschicht zur Status(ver)sicherung? Stammen die schreibenden Foodies aus dieser? Oder - absichtlich provokativ - geht es diesen darum, durch ihr Tun überhaupt erst dieser zugerechnet zu werden? Dann wird, auch auf dem Feld der Gastrokritik, der kapitalistische Auf- und Abstiegskampf gespielt, wie es Veblen in seiner „Theorie der feinen Leute" schon vor fast 100 Jahren beschrieb.
III
Ein Teil obiger Erkenntnisse geht auf den großen Soziologen Niklas Luhmann zurück. Für ihn war auch „Liebe" ein Kommunikations-Code; Geschmack könnte ebenso ein solcher sein. Ohne Reden darüber gäbe es keine Liebe - und keinen Geschmack.
Luhmann zufolge zeigten die ausgewählten und erworbenen Güter, wo sich die Käufer in der Sozialordnung positionieren wollten. Damit ist wieder die Ab- und Ausgrenzungsfunktion betont, die besonders durch „prestigekräftige" Anschaffungen hervortritt. Für Luhmann freilich diente Geschmack wesentlich zur „Strukturierung des Begehrens". Die Menschen in der modernen Überflussgesellschaft könnten im Prinzip alles haben, doch müssten sie eine Auswahl unter den vielen Möglichkeiten treffen. Dafür bräuchten sie eine Entscheidungsgrundlage. „Geschmack" als Kriterium biete sich dafür an. Doch dieser Geschmack wird jetzt, immer noch durch Sozialisation, mehr aber durch Werbung in den Medien vermittelt. Exakt geplante und zugeschnittene Werbung versorgt die jeweilige Schicht, Gruppe mit dem entsprechenden Geschmack! Es geht darum, entsprechend aufbereitete Informationen an Konsumentengruppen zu bringen und sie zum Kauf analoger Waren/Dienstleistungen zu bewegen.
Weil die Komplexität der Welt, vor allem der Warenwelt zunahm, Menschen sich aber nach wie vor verorten, aber auch abgrenzen wollen, braucht es dafür Hilfen. Die Menschen, d.h. eigentlich deren Gehirne, suchen die mittlerweile so oft genannte „Reduktion der Komplexität", also einfache Anweisungen. Guides bieten einer gesellschaftlich schon durch ihren kulinarischen Konsum eingrenz- und definierbaren Mittel-Schicht eine Orientierung, formieren aber diese Schicht mit. Zugleich formulieren sie implizit, nicht verbal explizit, Normen für Geschmack und Geschmacksurteile, die damit die der angesprochenen Schicht werden. Über die mediale Reichweite und die weitgehend zu unkritisch hinterfragte Rolle tragen sie mit dazu bei, diese Urteile zu allgemein herrschenden zu machen. Wer sich dabei als Meinungsführer durchsetzt, wird mehr verkaufen. Wer sich nicht behauptet, wie der Guide Michelin in Österreich, der verschwindet vom Markt.
Die Ziele der Guides sind eindeutig wirtschaftlicher Natur. Wieder mit Luhman: die Leitdifferenz heißt: Kaufen - nicht kaufen. Diese Bücher sollen gekauft werden, mit der Werbung in ihnen. Aufmerksamkeit hilft dazu im weißen medialen Rauschen. Sie müssen sich angesichts zunehmender Ähnlichkeiten und der Konkurrenz voneinander abgrenzen. Auch bei ihnen geht es um den „herrschenden Diskurs". Vor allem wirtschaftlich ist es von eminenter Bedeutung, die Norm für den Geschmack festzulegen zu suchen. Das gelang den oberen Schichten über erstaunlich lange Zeiten, wenn es denn eine Zäsur gegeben haben sollte, dann trat diese vielleicht vor zwei, drei Dekaden ein. Der Wohlstand ist gewachsen, damit das Budget für den Konsum, jetzt können mehr Personen mehr konsumieren und wollen auch mitreden. Die Abgrenzungen sind durchlässiger geworden, aber deswegen spielt demonstrativer Konsum - etwa der Besuch einen Mehrhaubenlokals - eine vielleicht noch wichtigere Rolle für die gesellschaftliche Positionierung. Wer laut erzählt, er „war bei Johanna Maier", reklamiert eine Schichtzugehörigkeit, geprägt durch einen dieser Guides.
IV
Was ist Johanna Maier im Gault-Millau widerfahren?
Gastronomen - vor allen - kaufen diese Werke. Aber sie sind weniger Adressaten als Unterworfene des Diskurses. Sie unterliegen ihm, im wahrsten Sinne, wie Johanna Maier. Paradoxerweise liefern sie selber durch ihre Arbeit die Grundlage, haben aber am Ende dabei nichts zu sagen. Haben sie dieses „Spiel" akzeptiert? Das lässt sich so beschreiben: Eine positive Wertung, erst recht eine Aufwertung, bringt einen wirtschaftlichen Ertrag, den die Verlage den Gastronomen auch vorrechnen, wie bei den Sternen des Michelin. Wer mitmacht akzeptiert die Spielregeln, muss auch eine Abwertung samt den Folgen hinnehmen. Diese müssen aber auch aus der „Systemlogik" heraus erfolgen, gäbe es keine, würde vollends an der Sinnhaftigkeit dieser Werke gezweifelt. Wer hier mitmacht, unterwirft sich deren Diskurs, zählt damit per se zu den unterlegenen „Schichten" - und ist zum Schweigen verurteilt.
Wer den Diskurs bestimmt, bestimmt auch die Opfer. Nach welchen Kriterien? In der klassischen Tragödie spielt die „Fallhöhe" eine entscheidende Rolle. Das Scheitern einer Königin macht einen anderen Effekt bei Publikum als das einer Köchin. Jetzt aber wo die Köchinnen so aufgestiegen sind... Als Kriterium freilich scheint „Fallhöhe" etwas dürftig. Nur welche gibt es? Zensuren wie in der Schule sind nicht möglich - die müssen zudem transparent sein. Geschmack aber ist letztlich nicht objektivierbar, es bleibt ein wesentlicher subjektiver Faktor. Dieser ließe sich durch Nennung und Diskussion der Beurteilungskriterien etwas verringern, doch das unterbleibt in den Guides. Wonach bewerten sie? Was qualifiziert sie zu ihrem Tun? Das wird nirgends transparent.
Es ist zu fragen, ob ihnen die Mechanismen ihrer Tätigkeit bewusst sind. Das ist zu bezweifeln. Denn deren Adressatenkreis sind wohl nicht primär die Käufer und Leser - es sind die Herausgeber und die anderen Tester, Foodies im Wettbewerb. Die Leser sind sekundär. Die Bewerter müssen durch ihre Bewertungen, durch ihre Texte jeweils vor diesen ihre Kompetenz erweisen (die sprachliche, das habe ich anderweitig beschrieben, lässt öfter Zweifel entstehen). Erst wenn diese akzeptiert wird, bleiben sie im „Spiel", sonst „dürfen" sie nicht mehr schreiben - verstummen. Nach dem klassischen Bibelwort müssen auch die „Richter gerichtet", diese Kritiker kritisiert werden. Diese Aufgabe bleibt zum großen Teil noch zu leisten.
Wer die Guides nutzt, weiß aus der eigenen Praxis, wie wenig manche Wertungen dort mit den eigenen vor Ort übereinstimmen, positiv wie negativ. Mehr als einen unverbindlichen Einschätzungsrahmen kann man nicht erwarten; aber auch der erfüllt seinen Zweck: Zur Reduktion der Menge besuchbarer Gastronomiebetriebe ist eine Vorselektion immerhin hilfreich. Aber einen Guide zu nutzen, heißt auch wieder, dessen Diskurs zu übernehmen, sich in diese Schicht einzufügen - und mehr heißt das wohl alles nicht.
Die Auf- wie Abwertungen sind von so vielen - gewöhnlich uneingestandenen - subjektiven Faktoren (aber auch Strukturen, wie Textgattung) abhängig, so dass „Eins rauf oder runter" beliebig und in der Relevanz auch so zu sehen ist. Das wird kein Trost sein! Denn die wirtschaftlichen Folgen sind real. Aber sie resultieren auch nur daraus, dass auf dieser Spielwiese heutiger Bourgeoisie Personen ohne Geschmack mit einem solchen versehen werden und durch die Guides Leute ohne eigenes Urteilsvermögen mit normativen Geschmacksurteilen. Diese werden häufig als eigene übernommen. Denn man möchte „dazugehören" - und darum finden diese Führer ihre „Hörigen".
Die grundsätzliche Frage bleibt: wie können Menschen eine eigene, reflektierte Geschmackskompetenz entwickeln, ohne dabei von der Autorität des Marktes, der Guides, der Oberschichten paternalistisch bevormundet zu werden?